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Musikgeschichte
Außenseiter, Exzentriker, Zugereiste, Revolutionäre
Ein Querschnitt der Musikgeschichte Frankreichs
Von
Ecki Ramón Weber

Die Hauptfiguren in Meyerbeers „Vasco da Gama“ 1865, zeitgenössische Presseillustration

Als 2019 der Brand der Kathedrale Notre-Dame in Paris die Weltöffentlichkeit aufschreckte, drohte nicht nur einem architektonischen und kunstgeschichtlichen UNESCO-Weltkulturerbe die Zerstörung, sondern auch einer Wiege der europäischen Musik. Denn hier wurden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts von den Meistern Leoninus und Perotinus die Grundlagen der Mehrstimmigkeit gelegt. Im Mittelalter war das eine Revolution: Statt der eher meditativen einstimmigen Gregorianik oder schlichter zweistimmiger Quint- und Quartverdoppelungen wollte man mehr Ausgestaltung. Somit wurden Teilen der Choräle weitere Melodien bis zu vierstimmigen Sätzen hinzugefügt. Um eine bindende Fasslichkeit zu erhalten, griff man auf Rhythmen aus den Versmaßen der antiken Dichtung zurück, etwa Jambus und Trochäus, das brachte geradezu tänzerischen Schwung in die Gesänge. Vermutet wird, dass die Visionen der neuen Baukunst der Gotik eine entscheidende Inspiration für die Musiker waren: Die Polyphonie aus Licht, Farben und Konturen in den Kathedralen weckte den Wunsch nach Vergleichbarem im Klanglichen. Womöglich beflügelten aber auch die Berichte von den Kreuzzügen oder aus den maurischen Reichen der Iberischen Halbinsel, etwa über die raffinierte arabische Baukultur, die Fantasie der christlichen Komponisten.

Im Laufe der Zeit verfeinerte und differenzierte sich die Mehrstimmigkeit. Französische Komponisten wie Philippe de Vitry und Guillaume de Machaut kreierten im 14. Jahrhundert in der Ars nova, der „neuen Kunst“, komplex ausgreifende, expressive polyphone Gewebe. In der zentralen Gattung, der isorhythmischen Mottete, sorgten gemeinsame rhythmische Figuren, die durch alle Stimmen gehen, für formale Bindung und Sogkraft. Diese üppige Kreativität störte die Kirche: Bereits 1325 versuchte Papst Johannes XXII., diese neuartige Mehrstimmigkeit zu verbieten. Nur noch Oktaven, Quinten, Quarten sollten erlaubt sein. Zum Glück waren die Päpste im weiteren Verlauf des Jahrhunderts von innerem Zwist und Konflikten mit weltlichen Machthabern abgelenkt. Vor allem Guillaume de Machaut dehnte die Mehrstimmigkeit auch auf weltliche Kompositionen aus.

Ludwig XIV., der „Sonnenkönig“, gab Frankreich ein paar Jahrhunderte später ein völlig neues Gepräge. Schon mit vier Jahren offiziell auf den Königsthron gekommen, musste er sich zunächst gegen die eigene Mutter und den Kardinal Jules Mazarin durchzusetzen, rebellierte gegen das Althergebrachte und setzte schließlich neue Maßstäbe als wirkungsmächtigster absolutistischer Herrscher. Die Künste setzte Louis XIV. geschickt als Corporate-Identity-­ und Marketing-Werkzeuge ein. Für die Musik war vor allem Jean-Baptiste Lully verantwortlich, geboren als Giovanni Battista Lulli in Florenz, der sich als Italiener gegen Widerstände der Traditionalisten und Neider durchsetzen musste. 1753 wirkte Lully erstmals im Hofballett des tanzbegeisterten Louis mit. Bald sorgte er für die Musik. Und die ist gravitätisch, feierlich, melancholisch, dramatisch, wutschnaubend, mal lieblich als Hirtenidylle, mal martialisch mit ausgeprägter Rhythmik. Gemeinsam mit dem Dichter Molière entwickelte Lully Gesamtkunstwerke aus Schauspiel, Oper und Ballett, etwa die Comédie-ballet „Le Bourgeois gentilhomme“ („Der Bürger als Edelmann“, 1670). 1672 erhielt Lully durch geschickte kulturpolitische Winkelzüge, Diplomatie und Intrigen das „Opernprivileg“, ein Monopol für sämtliche Opernaufführungen in Paris und Versailles. Um das französische Musiktheater von der erfolgreichen italienischen Opera seria deutlich abzugrenzen, prägte Lully für die fünfaktige Tragédie lyrique, die ernste französische Oper, eigene Gesetzmäßigkeiten aus. Die wichtigsten: Die Sologesangsstücke sind nicht dicht verziert mit Koloraturen, sondern verstehen sich als Monologe in Musik gefasst, die sich relativ flexibel an der Sprachmelodie orientieren. Stärkeres Eigengewicht hat die Musik in den Divertissements. Das können Balletteinlagen, Instrumental- oder Chorstücke sein, auch Soli von Nebenfiguren. Ein Organist und Kirchenkomponist, der lange in der französischen Provinz wirkte, Jean-Philippe Rameau, brachte Jahrzehnte später eine neue Tiefe, mehr Farbe und harmonische Expressivität in die Tragédie lyrique. Doch als er mit „Hippolyte et Aricie“ 1733 die Pariser Szene betrat, sorgte dies für heftige Dispute, weil viele an der Lully-Tradition festhalten wollten.

Es war nicht der letzte Streit um das Musiktheater in Paris: 1752 löste der Erfolg einiger heiterer Intermezzi, darunter „La serva padrona“ von Giovanni Battista Pergolesi, die ein italienisches Gastspielensemble aufführte, den sogenannten Buffonistenstreit aus. Die Aufklärer Jean-Jacques Rousseau und Denis Diderot feierten diese populären Formen und die heitere Opera buffa aus Italien als Ideal einer neuen Natürlichkeit. Die Verfechter der französischen Tragédie lyrique betrachteten dies quasi als Landesverrat. Zwanzig Jahre später ereignete sich eine weitere „querelle“. Schuld war diesmal ein Komponist aus der Oberpfalz, der in Wien bereits Meriten gesammelt hatte: Christoph Willibald Gluck. Zusammen mit dem italienischen Librettisten Ranieri de’ Calzabigi versuchte er die Opera seria, die ernste italienische Barockoper, zu reformieren. Er verwarf Pathos und vor allem die langwierigen Da-capo-Arien und strebte „edle Einfachheit“ an. Ab 1774 war Gluck für einige Jahre in Paris. Dort kam „Orphée et Eurydice“ auf die Bühne, die französische Bearbeitung seiner 1762 auf Italienisch in Wien uraufgeführten Vorlage: der antike Mythos mit reduziertem Personal praktisch als Kammerspiel. Glucks Reformopern entfesselten eine Fehde zwischen den „Gluckistes“ und den „Piccinnistes“. Niccoló Piccinni, damals erfolgreich in Paris, wurde als Glucks Antagonist instrumentalisiert.

All diese Kontroversen nutzten letztendlich der Opéra-comique, sie ging daraus als zukunftsträchtige Gattung hervor. Das „comique“ ist nicht als „lustig“ gemeint, sondern im Sinne von „theatergemäß“, Hinweis auf die gesprochenen Dialoge in der Opéra-comique. Sie verbindet Elemente aus dem Jahrmarktstheater und der italienischen Opera buffa zu etwas Neuem. In der Folge diente die Opéra-comique als Experimentierfeld. So arbeitete etwa der aus Lüttich stammende Komponist André-Ernest-Modeste Grétry, seit den 1770ern in Paris erfolgreich, in „Richard Cœur de Lion“ („Richard Löwenherz“) 1784 zum ersten Mal mit charakterisierenden Erinnerungsmotiven – am Ende dieser Entwicklung stand Richard Wagner mit seiner Leitmotivik. Auf dem Feld der Opéra-comique entstand auch die berühmteste französische Oper: „Carmen“ von Georges Bizet, 1875 mit mäßigem Erfolg in Paris uraufgeführt, heute unter den meistgespielten Opern weltweit.

Unbedingt zu erwähnen wäre noch die Musik für Cembalo, „clavecin“ im Französischen, aus Spätbarock und Rokoko. François Couperin, Beiname „Le Grand“, sei hier kurz genannt. Er veröffentlichte zwischen 1713 und 1730 vier Bände mit Musik für die Tasten, reizende, geistreiche, anspielungsreiche Charakterstücke. Darin werden satirisch auch höfische Persönlichkeiten musikalisch gezeichnet.

So viel zu den klingenden Nadelstichen im feudal geprägten „ancient régime“. Als 1789 die Französische Revolution ausbrach, wirkte sich dies selbstverständlich auch auf die Musik aus. Die Tragédie lyrique hatte endgültig ausgedient, stattdessen wurde die Opéra-comique zum formalen Rahmen für die zeittypische „Rettungsoper“: Ein zu Unrecht Gefangener wird befreit, im Finale gibt es eine markige Freiheitshymne mit Chören und Fanfaren. 1791 hatte der in Paris tätige Italiener Luigi Cherubini mit „Lodoïska“ Erfolg, 1798 Pierre Ga­veaux mit „Léonore“. Deren Handlung soll auf einer wahren Begebenheit basieren: Ein kurz vor der Revolution von einem Adeligen eingekerkerter Mann wird von seiner Ehefrau befreit. Kommt Ihnen bekannt vor? Ludwig van Beethoven hat die Geschichte später in „Fidelio“ vertont. Die Vorfassungen von 1805/06 tragen noch den Titel „Leonore“.

Revolutionärer Geist spornte auch Hector Berlioz an. Der ideenreiche Feuerkopf mischte in seiner „Sinfonie fantastique“ (1830) die gute alte Sinfonie mit ungeheuerlichen Inhalten und grellen Farben auf: exzessivem Liebeskummer, Opiumrausch, Hinrichtung und Hexensabbat. Schockierend für die Zeitgenossen! Berlioz’ strukturell-dramaturgischer Kniff, einen zentralen musikalischen Gedanken („idée fixe“) wiederkehren zu lassen, beeinflusste später die Leitmotivtechnik Wagners. Lesern von Asterix ist der Begriff bis heute als Name des Hundes Idéfix vertraut. Nebenwirkung von Berlioz’ rauschhafter Orchestermusik: Der Komponist, der nie systematischen Klavierunterricht genossen hatte, dachte weniger in Tönen als unmittelbar in Instrumentalfarben. Seine später publizierte Instrumentenlehre wird heute noch gelesen. Weitere kompositorische Wagnisse folgten: In den Jahren 1856-58 komponierte Berlioz die Oper „Les Troyens“ nach Homers „Ilias“ und (!) „Odyssee“, vier Stunden dauert das Ganze. Erst 1969 kam es in Glasgow zu einer Inszenierung des vollständigen Werks.

Frischer Wind für die französische Musik kam ansonsten im 19. Jahrhundert aus dem Osten, von zwei jüdischen Komponisten. Der eine, Giacomo Meyerbeer, stammte aus Berlin, der andere, Jacques Offenbach, aus Köln. Mit der neuen Gattung der „Grande opéra“ brachte Meyerbeer als erfolgreichster Musikdramatiker seiner Zeit die Oper in eine neue Dimension: Es entstanden Gesamtkunstwerke, die als Multimediamix sämtliche Künste bündeln. Realistisch wirkende Kulissen, architektonisch raffiniert konzeptionierte Bühnenräume, wirkungsvolle Beleuchtung, feinster Solo- und Ensemblegesang, Chöre, Ballett, ein großes Orchester mit farblich ausgeklügelten Mischungen unter Einsatz neuester Instrumente, szenische Tableaus statt einzelner Nummern, Massenszenen, intime Momente, verbunden in eine soghafte Kontrastdramaturgie – das alles ist auf maximale Überwältigung des Publikums ausgerichtet. Kein Wunder, dass Meyerbeers Opern als Vorläufer des Hollywood-Breitwandformats gelten. Die Musik verarbeitete alle musikalischen Errungenschaften der Epoche zu einem paneuropäischen Stil. Und: Die vielschichtigen Handlungen zeigen historische Panoramen und Individuen darin. Die Themenkomplexe sind heute noch aktuell: In „Les Huguenots“ (Paris, 1836) und „Le Prophète“ (Paris, 1849) geht es um religiösen Fanatismus, in „Vasco da Gama“ (Paris, 1865) um Kolonialismus.

Zur gleichen Zeit erfand Jacques Offenbach die Operette und hielt der Gesellschaft seiner Zeit einen Spiegel vor. Griechische Götter und reiche Bürger werden bei Offenbach als verkommenes, intrigantes, aggressives, versoffenes Pack entlarvt. Davon erzählen „Orphée aux enfers“ (Paris, 1858), „La belle Hélène“ (Paris, 1864) oder auch „La vie parisienne“ (Paris, 1866). Der Soziologe Siegfried Kracauer nannte Offenbach einen „Spottvogel“, der sich über „aufgeblähte Würde, hohle Autorität und angemaßte Gewalt“ lustig mache und sie so entzaubere, aber mit „Melodien von paradiesischer Heiterkeit“ – mit lukullischem Walzer und schmissiger Polka. Am Ende seines Lebens drehte Offenbach nochmals all denen eine Nase, die ihn als zu leichtgewichtig unterschätzt hatten – mit der ernsten Oper „Hoffmanns Erzählungen“ (Paris, 1881).

Später wurden dann ganz andere Töne angestimmt: „Übrigens überzeuge ich mich mehr und mehr, dass die Musik ihrem Wesen nach keine Sache ist, die sich in eine strenge und traditionelle Form gießen lässt. Sie besitzt Farben und fließende Zeitmaße“, notierte Claude Debussy während der Entstehung seines Klavierzyklus „Images“ (1904-07). Ähnlich wie beim Impressionismus der Malerei setzten er und seine Kollegen nun auf Klangeindrücke. Und sie verarbeiteten frische Impulse aus aller Welt, etwa andalusischen Flamenco und Gamelanmusik von Java und Bali, die Debussy und Ravel auf den Pariser Weltausstellungen hörten, oder fernöstliche Ganztonleitern. Mit „Pelléas et Mélisande“ (Paris, 1902) legte Debussy gleichzeitig eine Anti-Meyerbeer-, Anti-Verdi- und Anti-Wagner-Oper vor. Er verzichtete auf musikalische Überwältigungswirkungen im Gesang und im Orchester und überhaupt auf dramatische Zuspitzung. Die Singstimmen orientieren sich in ihrer zurückhaltenden Vokallinie an einer dezent musikalisierten Deklamation, die Handlung wird subtil vom Orchester kommentiert und reflektiert. Revolutionär ist auch Debussys Ballettmusik „Jeux“ von 1913, eine polyperspektivische Musik mit kurzen Gestalten und Klangfeldern in präzise ausgewählten Orchesterfarben, die aufscheinen und wieder verschwinden.

Nur zwei Wochen nach der Uraufführung von „Jeux“ durch Sergei Diaghilevs Ballets Russes kam es am 29. Mai 1913 zu einem der berühmtesten Skandale der Musikgeschichte. Wieder erklang ein neues Werk zu einem Ballett der Ballets Russes in einer Choreografie von Vaslav Nijinsky: „Le sacre du printemps“ („Das Frühlingsopfer“). Der Russe Igor Strawinsky setzte archaische Rituale aus dem vorchristlichen Russland in Klang und verwandelte das spätromantische Orchester in eine stampfende Rhythmusmaschine. Melodien sind als erratische Brocken eingestreut, die Harmonik ist dissonanzenreich. Die Wucht dieser geballten Energie brachte das fassungslose Publikum zum Rasen, von Saalkämpfen wird berichtet.

Und noch ein Skandal: „Parade“ (1917), das Experiment eines kubistischen Ballettwerks von Jean Cocteau und Pablo Picasso. Die Musik von Erik Satie versammelt Anspielungen an Sakralmusik, Zirkusklänge und Alltagsgeräusche, etwa von einer Schreibmaschine, einem Revolver und einer Sirene. Die Presse nannte Satie einen „unharmonischen Clown“, Picasso einen „Stümper“. Cocteau erklärte dagegen: „Erik Saties Widerstand besteht in einer Rückkehr zur Schlichtheit. Das ist übrigens der einzig mögliche Widerstand gegen eine Epoche extremen Raffinements.“ Die Eigenwilligkeit Saties wurde nach dem Ersten Weltkrieg zum Ideal für die Groupe de Six. Dieser Freundeskreis aus fünf Komponisten und einer Komponistin, Germaine Tailleferre, bildete die Avantgarde im Paris der 1920er Jahre. „Antiromantik“ lautete die Parole, knappe Formen, Schnörkellosigkeit sind die Ideale. „Genug der Wolken, Wellen, Aquarien, Nixen und nächtlichen Düfte; wir brauchen eine Musik für die Erde, eine Musik für alle Tage“, brachte es Jean Cocteau, der mit der Gruppe eng verbunden ist, auf eine Formel. Elemente des frühen Jazz, Parodien auf Barock und Rokoko, Chanson, Music-Hall, Zirkusmusik, das alles wurde zu quirligen Kompositionen zusammengesetzt. Die beiden berühmtesten Mitglieder von Les Six, Darius Milhaud und Francis Poulenc, blieben auch später ein bisschen rebellisch. Der eine schrieb mit seiner visionären Oper „Christophe Colomb“ (Berlin, 1930) eine polyperspektivische, polystilistische, multimediale Abrechnung mit Kolumbus, in der auch die altamerikanischen Götter zu Wort kommen. Der andere präsentierte in „Les mamelles de Tirésias“ („Die Brüste des Thiresias“, Paris, 1947) eine Geschlechtsumwandlung und Kritik an Kriegstreiberei als grotesk zugespitztes, satirisches Musiktheater.

Alles andere als grell, aber nicht weniger revolutionär für die Musikgeschichte waren auch zwei Zeitgenossinnen der Sechs: die Schwestern Nadja und Lili Boulanger. Die jüngere, Lili, galt als große musikalische Hoffnung, ihre Kompositionen besitzen eine Tiefe, die auch mystische und philosophische Inhalte in glutvollen Farben und differenzierten Strukturen in Klang fassen. 1918 starb sie mit nur 24 Jahren. Ihre Schwester Nadja, die sie bis 1979 überlebte, wurde eine legendäre Kompositionslehrerin, berühmt dafür, die künstlerische Individualität ihrer Schüler zu erkennen. Dies bescherte der Musikwelt die unverkennbare Musik etwa von Aaron Copland, Elliott Carter, Astor Piazzolla und Philip Glass.

Ein weiterer Revolutionär muss genannt werden: Die zeitgenössische Musik brauche „ein wenig himmlische Sanftmut“, befand der Komponist Olivier Messiaen, der ab 1931 für sechzig Jahre die Orgel an der Pariser Kirche La Trinité spielte. Der gläubige Katholik verstand Klänge als tönende Gestaltwerdung des Göttlichen. Er öffnete dafür aufmerksam seine Ohren, achtete als passionierter Ornithologe auf die Rufe der Vögel, hörte auf Errungenschaften der europäischen Sakralmusik, der indischen Kunstmusik, auf balinesische Rhythmen und auf Folklore aus Peru. Das alles schlägt sich in seinen Werken nieder, die in ihren Strukturen, Farben und ihrer Expressivität eine individuelle Spielart der Moderne darstellen. Selbst die jungen Wilden der Nachkriegsmoderne respektierten Messiaen als Komponist.

Auch Messiaens Schüler Pierre Boulez, der nach den Worten des Lehrers „rebellisch gegen alles“ war und Furore mit der Aussage macht, man solle alle Opernhäuser sprengen. Boulez arbeitete an der totalen Durchorganisation des Klingenden im Serialismus, fand schließlich eigene Strukturprinzipien zwischen Ton, Rhythmus und Klangfarbe und entwickelte die elektronische Musik zukunftsträchtig weiter. Als 1977 das Kunst- und Kulturzentrum Centre Pompidou seine Pforten öffnete, wurde Boulez Gründungsdirektor des IRCAM, des Forschungsinstituts für elektronische Musik. Hier stieß der akribische Klangtüftler in neue Dimensionen mittels digitaler Technik vor. Und Karriere als Dirigent – auch in Opernhäusern – machte er ebenfalls.

Pioniere der elektronischen Musik waren auch Pierre Schaeffer und Pierre Henry, in den 1950ern stellten sie in einem Rundfunkstudio in Paris, noch mit analoger Technik, elektronische Klänge und Alltagsgeräusche zu Musikstücken zusammen. Herkömmliche Partituren, Orchester, Interpreten sind in dieser „Musique concrète“ nicht mehr nötig. In Multimediawerken und Hörspielen wirkt noch heute die Musique concrète weiter.

Die Erfahrungen mit elektronischer Musik und neue Verfahren der Klanganalyse brachten in den 1970er Jahren eine neue Strömung hervor, die aufgrund der physikalischen und akustischen Erkenntnisse völlig neue Schlüsse für Kompositionen zog: die „Musique spectrale“ („Spektralmusik“) mit Komponisten wie Gérard Grisey, Tristan Murail, Philippe Manoury oder Hugues Dufourt. Die Musique spectrale versucht, die physikalischen Gegebenheiten eines Klanges in seinen Mikropartikeln hörbar zu machen. Wie das gehen soll? Tonmaterial, Harmonik und Farbwerte werden auf Basis des messbaren Teiltonspektrums eines Klangs entwickelt. Das Ergebnis sind Kompositionen, die nach ihren eigenen Gesetzen glühen und schillern, Klänge aus verschiedenen Perspektiven präsentieren und in mikrotonale Bereiche gehen. Die herkömmliche Trennung in Melodie, Harmonik und Rhythmus sei aufgehoben, wenn „ein Ton zur Klangfarbe, ein Akkord zum Spektralkomplex und ein Rhythmus zu einer Welle von unvorhersehbaren Dauern“ werde, formulierte Gérard Grisey. Das jahrhundertealte Konzept von Tonhöhe und Dauer, das im Mittelalter die Notre-Dame-Mehrstimmigkeit hervorbrachte, wird von den technisch wie wissenschaftlich versierten Revolutionären der Musique spectrale weggewischt. Es entsteht eine völlig neue Sichtweise von Musik, die bis heute viele Komponisten aus aller Welt beeinflusst – weil sie, jenseits kultureller Prägungen, auf die Wurzeln alles Klingenden zurückgeht.  

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