
Mehr als 3.5 Millionen Klicks auf Social Media für einen Jazzsong – das gab es vorher noch nie. Jazz gilt als Musik der Wenigen, als Nische einer eher älteren Fangemeinde, nicht von begeisterten Mitzwanzigern, der „Generation Z“, der „Zoomers“. Doch die jetzt 24-jährige isländisch-chinesische Sängerin Laufey hat es geschafft, über TikTok, X, Instagram und Youtube eine millionenköpfige Gemeinde von Fans aufzubauen, die zu ihren Konzerten strömen, die Texte mitsingen, ihr zujubeln und alles mit dem Handy filmen. Über die blau flackernden Handydisplays hinweg, in denen Laufey sich hundertfach wiederholt, steht sie mit schulterfreiem Oberteil, kurzem, schwingendem Rock und ihrer Gitarre wie ein College Girl von nebenan auf der Bühne und lächelt ihrem Publikum zu. „Danke, dass ihr mir meinen Traum ermöglicht.“ Sie macht an diesem Februar-Abend Station in Berlin auf ihrer „Bewitched Tour“, der Tour zu ihrem im September erschienen zweiten Album, für das sie gerade erst den Grammy für die beste Aufnahme in der Kategorie „Pop Traditional“ erhalten hat.
Dabei ist ihre weiche, entspannte Stimme wie eine Reise zurück in die Zeiten, da der Jazz bei F. Scott Fitzgeralds „The Great Gatsby“ auf Cocktailpartys gespielt wurde. Umso überraschender ist es, Laufey, deren Posts in Minuten Hunderttausende Likes generieren, auf der Bühne oder in ihren Videos zu sehen: In mädchenhaften Kleidern tanzt sie kindlich, wie durch einen K-Pop-Pastellfilter gesehen, durch ein Zimmer, im Video ihrer bisher meistgeklickten Single, „From the Start“, das innerhalb der ersten 24 Stunden eine Million Mal gestreamt wurde. Sie spaziert in keuscher Verliebtheit durch New York, im Titelsong ihres aktuellen Albums „Bewitched“. Oder sie wandert durch ein verträumtes La La Land wie in Musical-Filmen mit Fred Astaire. Der Kontrast zwischen ihrer Stimme und ihrer visuellen Präsenz könnte kaum größter sein, wenn man ihre Duette mit Norah Jones gehört hat, dem Weihnachts-Bestseller von Blue Note Records, in der die Stimme Laufeys viel reifer klingt als die der 44-jährigen Jones.
Im Lockdown während der Covid-Pandemie, den die in Reykjavik und Washington aufgewachsene Sängerin und Cellistin in ihrem Elternhaus in Island verbrachte, stellte sie selbstaufgenommene Videos von Cover-Versionen ihrer Lieblings-Jazzsongs auf TikTok ein. Schnell wuchs die Zahl ihrer Follower, unter die sich bald die Sängerin Billie Eilish einreihte. Sie teilte Laufeys Song „My Future“ 2020 auf ihrem Instagram-Account – und machte Laufey damit über Nacht weltweit bekannt. Es folgten eine Einladung in die Late-Night-Show von Jimmy Kimmel und Anfragen von Plattenlabels. Wenig später unterzeichnete sie einen Vertrag mit Awal und stellte einen Manager ein.
Laufey Lín Jónsdóttir wurde am 23. April 1999 in Reykjavík als Tochter eines isländischen Fonds-Managers und einer chinesischen klassischen Geigerin geboren. Ihr (isländisch-altnordischer) Name spricht sich übrigens Löi-wej aus, nachzuhören auf einen kurzen Video von ihr selbst auf Youtube. Ihre Mutter stammt aus Guangzhou und ist auf einigen Stücken ihrer Tochter zu hören, etwa beim Titelsong ihres Debütalbums „Everything I Know About Love“, das 2022 direkt auf Platz eins der Billboard Charts einstieg. Ihr Großvater war Geigenlehrer. Ihre Zwillingsschwester Júnía Lín Jónsdóttir ist ebenfalls klassische Geigerin und mittlerweile Teil des Laufey-Teams. In Berlin kommt sie im silbernen Catsuit auf die Bühne, auf der rechts Schlagzeug und Kontrabass und links ein Streichquartett platziert sind, und spielt, vor dem Hintergrund eines funkelnden Sternenhimmels, ein umjubeltes Geigensolo.