Frankfurt, Alte Oper, Sonntagsmatinee des Museumsorchesters. Nach der Pause: Auftritt der chinesischstämmigen Amerikanerin Claire Huangci, die in Hannover studiert hat und nun in Frankfurt wohnt. Auf dem Programm steht Maurice Ravels Klavierkonzert, und sehr schnell spürt man: Ravel liegt ihr. Jazz auch. Erwartungsgemäß und wohlverdient: tosender Applaus. Und so lässt sie sich nicht lange um eine Zugabe bitten – und spielt den vierten Satz aus Samuel Barbers es-Moll-Sonate. Das Stück und Huangcis Spiel virtuos zu nennen, wäre untertrieben.
Frau Huangci, wie übt man so ein Stück? Es sah aus, als würden Ihre Hände nicht mehr zu Ihnen gehören.
Ja, eigentlich ist es außerirdisch. Es muss ganz klar im Kopf sein, dann klappt es auch in den Fingern und geht automatisch. Barber hat das gnadenlos gut gemacht. Übermenschlich manchmal.
Auf Ihrem neuen Album „Made in USA“ spielen Sie neben dieser Sonate von Barber auch George Gershwin und Amy Beach, außerdem sieben Liedtranskriptionen von Earl Wild. Was war die Idee?
Ich wollte zurückkehren zu meiner amerikanischen Ausbildung. Während meiner Studienzeit am Curtis-Institut hatte ich viel Gelegenheit, amerikanische Komponisten zu studieren und kennenzulernen, und schon damals dachte ich mir, dass da ein Riesenfeld von Musik zu entdecken sei. Als ich 2007 nach Europa kam, stand zunächst die europäische Musik im Vordergrund, ich hatte das aber immer im Hinterkopf. Jetzt dachte ich, die Zeit wäre reif.
Fiel die Auswahl schwer?
Das erste Stück war klar: Gershwins „Rhapsody in Blue“, die in diesem Jahr ihren hundertsten Geburtstag feiert. Außerdem ist sie so etwas wie die Nationalhymne Amerikas – jeder kennt dieses Stück. Gershwin selbst hat sie etwa drei Jahre nach der Orchesterfassung für Klavier transkribiert, und diese Transkription zeigt eine so schöne andere Seite dieses Stücks. Wenn man es ohne Orchester spielt, übernimmt man die komplette Kontrolle: Tempi, Rubati …
Viel Freiheit also …
Ja, ich liebe es. Natürlich muss man trotzdem jeden Ton des Orchesters kennen. Weil es aber sowohl ein Klavier- als auch ein Orchesterstück ist, war es nicht ganz einfach, hier eine neue Interpretation zu erschaffen. Es gab durchaus ein paar Stellen, die für mich so nicht funktioniert haben. Also musste ich eine andere Perspektive der Musik zeigen. Gershwin wusste ja ganz genau, was er macht – vielleicht wollte er diesen ganz anderen Klang haben. Ich hatte anfangs sogar überlegt, ein reines Gershwin-Album zu machen, weil es auch so viele tolle Lieder von ihm gibt – „Embraceable you“ etwa oder „The Man I love“. Earl Wild hat einige davon in sensationell virtuose Etüden transponiert. Ich dachte auch an eine Fantasie von ihm über „Porgy & Bess“. Aber das wäre vielleicht ein bisschen einseitig geworden, und so hab ich mich nach anderen amerikanischen Stücken umgeschaut. Und da Samuel Barbers Sonate schon so lange auf meiner Liste stand …
… war es jetzt einfach an der Zeit?
Ja, ich hab sie mit 14 Jahren gehört und die Noten gesehen und dachte mir, das würde ich nie schaffen. Aber vor etwa eineinhalb Jahren hab ich mich hingesetzt und das Stück gelernt – das hat viel Energie und Geduld gekostet. Und Zeit! Das lernt man nicht in einem Monat. Da sind so viele neue Techniken drin. Ich kann es bis heute nicht ohne Noten spielen, weil es so kompliziert ist. Und wenn man raus ist, ist man raus. Aber für mich ist es das perfekte Beispiel für amerikanische Klassik.
Was genau ist amerikanische Klassik?
Diese Frage stand auch für mich ganz am Anfang. Und es gibt eigentlich keine klare Antwort. Man denkt immer nur an Bernsteins „West Side Story“ und eben die „Rhapsody in Blue“. Von Barber hingegen kennt man nur das „Adagio for Strings“. Dabei war er so vielseitig und alles andere als ein One-Hit-Wonder.
Auch Amy Beach zählt nicht zu den Popstars der Klassik.
Nein, sie war auch für mich eine wirkliche Entdeckung. Ihre Musik klingt so romantisch, ist so ernsthaft und von hoher Qualität, und man spürt – wie bei Clara Schumann – in jedem Werk, dass sie eine hervorragende Pianistin war. Sie hat die große Struktur beherrscht. Die Variationen sind ein Riesenwerk mit vielen unterschiedlichen Elementen – schumannesk, chopinesk ...
Glauben Sie, dass Sie mit diesem Programm ein anderes Publikum erreichen?
Das wäre schön. Viele Leute gehen ja ins Konzert, weil sie die Musik kennen. Wie die „Rhapsody in Blue“. Die wird gar nicht oft im Konzert gespielt, dabei ist es jedes Mal ein Riesenerfolg. Also versuche ich, mit so einem Schlüsselwerk das Publikum anzulocken und dann den Blick ein wenig zu erweitern, zum Beispiel mit Barber. Meist ist es dann so, dass sich die Leute über Gershwin freuen, aber auch sagen, dass sie von Barber oder Beach besonders beeindruckt waren.
Mission accomplished …
Ja, und ich würde mich freuen, wenn ich diese Botschafterin für die amerikanische klassische Musik sein könnte. Sie hat mein ganzes Leben geprägt.
Haben Ihre chinesischen Wurzeln Einfluss auf Ihre musikalische Entwicklung?
Nein! Ich komme aus einer sehr traditionellen chinesischen Familie: harte Arbeit, Disziplin – das war immer präsent. Tägliches Klavierspielen – das kam von den Eltern, nicht von mir. Aber sonst? Meine ganze Ausbildung, meine Freundschaften – das ist alles komplett amerikanisch.
Ist dieses Album eine vorläufige Zäsur in Ihrer pianistischen Biografie?
Ich glaube schon. Ich wollte diesen Schritt machen, und jetzt kann ich weiter in diese Richtung gehen. Vorher war ich noch nicht bereit dafür. Hinzu kommt, dass es in der amerikanischen Musik noch nicht so viele Referenzinterpretationen gibt – die ich mir aber ohnehin nicht anhöre, weil ich mich nicht ablenken lassen will. Vielleicht habe ich mich erst jetzt wirklich kompetent gefühlt.
Wir führen dieses Interview kurz vor den Wahlen in den USA, das Album wurde gerade veröffentlicht. Steckt auch eine politische Motivation dahinter?
Nein, gar nicht. Natürlich ist die Situation derzeit hoch spannend – und ich bin sehr beunruhigt, was nach der Wahl passieren kann. Dennoch habe ich die Hoffnung, dass die USA weiterhin ein Land der Möglichkeiten, ein Schmelztiegel unterschiedlicher Kulturen sein werden, wie es ja auch in dieser so diversen und vielfältigen Musik dargestellt ist. Ich wünsche mir sehr, dass das so bleibt. Weil es das Amerika ist, das wir kennen und lieben.