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Busoni

Tönende Luft

Ferruccio Busoni war der Prototyp eines gebildeten Musikers, dabei ein Mann der musikalischen Utopien: träumend von radikaler Freiheit
Von
Clemens Haustein

Porträt Ferruccio Busonis von Umberto Boccioni, einem der wichtigsten futuristischen Maler, 1916

Das Verlobungsgeschenk war gewichtig, wenn nicht erschlagend: Brockhaus’ Konversations­lexikon, das damals schon, 1889, sechzehn starke Bände umfasste. Ferruccio Busoni hatte Gerda Sjöstrand in Helsinki kennengelernt, wo er auf der Suche nach einem festen Einkommen eine Stelle als Klavierlehrer am Konservatorium angenommen hatte (und wo er Freundschaft mit Jean Sibelius schloss).

Dass Busoni seine Zukünftige mit einem Konversationslexikon bedachte, lässt Spielraum für Interpretationen: War das nun Ausdruck einer modernen, von traditionellen Rollenmodellen emanzipierten Beziehung (er hätte ihr ja auch ein Teeservice schenken können)? Oder wollte Busoni nur seine eigene Bildungsbeflissenheit unter Beweis stellen? Das vielleicht auch. Vor allem aber, so legen Zeugnisse nahe, wollte Busoni das Konversationslexikon einfach selbst haben. 23 Jahre war er alt, neugierig, bildungshungrig und etwas knapp bei Kasse.
Später, auf seinen Tourneen als gefeierter Klaviervirtuose, klapperte er die Buchantiquariate ab auf der Suche nach seltenen Ausgaben. Als er starb, umfasste die Bibliothek in seiner Wohnung am Viktoria-Luise-Platz in Berlin-Schöneberg 5.000, oft prachtvolle Bände. 9.000 Briefe von und an Busoni lagern heute in der Berliner Staatsbibliothek, die seinen Nachlass aufbewahrt. Kaum eine künstlerische Größe aus Literatur, Malerei und Musik, mit der Busoni nicht in Korrespondenz gestanden hätte.

Mit beispielloser Neugier und Sympathie verfolgte er die musikalischen Entwicklungen seiner Zeit. Von 1902 bis 1909 veranstaltete er in Berlin – weitgehend selbst finanziert – „Novitäten-Konzerte“, mit denen er das Einerlei des deutsch geprägten Repertoires in der Hauptstadt aufbrechen wollte. Werke von Sibelius, Nielsen, Debussy, Bartók, Elgar erschienen auf dem Programm. Die Reaktion auf die europäisch-zeitgenössisch gedachte Konzertgestaltung war eher ernüchternd: Publikum und Presse blieben distanziert, die Berliner Philharmoniker, die Busoni engagierte, feilschten um ein Minimum an Proben. Die Bilanz 1909 nach dem letzten Konzert: zwölf Uraufführungen, 23 deutsche Erstaufführungen und ein großes Loch in der Kasse. Es scheint, als habe Busoni seine Zeit überfordert mit seiner Offenheit und seinem Drang, über Grenzen hinauszublicken.

Zu dieser Zeit war Busonis Büchlein „Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst“ bereits erschienen. „Der literarischen Gestaltung nach recht locker aneinander gefügt“, hatte Busoni darin Gedanken und Prognosen zur Musik versammelt und damit den Ruf begründet, nicht nur ein Klaviervirtuose und Komponist gewesen zu sein, sondern auch ein Theoretiker. Jedoch handelt es sich bei der „neuen Ästhetik“, die Busoni in einer vielgestaltigen, oft sentenzenhaften Darstellung andeutet, um eine recht eigenartige Sache.

Von der Musik spricht er als einem „zarten“, „schwebenden Kind“, dem in der Tonkunst bislang meist Unrecht getan worden sei. Der Freiheit beraubt erscheint ihm dieses Kind, wenn es mit den materiellen Bedingungen des Musikmachens in Berührung kommt. Dazu zählen für Busoni die Unzulänglichkeiten der Musikinstrumente ebenso wie die Notwendigkeit, Musik, wenn sie als Werk in Erscheinung treten soll, eine Form zu verleihen. Seine Ablehnung richtet sich dabei nicht nur gegen die Programmmusik der damaligen Zeit, die seiner Auffassung nach die „frei geborene“ Tonkunst mit außermusikalischer Bedeutung belastet, sondern auch gegen die „absolute Musik“, die für Busoni in Mustern und vorgefertigten Formen erstarrt ist. Selbst bei Bach und Beethoven, die für Busoni die größten Komponisten sind, komme die Musik ihrem Naturzustand als freier „Ur-Musik“ eigentlich nur nahe in themenfernen Einleitungen, Zwischenspielen und Überleitungen. Das Bild von der freien Musik als „tönender Luft“ malt Busoni weiter mit einer Vorstellung, die an Platons Ideen-Lehre anknüpft: Alle Melodien kreisen in einem lichten Äther, aus dem sie sich dem Komponisten als Eingebung offenbaren. Dabei verlieren sie ihre kindliche Freiheit, jedenfalls während der 400 Jahre Musikgeschichte, die Busoni in seiner Schrift Revue passieren lässt. Seine Hoffnung ruht auf der Zukunft, in der die Töne von der festen Einteilung des zwölftönigen Systems befreit sein sollen.  

Busoni schwebt eine Unterteilung in Drittel- und Sechsteltönen vor. Ebenso hofft er auf ein neues Instru­ment, das die Begrenztheit der traditionellen Instrumente hinter sich lässt. Das „Dynamophon“ des amerikanischen Erfinders Thaddeus Cahill, das mit elektronischer Klangerzeugung arbeitet, ist ihm Licht am Horizont – eine Passage des Buches, die dazu beitrug, Busoni als eine Art Vorläufer Karlheinz Stockhausens zu begreifen. Jedoch war schon Edgar Varèse, der (wie Kurt Weill) bei Bu­soni Komposition studierte, erstaunt über das unverbundene Nebeneinander von Verhaftetsein im Alten und Offenheit gegenüber dem Neuen, „als ob sein Herz, das loyal war zur Vergangenheit, es ablehnte, seinem abenteuerlustigen Verstand zu folgen.“ Wie ernst also meinte es Busoni mit seinen Überlegungen? Ist seine „Ästhetik der Tonkunst“ mehr als ein esoterisches Gedankenspiel? Wie sollte in der Realität eine so völlig freie Musik klingen? Und würde sie in ihrem Verzicht auf alle Konventionen überhaupt jemandem etwas zu sagen haben?

1907 erschien die erste Auflage der „Ästhetik der Tonkunst“ in einem kleinen Verlag und wurde kaum wahrgenommen. Zwei Jahre später war eine zweite Auflage geplant, für die Busoni ein kurzes Vorwort schrieb. Darin zeigte er sich enttäuscht, dass „der Keim zu einer Revolution“, den er in dem Buch angelegt sah, sich nicht entwickelt habe, um anzumerken, dass das nicht an seiner Darstellung gelegen habe, sondern an der Unlust der Leser, sich in seine Gedanken hineinzudenken. Erst neun Jahre nach dem ersten Erscheinen kam es zu jener Veröffentlichung in der „50-Pfennig-Reihe“ des Insel-Verlags, die dem Buch eine breite Bühne verschaffte. Rainer Maria Rilke, dem die Ausgabe dann auch „verehrungsvoll und freundschaftlich“ gewidmet ist, hatte für die Publikation gesorgt.

Damit kam es auch zur kritischen Auseinandersetzung mit Busonis Ansichten, wobei Hans Pfitzner, mit seiner unter dem reißerischen Titel „Futuristengefahr“ veröffentlichten Polemik, die prominenteste Stimme war. Arnold Schönberg schwankte in seinen später zugänglich gemachten Randnotizen zwischen Zustimmung und Belustigung. So ungern man Pfitzner, dem Unsympathen und Antisemiten, Recht gibt: Bei seinen Hinweisen auf die gedanklichen Unschärfen in Busonis Darstellung, auf die eigentümliche Fortschrittsgläubigkeit (Busoni geht von einer Entwicklung der Musik „nach oben“ aus) oder auf schwer nachvollziehbare Behauptungen (dass die Musik bislang wenig mit „wirklicher“ Musik zu tun habe) kommt man kaum umhin, ihm zuzustimmen.

„Merkwürdig! An das Vorhandene glaubt er nicht, an das Nichtvorhandene glaubt er“, fasst er Busonis Utopismus zusammen, um schließlich mit böser Lust das Bild eines frustrierten Virtuosen zu zeichnen: „Er sitzt am Klavier. Wie eigensinnig von den Tasten, daß zwischen dem h und c da nicht ein sanfter Übergang möglich ist. Diese Grenzen müssen fort! (…) Er schlägt Noten auf: was fällt dem tyrannischen und pedantischen Komponisten da ein, von mir zu verlangen, hundert Takte lang in demselben Zeitmaß zu spielen? Länger als acht Takte halte ich das nicht aus! Das unterbindet meine Freiheit! Und die schwarzen Punkte, Striche und Linien da, das soll dasselbe sein wie die hohen Gedanken des Menschen? Fort mit diesen Begrenzungen!“

Tatsächlich erzählt die „Ästhetik“ (das fällt auch dem Misanthropen Pfitzner auf) von einer erstaunlich negativen Weltsicht Busonis. Die weltliche Bedingtheit einer tönenden Musik, ihre Bindung an Materie scheint ihm ein kaum zu akzeptierendes Ärgernis, die Beschneidung ihrer „Freiheit“ ein Skandal, das Wirken selbst seiner Hausgötter Bach und Beethoven nur eine bescheidene Annäherung an den Idealzustand. Gerade sein Pochen auf die „Freiheit“ (kaum eine Seite, auf der der Begriff nicht fällt) nimmt nahezu symptomatische Züge an als Ausdruck eines Mannes, der von früh auf Freiheitsberaubung erfahren hatte als ein vom Vater getrieztes Wunderkind („Ich durfte nie Kind sein.“).

Dass das Publikum, als „stärkstes Hindernis“ einer Kunst der Zukunft, bei Busoni ebenfalls nicht gut wegkommt, macht das traurige Weltbild komplett: „Denn das weiß das Publikum nicht und mag es nicht wissen, daß, um ein Kunstwerk zu empfangen, die halbe Arbeit an demselben vom Empfänger selbst verrichtet werden muß.“

Und was hat es nun mit dem „Futuristen“ auf sich, als den Pfitzner Bu­soni bezeichnet? Großes Interesse verband Busoni mit Umberto Boccioni, einem der wichtigsten futuristischen Maler. Seine Darstellung von Bewegung und Gleichzeitigkeit, seine Öffnung der Konturen und Aufhebung aller Begrenzungen schienen Busonis Vorstellung von Freiheit zu entsprechen. Mehrere Bilder kaufte er ihm ab, es entstanden Porträts vom Komponisten und seiner Gattin. Bald aber waren die technikbegeisterten Futuristen erledigt für Busoni, der noch nicht einmal eine Schreibmaschine benutzen wollte, erst recht als 1914 ihre Kriegsbegeisterung zum Vorschein kam. Damit konnte der Pazifist und bekennende Europäer nichts anfangen.

Als Busoni sich in einem Textbeitrag einmal zu Futuristen in der Musik äußern sollte, schloss er mit zwei Fragen: „Erstens: Können wir alles Alte und ebensogut wie die Alten, bevor wir Neues beginnen? Zweitens: Haben wir auch Talent?“ Das klingt so skeptisch und zurückhaltend, dass von „Revolution“, wie im ungedruckten Vorwort zu seiner „Ästhetik“ zu lesen, kaum die Rede sein kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die „Ästhetik“ als eine Utopie, geträumt von einem traurigen Mann, für den es nichts Größeres gab als unbegrenzte, von keiner weltlichen Unzulänglichkeit belangte Freiheit. Möglich, dass er gerade darin am Wesen der Musik vorbeizielte.