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Leipzig

Bunt und selbstbewusst

Eine Erinnerung an das Leipziger Musikleben in den 1970er Jahren
Von
Gerald Felber
Foto: Frank Vincentz, CC BY-SA 3.0

1960 wurde das Opernhaus am Augustusplatz eröffnet

Die DDR, so klein sie war, verfügte dennoch über drei auch international bedeutsame Musikzentren. Berlin-Ost hatte vor allem seine beiden Opernhäuser, Dresden zehrte von einer Traditionslinie großer Namen, die alle um das Zentralgestirn der Staatskapelle kreisten, deren Qualität wie unverwechselbarer Klang nie in Frage gestellt waren. Einen Kristallisationspunkt markierte dabei die Wiedereröffnung der Semperoper 1985. Ein Jahr zuvor war Berlin mit seinem Konzerthaus – dem umgewidmeten Schinkel-Schauspielhaus – vorangegangen. Doch noch eher war, abweichend vom Berlin-zentristischen Brauchtum des ostdeutschen Staates, das dritte DDR-Musikzentrum zum Zuge gekommen, und zwar mit der Eröffnung des Neuen Leipziger Gewandhauses 1981 – entscheidend vorangetrieben vom seit 1970 amtierenden, ebenso energischen wie politisch gut vernetzten Gewandhauskapellmeister Kurt Masur.

Bezeichnend dabei war, dass dieser Bau, anders als die beiden genannten Musiktempel in Berlin und Dresden, keine vergangenheitsstolz-nostalgische Traditionspflege betrieb, sondern ein modernes Haus präsentierte. Im Aufriss und der gelungenen Akustik seines Saals inspiriert von Scharouns (West)-Berliner Philharmonie, zeigte es sich anders als diese zum Platz hin transparent und in heiter-strenger Weise einladend, was mit dem Selbstbild der Leipziger Intellektuellen übereinstimmte: tatkräftig, flexibel und vor allem – auch dank der einzig wirklich bedeutenden internationalen Messe auf dem Boden der DDR – so weltoffen, wie es unter den Bedingungen eines abgeschotteten Landes eben noch möglich war. Man verstand sich als einen Hort relativer Liberalität, kritischer Freizügigkeit und war – wie während der Wendezeit eindrucksvoll beglaubigt – auch bereit, aktiv dafür einzustehen.

Diese Atmosphäre prägte auch die Künste, weswegen es für einen jungen Menschen, der sich um ästhetische Offenheit mühte, innerhalb des planwirtschaftlich organisierten Studiensystems kaum einen besseren Standort geben konnte als die zwar in Teilen ihrer Bausubstanz ziemlich marode, aber vergleichsweise lebendig-offene Messestadt an Elster und Pleiße. Ich hatte dieses Glück zwischen 1974 und 1981, und wenn ich an in diese Jahre zurückdenke, steht für mich nach wie vor fest, dass es nirgendwo sonst in der DDR eine derartige Vielfalt teils auch experimentell geprägter Musikangebote gab wie dort.

Da waren zunächst die beiden großen Orchester, deren Kreise sich berührten, aber kaum überschnitten und deren künstlerische Leiter sich gegenseitig respektierten: hier das Gewandhaus unter Masur, dort das Rundfunk-Sinfonieorchester mit seinem schon zehn Jahre länger als Masur – also seit 1960 – amtierenden Chef Herbert Kegel. Beide traten, bevor es das Neue Gewandhaus gab, in der Kongresshalle am Zoo auf. Und weil es mit dem Großen Rundfunkorchester, das sich mit Opern- und Ballettsuiten, virtuosen Konzertstücken sowie der sogenannten „heiteren Klassik“ eher der „leichten Muse“ widmete, noch einen dritten voluminös besetzten Klangkörper gab, war der Saal auch ohne auswärtige Gastspiele bestens ausgelastet. Die Arbeitsteilung zwischen den beiden Spitzenensembles lief grob gesagt so, dass Masur sich vorwiegend dem klassisch-romantischen Kernrepertoire zwischen Mozart und Strauss mit gelegentlichen Ausflügen ins Aktuellere widmete, während Kegel in hoher Dichte Werke der klassischen Moderne und oft auch ganz aktuelle Novitäten der östlichen wie westlichen Klanghemisphäre präsentierte. Eine seiner Spezialitäten waren große chorsinfonische Werke, denn noch vor dem Orchester hatte er den Leipziger Rundfunkchor zum damals unbestritten besten Profichor der DDR entwickelt.

Für einen neugierigen Hörer war diese freundlich konkurrierende Konstellation ideal. Einerseits lief sich auch Masur die Schuhe nicht nur am absoluten Standard-Repertoire ab. In einer der Spielzeiten Mitte der 1970er Jahre brachte er beispielsweise eine nahezu komplette Serie der Großwerke des damals gerade verstorbenen Schostakowitsch. Kegel aber war, was sein Repertoire anging, geradezu ein Wundermann. Hartmann, Henze, Orff (der ihn einmal selbst zu seinem besten Sachwalter erklärte), Nono oder Penderecki, natürlich auch viele DDR-Komponisten: Bei ihm waren sie alle in kompetenten Händen. Er setzte sich jedoch ebenso für den bei der DDR-Kulturbürokratie ideologisch immer noch nicht ganz in trockene Tücher gebrachten Wagner-„Parsifal“ wie für die ebenfalls noch in der Durchsetzungsphase befindlichen Sinfonien Mahlers ein und wurde auf dem internationalen Plattenmarkt durch seine Einbeziehung in die große 1991er Mozart-Jubiläumsedition von Philips (mit Aufnahmen geistlicher Chorsinfonik) nobilitiert.