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Interview

Im Hier und Jetzt

Der Komponist Jüri Reinvere über eine Neue Musik fürs Publikum, Opern für das 21. Jahrhundert und das Problem der Identität
Von
Arnt Cobbers
Foto: Harri Rospu

Jüri Reinvere passt in keine Schublade. Geboren 1971 im estnischen Tallinn, zog er mit 18 Jahren nach Warschau und mit 20 nach Helsinki, wo er neben dem Studium als Organist, Drehbuchautor, Fernsehproduzent und Radiomoderator arbeitete. 2005 kam er nach Berlin, seit 2017 wohnt er in Frankfurt/Main, von wo aus er regelmäßig für die größte estnische Tageszeitung, „Postimees“, das Zeitgeschehen kommentiert. Sein kompositorisches Werk umfasst viele Gattungen, für seine drei Opern schrieb er die Libretti selbst, und in seiner Musik findet sich Tonales ebenso selbstverständlich wie Atonales und elektronisch verfremdete Naturgeräusche. Eine besondere Beziehung verbindet ihn mit Paavo Järvi, der mit seinem Estonian Festival Orchestra nun drei Orchesterwerke auf CD aufgenommen hat: Neben dem Titelstück „Auf dem Narrenschiff“ und dem Konzert für zwei Flöten auch ein Werk mit dem schönen Titel „Und müde vom Glück, fingen sie an zu tanzen“.

Herr Reinvere, braucht die Welt noch neue Musik?

Ja, unbedingt, weil es immer auch darum gehen sollte, dass der Mensch sich mit seiner eigenen Zeit und den Fragen der Zeit konfrontiert. Das war in der Kunst immer das Wesentliche, egal ob wir Musik hören, ein Gemälde anschauen oder Literatur lesen: Es geht ums Hier und Jetzt, und deshalb brauchen wir immer neue Musik. Nicht nur Musik, die von vergangenen Zeiten spricht.

Kann Oper unsere Zeit reflektieren?

Natürlich. Die Oper könnte so viel! Ich liebe die großen Werke der Vergangenheit, aber sie dominieren die Spielpläne zu stark. Und wenn man sich die Karrieren von Musikern anschaut: Mit 20 Jahren sind sie noch mutig. Aber wenn sie ein gewisses Niveau erreicht haben, dann reduzieren sie ihr Programm auf 20 Werke und spielen immer dasselbe und dasselbe und dasselbe. Das ist ein schlechtes Zusammenspiel von Publikum und Programmgestaltern, man sucht Bestätigung dadurch, dass man nur bei Bekanntem bleibt. Und dadurch reduziert sich die Wahrnehmungsfähigkeit der Menschen. Genauso schlecht finde ich es allerdings, wenn man das Publikum mit zu viel neuer Musik zu provozieren versucht. Auf ein Problem mit einem neuen Problem zu reagieren, ist keine gute Idee. Ideal wäre es, wenn die Leute alte und neue Musik gleichermaßen hören und all diese Fragen nicht mehr existieren würden. Aber ich weiß, das ist ziemlich utopisch.

Überfordert vielleicht viele neue Musik das Publikum?

Es war sehr problematisch, dass sich die sogenannte Neue Musik im 20. Jahrhundert vom Publikum getrennt hat. Wohlgemerkt: Es geht mir nicht darum, kommerzielle Musik und eine geradezu amerikanische Werbemusik zu loben. Aber seit dem Ersten Weltkrieg galt in der Musikszene die Losung: Je elitärer, je publikumsfeindlicher, desto besser. Dadurch haben die Menschen den Kontakt zur Musik als Ausdruck unserer Zeit verloren. Man nennt sie Neue Musik, aber wenn Menschen, die sich für Musik interessieren, in Konzerte mit Neuer Musik gehen, dann können sie da unsere Zeit und die Fragen unserer Zeit kaum erkennen. Der Kontakt zu einem großen Teil des Publikums ist abgerissen.


Sie sind nicht sauer auf Stockhausen oder Boulez, die es Ihnen jetzt so schwer machen?

Nein, ich komme ja aus einer anderen Kultur. In Estland spielte die Musik eine ganz andere Rolle.

Aber Sie stehen doch auch unter dem Generalverdacht: Eine neue Oper? O Gott, das wird bestimmt schrecklich!

Damit hat man ständig zu tun. Ich versuche immer so zu schreiben, dass meine Partituren probenfreundlich sind und möglichst wenig Fragen offenbleiben, wie man etwas spielen soll. Von Seiten der Intendanz erlebe ich oft: Neue Musik? Da können wir diesen und jenen Interpreten nicht besetzen, da brauchen wir Spezialisten. Und wenn sie dann meine Partituren sehen, sagen sie: Warum haben wir jetzt Interpreten engagiert, die wir für diese Werke gar nicht brauchen! Aber nochmal: Bei uns in Estland, wo ich aufgewachsen bin, spielte Musik eine sehr große gesellschaftliche Rolle. Musik, Kultur war Widerstand gegen die Kulturlosigkeit des sowjetischen Systems. Und gegen die Okkupation. Deshalb habe ich zu vielen Dingen einen anderen Zugang als Menschen im Westen. Zum Beispiel zur Kirche. Als ich in Finnland wohnte, merkte ich, dass die Kirche für die meisten Menschen für etwas Altes und Verstaubtes steht, dass sie geradezu ein Symbol gegen den Liberalismus in der Welt ist. In Estland, als ich aufwuchs, war die Kirche eine Quelle der Hoffnung und der Zuversicht, dass auch diese schlimmen Zeiten einmal vorbei sein könnten. Deshalb: Ich habe diese westlichen Traumata nicht.