
Andreas Staier ist eine Institution im Bereich der Alten Musik, sein Spiel auf Cembalo und Hammerklavier hat Maßstäbe gesetzt. Dass er am 14. Juni die Bach-Medaille der Stadt Leipzig erhält, ist nur folgerichtig. Auf seinem neuen Album, erstmals beim Label Alpha, überrascht er nun mit einer eigenen Komposition, „Anklänge“. Die sechs Stücke für Cembalo sind rund eine halbe Stunde lang. Anlass, den gebürtigen Göttinger in seiner Wahlheimat Köln zu besuchen. Dass Staier, der auch schon Fellow des Wissenschaftskollegs zu Berlin war, breitgefächerte Interessen hat, merkt man beim Blick auf die Bücherstapel auf dem großen Tisch seines Wohnzimmers. Auf einem liegt obenauf „Der letzte Mohikaner“ von James Fenimore Cooper.
Herr Staier, im reiferen Alter fangen Sie plötzlich an zu dirigieren und zu komponieren. Ist Ihnen langweilig geworden am Cembalo?
Nein. Es hat sich so ergeben, dass mich manche Ensembles gefragt haben. Das waren kleinere Kammerorchester, wo man sich so an der Grenze bewegt: Dirigiert man manche Abschnitte besser oder kann man das alles vom Tasteninstrument aus leiten? Ich sehe mich nicht als Dirigenten, dafür bin ich nicht der Typ.
Und warum komponieren Sie jetzt?
Wenn man in Köln lebt, kann man einiges an zeitgenössischer Musik hören. Es hat mich immer interessiert, in Konzerte zu gehen, wo Dinge erklingen, die man nicht kennt, und wo man nicht weiß: Was wird in fünf Minuten sein? Werde ich ärgerlich sein, gelangweilt, total fasziniert? Das finde ich spannender, als mir bekannte Dauerbrenner des Repertoires nochmal anzuhören. Es hat mich nie interessiert, mir ein Werk mit diesem Orchester und Dirigenten anzuhören und dann zu vergleichen – diese Aufgabe überlasse ich gern Ihnen als Kritiker. Ich kann mir Beethovens Fünfte morgens in der Badewanne einmal durchsingen und hab genauso viel davon, wie wenn ich sie höre. Ich finde es schön, wenn man keinen einzigen Namen im Programm kennt. Man überfliegt kurz die Programminformation oder gerade nicht – und dann geht’s los und man wird mitgenommen auf die Reise. Dieses Interesse führte dazu, dass ich einige Komponisten und Komponistinnen näher kennengelernt habe, zum Beispiel Brice Pauset, der 2000 ein Stück für mich geschrieben hat. Wir sind in Kontakt geblieben, und aus den Gesprächen mit ihm und der Komponistin Isabel Mundry, einer guten Freundin, erwuchs die Idee, das auch mal auszuprobieren. Ich hab dann meist in den Sommerferien, wenn ich mal aus allem raus war, ein paar Notizen gemacht. Aber kaum waren die Ferien zu Ende, wurde das zugeschüttet von den andern Aktivitäten. Dadurch ging es jedes Jahr von vorne los. In den Lockdowns hab ich mir diese ganzen Zettel mal angeguckt. Die frühesten Aufzeichnungen sind bestimmt zehn Jahre alt gewesen und mir selbst schon fast wieder unbekannt. Dann hab ich versucht, das fertigzustellen. Lange Zeit war mir nicht klar: Wird das überhaupt
fertig? Und wird das so blöd, dass es nur peinlich ist? Es gab ein paar Gespräche, vor allem mit Isabel, die ich auch gefragt habe: Soll ich das jemandem vorsetzen? Und sie sagte: Unbedingt! So kam das. Über Brice Pauset konnte ich die Stücke netterweise bei einem Verlag in Paris unterbringen – was einen bauchpinselt. Denn ich glaube nicht, dass sich neue Cembalostücke zu Tausenden verkaufen werden.
Im Booklet schreiben Sie, „Anklänge“ sei Ihre Antwort auf die Frage, was es bedeutet, in der heutigen Zeit zu komponieren.
Ja.
Wenn diese sechs Stücke die Antwort darauf sind, dann, muss ich gestehen, verstehe ich sie nicht so ganz. Können Sie die Antwort auch verbalisieren?
Eigentlich möchte ich das nicht. Das ist ja auch eine Ortsbestimmung von mir persönlich. Ich hab eine Geschichte, ich beschäftige mich mit dem Cembalo seit vielen Jahren. Es sollte aber nicht neobarock oder neoklassizistisch klingen. Das ist für mich auch nicht die interessante Phase im Schaffen von Igor Strawinsky – ich hatte immer das Gefühl, da geht’s letzten Endes nicht weiter. Wie organisiere ich ein Stück? Wie stehe ich zur Tonalität? Wie ist der Tonvorrat, wenn es nicht tonal ist – das sind ja die Fragen, die im 20. Jahrhundert immer wieder eine Rolle spielen. Wo ist der Anhalt, wie gelingt eine Art von Struktur, die es ermöglicht, längere musikalische Abläufe mit einer bestimmten Entwicklung zu gestalten. Und ob mir das gelungen ist… Wenn Sie sagen, Sie verstehen es nicht so richtig, da sind Sie nicht der einzige. Man erhält die unterschiedlichsten Reaktionen. Ich hab die Stücke ein Jahr nach der Uraufführung, das war im Januar 2023 in der Kölner Philharmonie, jetzt wieder gespielt auf einem kleinen Konzert hier in Oberwinter und war neugierig zu sehen: Finde ich sie, mit diesem Abstand, immer noch gut? Gefallen Sie mir weniger? Und eigentlich gefallen sie mir nicht weniger. Ob sie mir jemals richtig gut gefallen haben, das ist eine andere Frage, die ich hier nicht beantworten möchte.