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Lateinamerika
Bartók und die Gauchos
Ein Porträt des argentinischen Komponisten Alberto Ginastera
Von
Eva Blaskewitz

Alberto and Aurora (Nátola) Ginastera

Ein Foto zeigt Alberto Ginastera und die Cellistin Aurora Nátola zu Silvester 1971, einige Wochen nach ihrer Hochzeit, an einem Teetisch im mondänen Hotel Suvretta House in St. Moritz. Sie strahlend, er milde lächelnd. Er passt in dieses Ambiente, der freundliche Mann, der schöne Gegenstände, elegante Kleidung, moderne Kunst und gutes Essen liebt und von dem ein Reporter der „Times“ geschrieben hat, er sehe ungefähr so sehr nach Künstler aus wie der Vorstandsvorsitzende der First National Bank in White Plains.

Alberto Ginastera ist 55 Jahre alt und der berühmteste Komponist Argentiniens. Und er hat eine tiefe künstlerische Krise hinter sich. Spannungen in der Ehe mit seiner ersten Frau, Sorgen um seinen Sohn, der schwer erkrankt ist, das restriktive politisch-gesellschaftliche Klima unter der Diktatur Juan Carlos Onganías, schließlich die Scheidung. Drei Jahre lang hat Ginastera keine Note zu Papier gebracht.

Mit Aurora Nátola kehrt seine Lebensenergie zurück. Er zieht in ihre Schweizer Wahlheimat, nach Genf, wo er die letzten zwölf Jahre seines Lebens verbringt, und beginnt wieder zu schreiben. Das Werk, mit dem er sein kompositorisches Schweigen bricht, ist die Kantate „Milena“, beruhend auf Franz Kafkas Briefen an seine Geliebte Milena Jesenská.

Seit Jugendtagen ist Kafka einer seiner Lieblingsschriftsteller. „Das surrealistische Gefühl, das seine Texte durchtränkt, seine Kunst, Leben jenseits der Erscheinungen zu erschaffen, dann diesem inneren Leben Form zu geben“, sei für sein eigenes Werk von größter Bedeutung, hat Ginastera gegenüber dem Musikjournalisten Luc Terrapon gesagt. Eine Aura des Magischen, eine Ahnung von uralten Riten und Zeremonien liegen über seiner Musik. Gespeist aus den Mythen und Klängen Argentiniens, die in seine Werke eingewoben sind.

Ginastera wird am 11. April 1916 in Buenos Aires geboren. Seine Eltern sind Einwanderer der zweiten Generation, der Vater katalonischer, die Mutter lombardischer Herkunft. Obwohl in der Familie niemand Musik macht, bekommt er früh Klavierunterricht. Er wird aufs Konservatorium von Alberto Williams geschickt, dem Initiator der national-argentinischen Bewegung in der Musik, die zu dieser Zeit Hochkonjunktur hat, und nutzt so oft wie möglich die Gelegenheit, im Teatro Colón die Konzerte berühmter Pianisten zu hören, von den Stehplätzen auf dem obersten Rang aus. „Bei einer dieser Gelegenheiten konnte ich zum ersten Mal Béla Bartóks ‚Allegro barbaro‘ hören, gespielt von Rubinstein“, berichtet er im Aufsatz „Hommage à Bartók“. „Damals fühlte ich das Besondere dieser Entdeckung, das Betörende einer Offenbarung. Ich war 15 Jahre alt.“

Was ihn so fasziniert, ist die Art, wie Bartók schlichte traditionelle Lieder und Tänze mit einer avancierten zeitgenössischen Tonsprache verschmilzt. Ginastera nimmt sich Bartók zum Vorbild, zum Wegweiser hin zu einer Erneuerung der argentinischen Musik, schon in seinem Opus 1, dem Ballett „Panambí“ nach einer Legende der Guaraní aus dem nördlichen Argentinien. Gerade einmal 18 ist er und noch Student, als er das Stück komponiert. Außer Bartók hat auch Debussy darin seine Spuren hinterlassen und Strawinsky, dessen „Sacre du printemps“ Ginastera ein paar Jahre zuvor „wie einen Schock“ erlebt hat.

„Panambí“, erstmals aufgeführt in Form einer Orchestersuite, katapultiert Ginastera quasi über Nacht in die Öffentlichkeit, da hat er noch nicht einmal sein Diplom in der Tasche. Er schreibt weitere Stücke im Stil des „objektiven Nationalismus“, so nennt er später diese Phase, in der er exzessiv von südamerikanischer Folklore Gebrauch macht. Die „Danzas argentinas“ für Klavier; das Ballett „Estancia“, sein heute bekanntestes Werk, das von der Kultur der Gauchos, der argentinischen Cowboys, inspiriert ist; die „Cinco Canciones Populares Argentinas“ für Singstimme und Klavier; die „Obertura para el ‚Fausto‘ criollo“ nach einem zentralen Werk der Gaucho-Literatur, „Fausto“ von Estanislao del Campo: Darin landet ein Gaucho zufällig in einer Vorstellung von Gounods „Faust“ im Teatro Colón und erzählt in lokalem Dialekt einem Freund von diesem Besuch.

Quasi nebenher macht sich Ginastera einen Namen als Lehrer. Er wird Professor am Conservatorio Nacional de Musica und bald einer der prägenden Musikpädagogen des Landes, im Laufe der Zeit gründet und leitet er mehrere Ausbildungsinstitute, die das argentinische Musikleben auf neue Füße stellen. Fordernde Aufgaben – er sei ein Wochenendkomponist, scherzt er gern. Entsprechend schmal ist sein Oeuvre: Nur gut achtzig Kompositionen umfasst sein Werkverzeichnis, nicht mitgerechnet die vielen Partituren, die er vernichtet hat.

Im Jahr 1941 wird ein Musikreisender auf Forschungsmission auf Ginastera aufmerksam: Aaron Copland, von der Guggenheim Foundation losgeschickt, um die lateinamerikanische Musikszene zu erkunden und begabte Komponisten aufzuspüren. Copland, ein Wesensverwandter, wird zu einem Lehrer, Gesprächspartner, Freund. Er vermittelt ihm ein Stipendium. Und mit der Reise in die USA, 1945, beginnt für Ginastera ein neuer Lebensabschnitt.

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