
Eric Dolphy, geboren 1928 in Los Angeles, gestorben 1964 in Berlin
Der Tod kam völlig unerwartet. Erst im April 1964 war Eric Dolphy mit der Band von Charles Mingus auf Europatournee gegangen, im Mai spielte er noch Jamsessions in Paris, und im Juni starb er in Berlin. Niemand konnte es begreifen. Dolphy galt als „health freak“ – er rauchte nicht, trank nicht, nahm keine Drogen. Er hatte sein Leben im Griff, liebte seine Eltern und plante in Kürze zu heiraten. Vor seiner Reise nach Europa hatte er sich sogar noch gründlich vom Arzt untersuchen lassen – alles okay. Doch in Paris beginnt er sich unwohl zu fühlen, ist schnell erschöpft, leidet unter Anfällen von Heißhunger und fängt an zu halluzinieren. Dennoch reist er weiter nach Berlin, wo er mit dem Karl Berger Trio im Studentenclub Tangente gebucht ist. Aufs Hotelzimmer im Xantener Eck bestellt er sich große Mengen Eiswasser, Eiscreme, Cola. Er sitzt am offenen Fenster, leidet an Schweißausbrüchen und unsäglichem Durst. Ein Arzt gibt ihm eine Stärkungsspritze. Doch auf dem Weg zum Club muss Dolphy gestützt werden, auf der Bühne bricht er zusammen. Man bringt ihn in die nahe Achenbach-Klinik in Wilmersdorf.
Am nächsten Tag war Eric Dolphy tot, gestorben im diabetischen Koma. Er wurde 36 Jahre alt. „Wir waren wie vor den Kopf geschlagen und konnten es nicht fassen“, sagte Klaus Hagl, einer der Mitmusiker aus der Tangente. „Als wir ihn im Krankenhaus besuchen wollten, erwarteten wir, ihn erholt und frisch gestärkt anzutreffen. Niemand von uns ahnte auch nur im Entferntesten etwas von dem ganzen Ernst der Situation.“ Offenbar hatte Dolphy in sehr kurzer Zeit eine Diabetes-Krankheit entwickelt. Ein Klinikarzt sagte: „Sein Blutzucker genügte, um drei Menschen umzubringen.“ Dolphys Verlobte in Paris glaubte, die Ärzte hätten ihn zu früh aufgegeben und einfach für tot erklärt. Andere mutmaßten, man sei in Europa mit den besonderen Formen von Diabetes bei Afroamerikanern nicht vertraut. Charles Mingus verdächtigte die verhassten „Nazi-Deutschen“: „Sie haben ihn umgebracht.“ Die New Yorker Jazzszene stand unter Schock. Man widmete Dolphy Gedenkkonzerte und Kompositionen wie „Tears For Dolphy“, „Dolphy’s Days“, „Poor Eric“ und „Elegy For Eric“. Charles Mingus taufte seinen Sohn, der elf Tage nach Dolphys Tod geboren wurde, auf den Namen Eric Dolphy Mingus.
Das Meisterwerk
Nur wenige Wochen nach Dolphys Tod erschien sein Album „Out To Lunch“ – die Aufnahmen waren im Februar in New York entstanden. Der Album-Begleittext von A.B. Spellman wurde so abgedruckt, wie er im Frühjahr geschrieben worden war: „Eric sagt über seine unmittelbare Zukunft: ‚Ich bin auf dem Weg nach Europa, um dort für eine Weile zu leben.‘“ Das Plattenlabel veröffentlichte die Platte gleichzeitig mit Dexter Gordons „A Swingin’ Affair“ und Freddie Hubbards „Breaking Point“. Natürlich hat die trauernde Jazzwelt „Out To Lunch“ als Dolphys „Vermächtnis“ verstanden, als die Krönung und Vollendung dieses Musikers. Dabei hatte Dolphy die Zusammenarbeit mit Blue Note nicht als Abschluss, sondern als Neubeginn gemeint. Er hatte Zukunftsträume von Aufnahmen mit Albert Ayler und Cecil Taylor. Auch in Europa war er voller Pläne, war für ein ganzes Jahr ausgebucht, hatte Engagements in Deutschland, Dänemark, den Niederlanden, sogar in Australien vereinbart. Er wollte Woody Shaw, Bobby Hutcherson, Richard Davis und Billy Higgins aus New York holen, um die Musik von „Out To Lunch“ zu spielen. Eric Dolphy fühlte sich 1964 im Aufbruch, nicht als Vollendeter.
Und doch: „Out To Lunch“ ist ein Unikat, eine besondere Bilanz, das Resultat einer einmaligen Entwicklung. Es ist das herausragende Album des gesamten Blue-Note-Katalogs. Der britische Jazzkenner Richard Cook rechnet diese Platte zu den bemerkenswertesten Aufnahmen in der LP-Ära des Jazz. Das musikalische Konzept unterscheidet sich dabei sehr deutlich von „Far Cry“, Dolphys letzter konsistenter Studioplatte für Prestige/New Jazz (1960). „Out To Lunch“ präsentiert eine neue Konzeption von Jazzband.