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Porträt
Der Klang-Architekt
Der Chordirigent Florian Helgath beweist in seinen Vokalensembles, dass höchste künstlerische Exzellenz und eine familiäre Arbeitsatmosphäre kein Widerspruch sein müssen
Von
Stefan Pieper
Christian Palm

August 2023. In der Maschinenhalle der Dortmunder Zeche Zollern schwebt ein Klang durch die Luft, der einem den Atem raubt. Die Stimmen des Chorwerks Ruhr verwandeln die „Industriekathedrale“ in einen Raum spiritueller Tiefe. Am Pult steht der langjährige Leiter und vielfach ausgezeichnete Chordirigent Florian Helgath und dirigiert Sergej Rachmaninows „Ganznächtliche Vigil“, einen selten aufgeführten A-cappella-Zyklus orthodoxer Kirchenmusik. Inzwischen ist der Mitschnitt von der Ruhrtriennale auf CD erschienen, beim Label Coviello unter dem Titel „Abendlob und Morgenglanz“. Für Florian Helgath war die Erfahrung der drei Aufführungen „intensiv und erfüllend, weil wir gemeinsam einen Raum geschaffen haben, in dem sich die spirituelle Dimension dieser Musik entfalten konnte“.

Genau darum geht es Helgath, der als künstlerischer Leiter Chorwerk Ruhr und die Zürcher Sing-Akademie zu Spitzenchören geformt hat und sowohl in der A-cappella-Musik als auch im chorsinfonischen Bereich zu Hause ist. Von 2009 bis 2015 war er Chefdirigent des Dänischen Rundfunkchors in Kopenhagen, von 2008 bis 2016 des Via Nova Chors München; für seine Aufnahmen (für ECM, dhm/Sony, BR Klassik, aber überwiegend fürs kleine, aber feine Darmstädter Label Coviello Classics) hat er diverse Preise bis hin zu einem ICMA Award, einem Echo und einem Grammy erhalten. Doch noch immer oder derzeit wieder gilt Florian Helgath als Shootingstar der Chorszene. Allüren aber sind ihm fremd: „Ich kann nicht die Welt verändern“, sagt er im Zoom-Interview auf die Frage, was ihn antreibt. „Aber wenn die Leute nach einem Konzert glücklich sind, dann hab ich mein Ziel erreicht.“

Ein solcher Anspruch schließt höchste künstlerische Ambition nicht aus. Vor allem geht es ihm darum, Brücken zwischen Tradition und Moderne zu bauen, zwischen Menschen und Musik, zwischen Herz und Verstand. Idealerweise immer im Dialog mit außergewöhnlichen Orten, die oft wie ein Teil der Inszenierung wirken. All das spiegelt sich auch im spezifischen Klang von Chorwerk Ruhr mit seiner bestechenden Mischung aus transparenter Präzision und tief berührender Emotion wider.

Florian Helgaths Erfolgsgeschichte begann bei den Domspatzen in seiner Geburtsstadt Regensburg. „Ich habe quasi im Kindesalter schon Maßstäbe für musikalische Qualität vermittelt bekommen“, sagt er. Natürlich gehe es heute um Perfektion und höchsten künstlerischen Standard. Doch Musik werde erst jenseits dessen zu dem, was sie seit Menschengedenken ausmacht: emotionale Tiefe und die Verbindung zwischen Menschen abzubilden und zu erzeugen.

Das Chorwerk Ruhr entstand im Jahr 1999 zeitgleich mit der Gründung der Ruhrtriennale, erster Chefdirigent war Frieder Bernius. Nach einer Zeit mit wechselnden Dirigenten hat Helgath den Chor endgültig als eines der innovativsten Vokalensembles Europas profiliert. Seine Bilanz der vergangenen 13 Jahre fällt erfrischend unaufgeregt und uneitel aus: „Man fängt an und merkt, da entsteht etwas Schönes, und es funktioniert.“ Ganz wichtig ist dabei das familiäre Miteinander zwischen den Chormitgliedern.

Beweglich bleiben, das gehört hier zur DNA. Bei der Ruhrtriennale wechselt alle drei Jahre die künstlerische Leitung, was die Programmgestaltung jedes Mal in andere Richtungen bringt – für Florian Helgath ein kreativer Ansporn: „An den Triennale-Produktionen sitze ich in der Regel am längsten. Aber ich liebe die Herausforderung, mich auf etwas, das von außen kommt, produktiv einzulassen.“ Genug Freiraum für Unabhängiges bleibt dennoch: „Mittlerweile ist es so, dass wir von unseren zehn bis zwölf Projekten im Jahr zwei für die Triennale machen.“

Bei der Zürcher Sing-Akademie, die Florian Helgath seit 2018 ebenfalls leitet, liegt ein stärkerer Akzent auf der Chorsymphonik. Ihre jüngste Aufnahme widmet sich eher unbekannten Werken von Frank Martin. „Das ist so eine Tabula rasa, die einfach da ist. Dann muss man seine Haltung dazu finden“, erklärt er, warum jedes Projekt immer wieder eine spezifische Herangehensweise neu definiert.

Die Erarbeitung des jüngsten Rachmaninow-Zyklus forderte – unter anderem – eine umfassende Sensibilisierung für die Artikulation im Stil des orthodoxen Kirchengesangs, aber solche Neuerkundungen reizen Helgath sehr. Als Basis für einen kreativen Alltag, der keinen Stillstand kennt, nennt er seine Offenheit für viele Musikstile. „Ich war zeitweise regelmäßig beim SWR-Vokalensemble und habe in Donaueschingen und beim Eclat-Festival Stuttgart viele wilde Uraufführungen dirigiert. Ich würde schon sagen, dass ich mit allen Wassern gewaschen bin und vor nichts Angst habe.“

Ein spannendes Projekt war auch die Triennale-Produktion „The Sound of Silence“ im Salzlager der Zeche Zollverein, wo das Chorwerk Ruhr gemeinsam mit der Band des Pianisten Marc Schmoelling und dem Jazztrompeter Tom Arthurs einen grenzensprengenden Klangraum erschuf: Zeitgenössischer Jazz traf hier auf frühbarocke Musik von Monteverdi und Gesualdo. Einen anderen lang gehegten Traum erfüllte sich Florian Helgath, als er bei der Triennale drei Psalmvertonungen der viel zu früh verstorbenen Lili Boulanger auf die Bühne bringen konnte: „Sie hat in ihrem kurzen Leben Musik von tiefer Spiritualität und Hoffnung geschaffen.“

Trotz seines gut gefüllten Terminkalenders ist Florian Helgath ein Lehrender aus Leidenschaft geblieben. Nach einer Professur in Köln hat er seit diesem Jahr eine Professur an der Münchener Hochschule für das Fach Chorleitung. Er genießt es, seine Erfahrungen und Erkenntnisse an die nächste Generation weiterzugeben: „Unterrichten macht mir riesigen Spaß. Vor allem lerne ich selber dabei so viel.“ Und er bekundet, was ihm die menschliche Verbindung zwischen Chorleiter und Singenden gerade im Unterricht wieder neu vor Augen führt: „Der Chor ist gewissermaßen immer ein Spiegel von einem selbst.“

Ob er nun orthodoxe liturgische Musik in einer ehemaligen Zeche erklingen lässt, Renaissancemusik in modernen Kontexten neu erfahrbar macht oder viele junge Menschen, die für die Kultur brennen, unter seiner Leitung vereint, damit Großartiges entsteht – Neugier bleibt Florian Helgaths ständige Energiequelle. Oder wie es sein Sohn formulieren würde: „Man muss on fire bleiben. Das trifft es. Für mich und für alle, mit denen ich zusammenarbeiten darf.“ Von Florian Helgath darf man noch viel erwarten.

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