FONO FORUM Gesperrter Artikel Icon
Porträt
Der Architekt der Klänge
Iannis Xenakis bewegte sich zwischen Musik und Baukunst
Von
Martin Demmler
Foto: The Friends of Xenakis

Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“, erklärte der Wiener Musikpublizist Eduard Hanslick Mitte des 19. Jahrhunderts. Und brachte damit, vielleicht ohne es zu wollen, die Parallelen von Musik und Architektur auf den Punkt. Bei Iannis Xenakis waren Vorstellungen von Baukunst und Musik von Beginn an untrennbar miteinander verbunden. Kein anderer Komponist im 20. Jahrhundert hat sich so intensiv und so erfolgreich auf beiden Feldern betätigt. Und obwohl er sich letztlich für die Musik entschied, dachte der Komponist Xenakis immer auch als Architekt, war der Raum, auch der Klangraum, in seinem musikalischen Denken eine entscheidende Kategorie.

An eine Ausbildung als Komponist hatte der Sohn griechischer Eltern zunächst gar nicht gedacht. 1922 im rumänischen Braila geboren, absolvierte er in Athen ein Studium der Ingenieurswissenschaften und kämpfte während des Zweiten Weltkriegs im Widerstand gegen deutsche und italienische Besatzer. Im Dezember 1944 wurde er lebensgefährlich verletzt, als im Häuserkampf in seiner unmittelbaren Nähe eine Granate explodierte. Ihm wurde das halbe Gesicht weggerissen, der Kiefer später notdürftig zusammengeflickt. Xenakis verlor ein Auge, sein Gehör blieb auf Dauer geschädigt. Diese schwere Verwundung hatte Konsequenzen, weit über das Körperliche hinaus: „Meiner geschwächten Sinne wegen kann ich die mich umgebende Welt nicht unmittelbar erfassen. Ich glaube, aus diesem Grund hat sich mein Kopf mehr und mehr dem abstrakten Denken zugewandt. Ich habe lernen müssen, den Abstand zu den Gegenständen indirekt, durch Überlegungen, einzuschätzen. Bei jedem Schritt. Und dadurch habe ich mir angewöhnt, auch in anderen Bereichen zu abstrahieren.“

Wegen seiner Teilnahme am Bürgerkrieg in Abwesenheit von einem Militärgericht zum Tode verurteilt, floh Xenakis 1947 mit gefälschten Papieren nach Paris und machte sich dort mit seinen kühnen Konstruktionsplänen bald einen Namen. Der französische Stararchitekt Le Corbusier wurde auf ihn aufmerksam und stellte ihn als Assistenten ein. Trotz zahlreicher Konflikte mit seinem eitlen, persönlich schwierigen Arbeitgeber konnte Xenakis im Laufe der Jahre zunehmend eigenständig arbeiten und wurde an prominenten Projekten Le Corbusiers beteiligt: an der Planung des Kapitols für die indische Provinzhauptstadt Chandigarh, an einem Stadion in Bagdad und am Dominikanerkloster Sainte-Marie de La Tourette westlich von Lyon. Daneben beschäftigte er sich intensiv mit Musik. Zu seinen Lehrern an der École Normale de Musique und dem Pariser Conservatoire gehörten Arthur Honegger, Darius Milhaud und Olivier Messiaen.

Mitte der 1950er Jahre konnte Xenakis dann auf beiden Gebieten erste Erfolge vermelden. Für die Weltausstellung in Brüssel 1958 entwarf er den Philips-Pavillon, einen der wichtigsten architektonischen Leuchttürme der Epoche. Gleichzeitig begann er seine kompositorische Karriere mit einem Überraschungscoup: Als im Oktober 1955 sein erstes Orchesterwerk „Metastaseis“ bei den Donaueschinger Musiktagen seine Uraufführung erlebte, war das für das versammelte Fachpublikum geradezu ein Schock. Mitten in der Hochzeit der seriellen Musik schlug dieses energiegeladene, klanglich massive Opus wie eine Bombe ein. Xenakis hatte mit seinem Erstlingswerk einen ganz neuen Begriff von melodischer Linie eingeführt, indem er Glissandi in den solistisch unterteilten Streichern auffächerte und so ein kontinuierliches Klangspektrum schuf. Das Ergebnis waren Klangräume und -felder von variabler Dichte. Die Begeisterung des Publikums betraf allerdings weniger die theoretischen Voraussetzungen dieser Partitur als vielmehr ihre direkte, sinnliche Sprache, die ungeheure Expressivität, die dieses kurze Orchesterstück vermittelte.

Wie eng die Vorstellungen zwischen Musik und Baukunst bei Xenakis miteinander verknüpft waren, ahnte damals in Donaueschingen wohl niemand. Der Komponist betonte jedoch immer wieder, wie eng sich sein musikalisches Denken an mathematischen und architektonischen Modellen anlehnte: „Die Lösungen, die ich für meine architektonischen Probleme fand, waren von meinen musikalischen Forschungen beeinflusst; zum Beispiel war ‚Metastaseis‘, ein reines Musikwerk, richtungsweisend für gewisse Schritte in der Architektur. So habe ich auch 1956 den Philips-Pavillon für die Weltausstellung in Brüssel entwerfen können. Ich habe ihn nach den Hauptideen der Musik zu ,Metastaseis‘ erbaut.“ Der ursprüngliche grafische Entwurf basierte auf einer geometrischen Konstruktion, nach der Xenakis eine Gerade seitlich entlang gekrümmter Bahnen im Raum verschob. Eine so enge Verzahnung zwischen den Künsten hatte es bislang nicht gegeben.

Architektonische Kategorien in der Musik, musikalische Kategorien in der Architektur – bei Xenakis fließt beides ineinander. Für die Fensterfronten des Klosters La Tourette bei Lyon entwarf er wellenförmige Glaswände, die selbst nicht gekrümmt sind, sondern die Wellenbewegung als optischen Effekt entstehen lassen: ein genuin rhythmischer Aspekt, mit dem er auch in manchen seiner Stücke experimentierte. In den Jahren nach seiner gemeinsamen Arbeit mit Le Corbusier schuf Xenakis Modelle für weitere Gebäude, die Licht, Klang und Raum integrieren sollten, aber nie realisiert wurden. Bei der Einweihung des Centre Pompidou 1978 in Paris präsentierte er ein multimediales Werk, den sogenannten „Diatope“. Es handelte sich um eine zeltartige Konstruktion mit gekrümmten Flächen, die von einer roten, lichtdurchlässigen Polyestermembran überzogen war. Der „Diatope“ umfasste Musik, Licht, Architektur und war ausgestattet mit philosophischen Texten. Die Konstruktion ging alllerdings nicht, wie geplant, auf Welttournee: Nach sechs Monaten in Paris war der „Diatope“ nur noch ein halbes Jahr lang vor dem Hauptbahnhof in Bonn zu sehen, bevor er verschrottet wurde.  

Dass Xenakis sich später fast nur noch mit Musik beschäftigte, hatte auch damit zu tun, dass er als Architekt nicht die Anerkennung fand, die er verdient zu haben glaubte. 1958 führte ein Streit über seinen zunächst verschwiegenen Anteil am Philips-Pavillon zum Zerwürfnis mit seinem Chef Le Corbusier. „Für diesen Pavillon hat Varèse die Musik geschrieben, Le Corbusier erregte Aufsehen damit – und von mir stammten sämtliche Pläne“, schrieb er verärgert.

Immer wieder betonte Xenakis, Künstler müssten sich in den unterschiedlichsten Disziplinen auskennen und verschiedene Ansätze und Theorien für ihre Produktion nutzen: „Künstler sollten universell sein. Das betrifft nicht nur die Musiker, sondern alle Künstler. Und diese Forderung entspringt keineswegs einer mehr oder weniger romantischen Attitüde, sondern wirklicher Notwendigkeit.

Künstler haben zu tun mit Strukturen und Formen. Formen und Strukturen aber sind überall zu finden, in der Biologie, in der Paläontologie, in der Astrophysik und der Nuklearphysik. Sie liefern hervorragende Modelle, nicht um imitiert zu werden. Wohl aber, um anzuregen und eine Erschütterung hervorzurufen.“ Stets war er auf der Suche nach umfassenden und immer gültigen Gesetzmäßigkeiten, die losgelöst von traditionellen Tonsystemen auch für die Musik bestimmend sein sollten.

Obwohl Xenakis seine Karriere als Architekt später nicht weiter verfolgte, war doch der räumliche Aspekt der Musik eine Konstante in seinem Denken. Xenakis realisierte eine Art Dreidimensionalität des Klangs, indem er ihn in Bögen, Kreisen oder Geraden den Raum durchziehen ließ. Dazu experimentierte er auch mit unterschiedlichen Orchesteraufstellungen. In „Terretektorh“ für großes Orchester mit 88 Musikern aus den Jahren 1965/66 sitzen die Instrumentalisten nicht mehr auf der Bühne, sondern im Saal zwischen den Zuhörern verteilt. Mit dieser Aufstellung konnte Xenakis Klänge durch den gesamten Aufführungsraum wandern lassen, wie zum Beispiel am Beginn des Stückes, wo ein einzelner Ton der außen sitzenden Streicher mehrfach durch den Saal kreist und dabei ständig seine Geschwindigkeit ändert.

Eine Zeitlang beschäftigte sich Xenakis intensiv mit elektronischer Musik, gründete in Paris sogar ein eigenes Studio, wo er mithilfe eines Computerprogramms Zeichnungen und architektonische Skizzen musikalisch umsetzen konnte. Doch auf Dauer befriedigte ihn diese Arbeit nicht. „Die Vielfalt des Orchesterklangs ist viel größer, die Parameter sind im Zusammenhang viel leichter zu handhaben und niederzuschreiben. Ich konnte meine Ideen und Experimente viel besser am Orchester als in einem elektronischen Studio kontrollieren“, so Xenakis.

Ob Wahrscheinlichkeitsrechnung oder Spieltheorie, architektonische Modelle oder naturwissenschaftliche Phänomene wie die Symmetriestruktur von Kristallen – der Komponist selbst sprach von einer „stochastischen Musik“ ‒ der Eindruck des klingenden Werks scheint bei Xenakis von all diesen Modellen erstaunlich unberührt. Stets wirkt die Musik spontan und direkt. Klangmassen, -flächen und -wolken bestimmen seine Partituren, irisiernde Glissandi, hämmernde Rhythmen und mikrotonal aufgefächerte Klangballungen, oft sehr geräuschhaft, wurden schon früh zu seinem Markenzeichen. Immer ging es Xenakis dabei um „die allmählichen oder explosionsartigen Übergänge von perfekter Ordnung in völliges Chaos“.

Letztlich gilt für den kühnen architektonischen Entwurf des Philips-Pavillons, was Iannis Xenakis auch mit seinen musikalischen Arbeiten anstrebte: „Der Hörer muss gepackt und, ob er will oder nicht, in die Flugbahnen der Klänge hineingezogen werden, ohne dass er dafür eine spezielle Ausbildung bräuchte. Der sinnliche Schock muss ebenso eindringlich werden wie beim Anhören des Donners oder beim Blick in bodenlosen Abgrund.“

Lesen Sie den gesamten Beitrag im E-Paper oder der aktuellen Printausgabe.