
Wie so häufig bei Komponistinnen, dürfte der Name Elsa Barraine (1910-99) in Deutschland allenfalls Fachleuten ein Begriff sein. Angesichts der Qualität ihrer ca. 120 Werke, die alle wichtigen Genres umfassen und im Zeitraum von 1920 bis 1995 entstanden, sowie ihrer Biografie ist dies allerdings noch unverständlicher als sonst.
Barraine wurde in eine musikalische Familie hineingeboren. Ihr Vater war Solocellist an der Opéra de Paris, die Mutter eine versierte Amateurpianistin. Die außergewöhnliche musikalische Begabung des Kindes zeigte sich schon in jungen Jahren. Nachdem sie den ersten Musikunterricht vom Vater erhalten hatte, trat sie 1919 mit nur neun Jahren ins Pariser Conservatoire ein. Sie erwies sich als herausragende Studentin und erhielt erste Preise in Harmonielehre (1925), Kontrapunkt und Fuge (1927) sowie Klavierbegleitung (1927). Ab 1927 studierte sie Komposition bei Charles-Marie Widor, ab 1928 bei Paul Dukas, der für sie nicht nur ein Mentor, sondern auch eine Art Vaterfigur wurde. Im gleichen Jahr nahm sie am Grand Prix de Rome teil und erreichte mit der Kantate „Herakles à Delphes“ auf Anhieb einen zweiten Platz. Ein Jahr später wurde sie mit der Kantate „La Vierge guerrière“ die vierte Frau, die den Premier Grand Prix de Rome gewann. Dennoch gab es nicht wenige männliche Kritiker, die in ihren Rezensionen auch der späteren Werke Barraines die üblichen chauvinistischen Klischees und Ressentiments durchscheinen ließen. Elsa Barraine war keine streitbare Feministin wie etwa Ethel Smythe, doch hätte sie sich auch nie den gesellschaftlichen Konventionen unterworfen und wie Germaine Tailleferre nach einer Heirat auf eine öffentliche künstlerische Betätigung verzichtet.
Zwar entstanden in Rom 1928-33 gewichtige Werke wie die wirklich bemerkenswerte erste Sinfonie (1931) und die einaktige komische Oper „Le Roi boissu“ (1932), andererseits fühlte sich die junge Frau dort nach eigener Aussage nicht wohl. Im Zusammenhang mit dem Aufstieg des italienischen Faschismus und der Machtergreifung Hitlers muss ihr Orchesterwerk „Pogromes“ (1932) nach einem Gedicht von André Spire als erstaunlich weitsichtig betrachtet werden.
Nach ihrer Rückkehr aus Rom arbeitete Barraine in Paris als Klavierbegleiterin für die Chœurs Félix Rauguel und leitete 1935-40 die Gesangsabteilung des Orchestre national. Ab 1936 war sie auch bei Radio France als Pianistin, Tontechnikerin und schließlich als Leiterin der Abteilung Gesang tätig. Als Komponistin entwickelte Barraine eine spirituelle und sehr persönliche Ästhetik, die jener der Komponistengruppe La Jeune France und besonders ihres ehemaligen Kommilitonen Messiaen und Jolivets sehr ähnlich war. Exemplarische Werke dieser Periode sind die „Deux préludes et fugues pour orgue“ (1928/29), die „Trois chansons hébraïques enfantines“ (1935), die „Quatre chants juifs“ (1937) sowie ihre zweite Sinfonie (1938), die von ihrer Beklemmung angesichts von Antisemitismus (die Familie väterlicherseits hatte einen jüdischen Hintergrund) und Krieg durchdrungen ist. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie zudem durch die fernöstlichen Religionen zu mehreren Kompositionen angeregt, von denen die „Musique rituelle“ (1968) für Orgel und Schlagzeug zweifellos die bedeutendste ist.
Wegen des Nationalsozialismus in Deutschland und unter dem Eindruck des Münchner Abkommens entschloss sich Barraine 1938, Mitglied der Kommunistischen Partei Frankreichs zu werden (die sie 1949 allerdings wieder verließ). Musikalisch weckte das ideologische Engagement für den Kommunismus ihr Interesse an der Volksmusik und dem Volkslied sowie der Arbeit mit Laienchören. 1941 gründete sie gemeinsam mit zwei Kollegen das Comité national du Front national de la Résistance des Musiciens Français. Sie organisierte geheime Treffen und verfasste das Manifest der Gruppe – und ging damit, als Musikerin „halbjüdischer Abstammung“, ein besonderes Risiko ein. Tatsächlich wurde sie zweimal verdächtigt, Mitglied der Résistance zu sein, ihre zeitweilige Verhaftung blieb glücklicherweise ohne Konsequenzen. Gleichwohl entschloss sie sich unterzutauchen.
Erst nach der Befreiung Frankreichs 1944 war Elsa Barraine wieder in der Lage, Musik zu schreiben. Dennoch nahm ihr kompositorisches Schaffen nach 1945 rein quantitativ ab, was sich nicht nur mit ihren vermehrten pädagogischen und administrativen Tätigkeiten erklären lässt. So war sie von 1944-47 als Aufnahmeleiterin bei der Plattenfirma Le Chant du Monde tätig und 1953-73 Professorin für musikalische Analyse am Pariser Conservatoire, sie wirkte intensiv als Dozentin und Dirigentin in der Fédération musicale populaire und war schließlich 1972-74 als Inspektorin für alle staatlichen Theater in Frankreich zuständig. Ein wichtiger Grund dürfte aber auch die Entfremdung von der französischen Musikszene gewesen sein, die im Bereich der zeitgenössischen Musik keine Stilrichtung außerhalb des Serialismus mehr ernst zu nehmen bereit war.
In der Oper „Ariane et Barbe-Bleue“ ihres Lehrers und Mentors Paul Dukas ist die Figur der Ariane eine ganz im heutigen Sinne moderne Frau, die sich unerschrocken und selbstbewusst gegen Blaubart stellt und sich dadurch befreit. Angesichts der Biografie und Persönlichkeit von Elsa Barraine ist es nicht weit hergeholt, sie als eine Schwester im Geiste zu sehen, die sich gegen die männliche Dominanz in der Musikwelt ihrer Zeit zumindest teilweise durchsetzen konnte. Es wäre zu wünschen, dass die in den letzten Jahren verstärkte Beschäftigung mit dem Werk komponierender Frauen Elsa Barraines Musik auch außerhalb Frankreichs mehr Aufmerksamkeit bescheren würde und es bald mehr Aufnahmen ihrer Werke geben wird.