
Man hat das Gefühl, Titus Engel kann alles. Trotzdem haben viele Klassikfreunde den gerade fünfzig Gewordenen immer noch nicht auf dem Radar. Immerhin übernimmt er 2026 erstmals einen Posten an einem der ganz großen Häuser: Er wird Conductor in Residence und teilt sich mit zwei Kollegen die musikalische Leitung der Deutschen Oper Berlin. Das lässt ihm weiterhin Platz für viele spannende Projekte. Geboren in Zürich, studierte Engel zunächst Philosophie und Musikwissenschaften (Master in Berlin) und dann erst in Dresden Dirigieren. Er beherrscht die ganze Bandbreite von Monteverdis „Orfeo“ (Theater an der Wien) über Wagner und Mahler, Lehár und Puccini bis hin zu zahlreichen Uraufführungen. Sein „Donnerstag aus Licht“ von Stockhausen wurde 2016 zur Opernaufführung des Jahres gewählt, er selbst 2020 von der Zeitschrift „Opernwelt“ zum Dirigenten des Jahres. Seit 2023 leitet er die Basel Sinfonietta, das weltweit einzige große Orchester, das sich ausschließlich der zeitgenössischen Musik widmet. Er engagiert sich in Education-Projekten, hat mehrere Bücher veröffentlicht und zahlreiche CDs aufgenommen. Frisch erschienen sind nun zwei Doppelalben mit der Bigband der Deutschen Oper Berlin: Charles Mingus’ „Epitaph“ und ein „A Celebration for the ,Duke‘“.
Herr Engel, dass ein klassischer Dirigent eine Jazz-Bigband im Konzert leitet, ist sehr ungewöhnlich. Wie ist es denn dazu gekommen?
Mein Hauptinstrument ist der Kontrabass. Ich habe zwar mit Geige angefangen, bin aber mit 13 zum Bass gewechselt und war dann in der Schulzeit in ganz verschiedenen Formationen unterwegs. Ich hatte ein Jazztrio und eine größere Jazzband, hab aber auch im Schulorchester gespielt und Barockmusik gemacht. Man war als Kontrabassist natürlich gefragt, weil es nicht so viele gab, die einigermaßen spielen konnten. Und parallel bin ich übers Musikhören vom klassischen zum Freejazz gekommen, und dann hat sich von da irgendwie eine Brücke zur Neuen Musik geschlagen, wo sich dieses ganz Abgefahrene von beiden Seiten trifft. Zum anderen hat fast jeder Musiker ein Konzerterlebnis, das ihn ganz besonders geprägt hat in der Jugendzeit, und meines war Charles Mingus’ „Epitaph“ in Zürich mit 16 oder 17. Das ist ja ein Stück für eine Bigband, die erweitert ist um klassische Instrumente. Ich fand es total cool und habe damals schon gedacht, das würde ich wahnsinnig gerne mal aufführen. Vor vielleicht 15 Jahren las ich per Zufall, dass es davon eine Partitur gibt, und hab mir die sofort gekauft. Mingus hat das Stück unter höchst schwierigen Umständen aufzuführen versucht. Er hatte es noch nicht ganz fertig, aber die Aufnahmesessions waren schon reserviert, es war ein Riesenchaos, und das Ergebnis war nicht das, was er sich vorgestellt hatte. Seine kompositorische Genialität war wohl größer als seine organisatorische und, denke ich, auch seine musikalische Leitungskraft. Gunther Schuller hat die Mappe mit Mingus’ Noten nach dessen Tod gefunden und das Stück zu Ende gebracht und auf einer Tournee vorgestellt, unter anderem in Berlin und in Zürich. Ich habe immer mal wieder darüber nachgedacht, wie man das Stück aufführen könnte, und wie das manchmal so ist, bekam ich eines Tages einen Anruf von Rüdiger Ruppert, der die Bigband der Deutschen Oper leitet. Ich hab ihm von der Idee erzählt, und so haben wir angefangen zu planen. Man braucht eine sehr große Bigband und außerdem einige Doublings, dass Musiker zum Beispiel sowohl Saxofon als auch Flöte und Oboe spielen, wie das in den USA üblich ist. Es waren deshalb nicht nur Musiker der Deutschen Oper dabei, sondern auch Studenten und Dozenten vom Jazz Institut Berlin. Und als Gast der Trompeter Randy Brecker. Und wegen des großen Erfolgs haben wir zwei Jahre später die Hommage an Duke Ellington gemacht.
Können denn die klassischen Musiker der Deutschen Oper Jazz?
Das sind Leute, die regelmäßig und aus Begeisterung Jazz spielen. Und es sind auch reine Jazzer in der Band, zum Beispiel die höchsten Trompeten, dafür braucht man eine ganz andere Technik als fürs Orchesterspiel. Aber die haben das ganz toll gemacht. Natürlich muss man mit den reinen Orchestermusikern erst mal wieder am Swing arbeiten. Gerade bei Ellington darf man die Notation nicht eins zu eins umsetzen wie in der Barockmusik, wo man inegal spielen muss, obwohl das so nicht in den Noten steht. In diese Welt muss man erst mal hineinkommen. Es gibt bei Mingus viele Stellen, wo frei improvisiert wird. Es gibt zum Beispiel ein Riesen-Fagottsolo, das hat der Solofagottist der Oper super gespielt. Es hängt immer an der Offenheit der Musiker.
Die Aufnahmen grooven richtig. Das ist ja nicht immer so, wenn Klassiker Jazz spielen.
Jazz ist schon eine eigene Kultur. Groove ist ja nicht nur eine technische Sache. Das hat viel mit Erfahrung zu tun, mit diesem Laufenlassen. Wobei ich finde, dass das Scherzo oder ein schneller Satz einer Beethoven-Sinfonie auch grooven muss. Da muss das Orchester von sich aus rhythmisch zusammenspielen und nicht nur mit dem Schlag des Dirigenten. Hinzu kommt, dass Jazzer extrem auf den Punkt spielen, die folgen dem Drummer und sind exakt auf dem Schlag drauf. Während klassische Musiker tendenziell eher laid-back sind, also wenn der Dirigent die Eins gibt, dann spielt das Orchester ein bisschen dahinter, weil sie sich erst sammeln und hören. Das ist je nach Orchester unterschiedlich, aber die Grundregel ist: Je berühmter ein Orchester, desto später spielt es. Oder je romantischer die Musik, desto später spielt es. Tendenziell spielen die Orchester in Deutschland und Österreich am spätesten. Aber wenn ich sie bitte, bei rhythmisch komplizierter Neuer Musik auf den Schlag zu spielen, können die das natürlich auch. Wenn man dann eine Kombination von Jazzern und klassischen Musikern hat, muss man das gut vermitteln.
Es macht auch einen Unterschied, dass klassische Musiker nur aus Noten spielen, oder?
Natürlich, im Jazz spielt die orale Tradition eine große Rolle. Wenn man etwas vorspielt und die klassischen Musiker den Rhythmus nach Gehör übernehmen lässt, funktioniert das meist am besten. Aber der fundamentalste Unterschied ist, dass die Klassiker nicht mehr lernen zu improvisieren. Das war mal anders, im 17. und 18. Jahrhundert gehörten Improvisieren und Komponieren zum Instrumentalunterricht dazu. Heute ist man entweder Komponist oder Instrumentalist. Und wenn man ein klassisches Instrument lernt, dann lernt man, die Noten möglichst perfekt abzuspielen.
Außerdem gibt es in der Klassik ein ganz bestimmtes Klangideal, während es im Jazz darum geht, seine eigene Stimme zu finden.
Wenn man unsere Aufnahme mit der Originalaufnahme von Mingus vergleicht, dann sind wir, was Präzision und Notentreue betrifft, sicherlich besser. Aber was die abgefahrenen Soli oder diese dreckigen Klänge, dieses Bratzige angeht, da hat das Original noch mal eine ganz andere Dimension. Insofern finde ich es toll, dass es jetzt diese beiden Aufnahmen gibt, die das Stück aus verschiedenen Perspektiven wiedergeben. Wir sind dem Komponisten vermutlich ziemlich nahe, aber die Musiker der Originalaufnahmen sind etwas freier. Deswegen wollten wir unbedingt mit Randy Brecker einen Solisten dabeihaben, der aus der Mingus-Ecke kommt und der uns diesen Geist vermitteln kann und als Solist eine Verbindung baut.