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Johann Strauss
Der deutsche Johann Strauss
Mit einer CD erinnert die Cappella Musica Dresden an eine oft übersehene enge Beziehung
Von
Arnt Cobbers
Robert Kusnyer

Es ist schon kurios: Johann Strauss (Sohn), dieser Ur-Wiener schlechthin, starb am 3. Juni 1899 zwar in Wien, aber nicht als Österreicher, sondern als Bürger des Herzogtums Sachsen-Coburg und Gotha – und damit als Deutscher! (Wobei nicht unterschlagen werden sollte, dass er auch, wie alle Österreicher, Preußen oder Württemberger, als Bürger eines Staates im Deutschen Bund und damit als Deutscher geboren wurde, und zwar, wenn man das so historisch unkorrekt formulieren will, in der Hauptstadt des damaligen Deutschlands, in Wien.)

Der Grund für seinen Staatenwechsel war rein privater Natur. 1877 hatte sich Strauss nur sieben Wochen nach dem Tod seiner ersten Frau mit einer 25 Jahre Jüngeren verheiratet (einer Schauspielerin aus Breslau, die Flitterwochen verbrachten die beiden in Wyk auf Föhr!). Eine wirklich gute Idee war das wohl nicht, denn schon fünf Jahre später zog Lili Strauss wieder aus – sie hatte sich dummerweise in den Direktor des für Strauss so wichtigen Theaters an der Wien verliebt. Man ging zwar friedlich getrennte Wege, doch Scheidungen gab es in Österreich nicht. Und das wurde in dem Moment zum Problem, als eine neue Frau in Strauss’ Leben trat, die „glutäugige“, fast dreißig Jahre jüngere und nicht verwandte Wienerin Adele Strauss. Die ebenfalls scheidungswillige Lili vermittelte den Kontakt zu einem Coburger Rechtsanwalt, und nachdem Strauss zugesichert worden war, dass er den Titel „k. k. Hofball-Musikdirektor“ behalten dürfe, gaben der Sechzigjährige und seine neue Flamme („mein Engel, mein alles, mein Ich“) ihre österreichische Staatsbürgerschaft auf, wechselten aus der katholischen in die evangelische Kirche und wurden ein Jahr später, 1886, Coburger Bürger. Im Juli 1887 wurde Strauss’ zweite Ehe getrennt, und im August läuteten für Johann Strauss, nun in der Coburger Schlosskapelle, erneut die Hochzeitsglocken.

Zwar reiste das frischverheiratete Paar am nächsten Tage wieder nach Wien ab, dennoch ist man in Coburg bis heute stolz auf den berühmten Mitbürger. Und so feierte die „Deutsche Johann Strauss Gesellschaft“ ihren fünfzigsten Geburtstag und vorweggenommen den zweihundertsten Geburtstag ihres Namenspatrons denn auch in Coburg. Für die Musik der Festveranstaltungen hatte man nun aber kein Ensemble aus Wien eingeladen, sondern: die Cappella Musica Dresden! Dass die fünf Musiker, zwei Geigen, Bratsche, Cello und Kontrabass, wissen, wie man Strauss spielt, beweist nicht zuletzt die CD, die die fünf Anfang des Jahres aufgenommen haben und die den überraschend vielfältigen Verbindungen von Johann Strauss zu Deutschland nachgeht.

Bevor es aber um das Programm gehen soll, stellt sich die Frage, wie man als Dresdner Quintett auf die Idee kommt, Wiener Walzer und Polkas, Galopps und Märsche zu spielen. „Mit Strauss beschäftigen wir uns schon ganz lange“, sagt Helmut Branny, der Leiter des Ensembles, und legt auf den Tisch des Cafés gleich neben dem Dresdner Zwinger eine CD des Labels „DS – Deutsche Schallplatten“. „Die guten alten Zeiten“ heißt sie und im Untertitel „Walzer- und Polka­raritäten von Strauß und Lanner“, das Cover zeigt eine alte Lithografie des Palais im Großen Garten mitten in Dresden. „Das war ganz lange eine Kriegsruine“, erzählt nun Susanne Branny, die erste Geigerin des Quintetts. „Eines Tages durften wir mit der damaligen Chefin der Staatlichen Schlösser und Gärten reingehen und auch oben in den Festsaal, der in einem ganz schlimmen Zustand war. Früher hatten dort Konzerte stattgefunden, Beethovens Violinkonzert war dort aufgeführt worden, Wagner hatte dort dirigiert, und man konnte ahnen, dass der Saal mal eine sehr gute Akustik hatte. Nun sollte das Palais endlich saniert und für das Archäologische Museum umgebaut werden, in den Saal sollte eine Zwischendecke eingezogen werden.“ – „Ich kenne den Mann, von dem auch der Wiederaufbau der Frauenkirche ausging, Dr. Voigt“, übernimmt nun wieder Helmut Branny. „Und der sagte: Ihr müsst unbedingt was tun, damit der Saal nicht zerstört wird. Und da haben wir zu viert, in großer Kälte im November 1999, diese CD aufgenommen, zwei Geigen, Bratsche, Bass, die Wiener Originalbesetzung, und dann schnell auf den Markt gebracht. Ministerpräsident Biedenkopf hat eine CD bekommen, unser damaliger Chefdirigent Sinopoli hat sich sehr engagiert, und schließlich haben wir es geschafft, dass das Palais und der Festsaal wieder bespielbar gemacht worden sind. So sind wir zu Strauss und den Walzern gekommen.“

Warum ein Walzerprogramm?, frage ich. „Na, weil es ein Ballsaal war!“, antwortet Helmut Branny. „Aber was uns sofort gepackt hat und bis heute interessiert“, übernimmt wieder seine Frau, „ist der Reichtum der Melodien, sind die vielen fantasievollen Ideen, die in den Stücken stecken und die man interpretieren kann. Nicht, dass man dazu getanzt hat.“ – „Und dann haben wir diese Walzer auch in unseren Konzerten gespielt“, sagt Helmut Branny. „Meist gekoppelt mit Mozart, mit seinen kleinen Sinfonien. Das hat dem Publikum immer sehr gut gefallen. Gehobene Unterhaltung.“ Und so hat sich die Cappella Musica in den letzten zwanzig Jahren ein stattliches Repertoire an Strauss-Stücken erarbeitet, oft in Arrangements ihres inzwischen ehemaligen zweiten Geigers Jörg Kettmann.

Aber muss man, um Strauss’ Walzer gut zu spielen, nicht etwas Wienerisches im Blut haben? „Dresden und Wien haben einiges gemeinsam“, meint Helmut Branny. „Wir haben damals diese erste CD einem Musiker des Concentus Musicus gegeben, und der war sehr angetan von unserem ‚Wiener‘ Spiel.“ – „Die Staatskapelle ist ja ein Orchester, das gesanglich und weich spielt“, meint Susanne Branny. „Dieses Gemütvolle, vielleicht auch etwas Schlampige, das verbindet uns schon mit den Wienern, denke ich. Aber natürlich haben wir uns viel mit der Stilistik beschäftigt.“

Dass auch Eduard Strauss, der Ur-Großneffe von Johann Strauss (Sohn) und passionierte Strauss-Forscher, sehr angetan war von den Konzerten in Coburg, macht die Brannys natürlich glücklich. Und ebenso, dass er ihnen attestierte, man könne diese eigentlich orchestrale Musik durchaus auf ein Strichquintett reduzieren. „Natürlich fehlt manchmal eine Flöte oder eine Klarinette als Klangfarbe“, gibt Helmut Branny zu, „aber die Harmonien sind da.“

Nachdem wir nun Tee und passend dreimal Donauwelle bestellt haben, möchte ich auf die Cappella Musica zu sprechen kommen. Denn Susanne und Helmut Branny, Mechthild von Ryssel, Stephan Pätzold und Simon Kalbhenn sind keine professionellen Unterhaltungsmusiker, sondern im Hauptberuf Mitglieder der Sächsischen Staatskapelle Dresden (wobei Helmut Branny nach 45 Jahren das Orchester inzwischen altersbedingt verlassen hat). Zugleich sind sie auch Mitglieder der Dresdner Kapellsolisten. Vier Stunden Proben haben die Brannys gerade hinter sich, in drei Tagen gehen sie mit dem Kammerorchester auf Tournee nach China.

„Auch da spielen wir einen Walzer, dann in großer Besetzung, aber ohne Bläser. Aber das ist heikel“, sagt Helmut Branny, der das Kammerorchester 1994 mitbegründet hat und seit Langem leitet und dirigiert. „Strauss in großer Besetzung ist sehr schwer, wenn man es gut machen will. Selbst die Wiener Philharmoniker proben sehr viel fürs Silvesterkonzert. All diese Übergänge … Vermutlich wurde das ja ursprünglich viel freier gespielt im Tempo und auch langsamer. Sowas wie die Pizzicato-Polka – das muss man proben, und dann muss das ein großes Orchester selbst übernehmen, das ist eigentlich nicht dirigierbar.“ Was zur Frage führt, ob Strauss’ Musik denn nicht ursprünglich Tanzmusik war. „Es war vermutlich beides“, meint Helmut Branny. „Vielleicht hat man es erst mit den Verzögerungen zum Anhören gespielt und dann in den Wiederholungen zum Tanzen. Aber wir spielen es als Kunstmusik.“

Nun aber zu den Kapellsolisten, die sich aus ganz anderen Gründen 1994 zusammenfanden. Als Student habe er Bach kaum ertragen können, erzählt Helmut Branny, dieses „maschinenmäßige Spiel! Ich habe immer gedacht, das muss anders gemacht werden. Dann habe ich Harnoncourt gehört und war zunächst erschrocken, aber es hat mich doch fasziniert. Und dann kam er selbst nach Dresden, 1984 war das, wir haben mit den Dresdner Barocksolisten die h-Moll-Suite gearbeitet, das war faszinierend. Ich hab mir anschließend alle Bücher zur Alten Musik gekauft, die ich bekommen konnte, und mich da reingearbeitet. Und es ist klar: Wenn man mit dem großen Orchester so oft Brahms und Mahler oder in unserem Fall Richard Strauss spielt und zwischendurch kommt eine Mozart-Sinfonie, dann wurde die so durchgespielt – das kann man ja mit links“.

Schließlich fanden sich einige Musiker der Staatskapelle (und einige wenige von der Philharmonie und der Hochschule) zusammen, um „diese tolle Musik einfach mal richtig zu arbeiten“. Sie fingen mit Haydn an, probten und probten und ließen sich dabei leiten von Harnoncourts Diktum, man müsse jedes Stück spielen, als sei es das erste Mal. „Das machen wir heute noch. Selbst die ‚Kleine Nachtmusik‘ proben wir immer wieder neu. Ansonsten rutscht das ganz schnell in so eine furchtbare Routine ab.“ Eines Tages stellte sich Branny vors Orchester und begann zu dirigieren, „weil die Besetzung zu groß wurde. Eigentlich wollte ich das gar nicht“. Und Susanne Branny übernahm nach einigen Jahren, als noch sehr junge Geigerin, die Konzertmeisterposition.

Helmut Branny gehörte auch zu den Mitbegründern des Dresdner Barockorchesters 1991 und spielte oft mit der Akademie für Alte Musik Berlin und dem Freiburger Barockorchester, und Susanne Branny hat als Solistin die „Vier Jahreszeiten“ auch schon auf der Barockgeige gespielt. „Aber für alles bleibt dann doch zu wenig Zeit“, sagt sie. „Wir waren durch unseren Orchesterdienst sehr eingebunden, andere haben sich auf die Alte Musik konzentriert. So lief das auseinander.“ Wobei die Kapellsolisten bei aller Begeisterung für Barock und Klassik, die sie aber eben auf „modernen“ Instrumenten umsetzen, auch Werke des 19. und 20. Jahrhunderts aufführen – bis hin immer mal wieder zu Uraufführungen.

1995 kam zudem für die beiden ein weiteres Projekt hinzu: das Streichquintett, Cappella Musica Dresden genannt. „Früher haben noch viel mehr Musiker aus dem Orchester Kammermusik gemacht“, erzählt Susanne Branny. „Auch weil man die Spielkultur den jungen Musikern weitergeben wollte. Je mehr Kammermusik die Musiker innerhalb eines Orchesters machen, desto besser wird das Orchester. Wir hatten immer wieder Anfragen und haben dann ein festes Ensemble gebildet.“

Nach so vielen Jahren mit Johann Strauss lag es nahe, zum Jubiläumsjahr eine neue CD aufzunehmen. Dass es dann aber kein „Dresdner“, sondern ein „gesamtdeutsches“ Programm wurde, dazu kam der Anstoß von unerwarteter Seite: vom ehemaligen Dresdner Oberbürgermeister Ingolf Roßberg, einem studierten Verkehrsingenieur und leidenschaftlichen Strauss-Liebhaber. „Er hat ein unfassbares Wissen über Strauss, er kennt jedes Stück und alle Zusammenhänge, das ist unglaublich“, sagt Helmut Branny. Roßberg ist zugleich Vorsitzender der Deutschen Johann Strauss Gesellschaft, und mit deren Unterstützung kam es dann zu diesem überraschenden Programm – und seiner gelungenen Umsetzung.

Schon Strauss (Vater) hatte eine triumphale Tournee 1834 nach Berlin und Dresden geführt, Strauss (Enkel) dirigierte zu Weihnachten 1938 sein letztes Konzert überhaupt in Dresden, bei den Philharmonikern, und Strauss (Sohn) nannte seinen ersten Aufenthalt in Dresden 1852 „die schönste Zeit meines Lebens“. Für eine fröhliche Dresdner Kneipengesellschaft aus zehn Personen schrieb er die „Zehner-Polka“, für den sächsischen Kronprinzen wenig später den „Vermählungstoaste-Walzer“, und schon vor seiner Coburger Heiratsreise komponierte er eine Polka und einen Walzer für den dortigen Herzog Ernst II. (der selbst komponierte und mit einem Marsch im Programm vertreten ist). Strauss’ berühmte Operette „Eine Nacht in Venedig“ erblickte 1883 in Berlin das Licht der Welt, weil das Theater an der Wien als Uraufführungsstätte ausfiel: Mit dessen Direktor verband Strauss’ Noch-Frau ja gerade eine heiße Affäre. In seiner Coburger Zeit arbeitete Strauss an seiner Operette „Simplicius“, für Hamburg schrieb er die „Neue Pizzicato Polka“, und 1895 erlebte in Wien die Operette „Waldmeister“ ihre Uraufführung. Die hat das Münchner Gärtnerplatztheater in seiner neuen Inzenierung zwar gerade nach Wien verfrachtet, doch eigentlich spielt sie „in einer sächsischen Provinzstadt“. Welche das ist, wird klar, wenn man die Personenliste betrachtet: Eine „Sängerin der Dresdener Oper“, ein „Professor der Botanik“, ein „Direktor der Forstakademie“ und diverse „Forsteleven“ können eigentlich nur am Ort der berühmten Forstakademie zusammenkommen, in Tharandt ganz in der Nähe von Dresden. Und – Zufall oder nicht — der letzte Walzer, den der „österreichisch-deutsche Komponist“ Johann Strauss (Sohn) zu Lebzeiten veröffentlichte, entstand im Auftrag eines Dresdner Musikverlags und trägt den Titel „An der Elbe“.

So kommt unter dem Leitgedanken „Johann Strauss und Deutschland“ doch ein erstaunliches, eine ganze CD füllendes Programm zusammen – der Cappella Musica Dresden sei Dank.

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