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Porträt
Der letzte Mohikaner
Sonny Rollins, der Titan des Tenorsaxofons
Von
Karl Lippegaus
Hans Reitzema

Unbeweglich stand er da, wie eine Statue, improvisierte mit geschlossenen Augen, das Horn auf und ab schwingend. Ein Solo konnte eine Stunde dauern. Für Joshua Redman ist „Saxophone Colossus“ „vermutlich das einflussreichste Album, aus welchem Genre auch immer“. 1956 in nur drei Stunden eingespielt, war es für Sonny Rollins selbst „nur eine weitere Plattensession“.

Seine Mutter hieß Valborg mit Vornamen und kam von den Jungferninseln. Mit ihrem jüngsten Sohn besuchte sie oft die Calypso-Bälle in New York. „St. Thomas“, seinen größten Hit, hatte sie ihm als Kind vorgesungen. „Ich arrangierte ein wenig die Melodie, und das Label war so nett, mich als Komponisten zu nennen.“ Das afro-karibische Erbe pulsiert in „Jungoso“ von 1962, einem Duett mit dem Congaspieler Candido, „Brownskin Girl“, „Hold ’em Joe“, „Don’t stop the carnival“, „Duke of Iron“, „Little Lu“ … Unzählige Schlagzeuger durchliefen Sonnys strenge Kontrolle, „ich heuerte sie an und feuerte sie, regelmäßig“. Der Rhythmus war am wichtigsten, also kam irgendwann die Frage: „Can you play the calypso?“

In einer religiösen Familie wuchs er auf, wo die Kinder vor dem Zubettgehen „Oh thank you, oh God“ beteten, nie vergaß er es. Wie Ellingtons Vater war auch Walter W. Rollins ein hochrangiger Steward bei der Navy, der an Bord 250 Personen zu versorgen hatte. Am 7. September 1930 kam Theodore Walter Rollins zur Welt, den alle zuhause „Sonny“ nannten. „Ich wurde geboren an einem Sonntagmorgen zwischen zwei Kirchen.“ Er war vier Jahre jünger als John Coltrane, wurde aber lange vor ihm bekannt.

Musiker wollte er immer werden, und mit zehn hatte er ein Altsaxofon. Bald zeigte sich: Das Horn und Sonny waren wie füreinander geschaffen. Einen unverwechselbaren Sound, eigene Wege, eine neue Sprache zu finden – das wurde zur lebenslangen Suche. Obsessiv, doch nie als herkömmliches Üben verstanden: „Täglich viel Zeit mit dem Horn zu verbringen, wurde die natürlichste Sache der Welt.“                                        

Harlem in den 1930er Jahren explodierte förmlich vor Musik. Im Apollo-Theater erlebte er die Bigbands von Duke und Basie. Charlie Parker und Lester Young lag er zu Füßen, er nannte es „auf den Schultern von anderen stehen“. Viele seiner Helden wie Coleman Hawkins mit seinem brandneuen Cadillac wohnten gleich um die Ecke. Als Sonny den Pianisten Fats Waller hörte („I’m gonna sit right down and write myself a letter“), war es die Kristallisation dessen, was Harlem so magisch machte: „Da wusste ich, dass ich Jazz spielen wollte. Du spürst, es gibt einen Gott, dann ist alles okay.“

Sonny war der Anführer einer Musikerclique, die sich die Counts of Bop nannte. Sein Guru und Lehrer wurde „der Hohepriester des Bop“ Thelonious Monk, 13 Jahre älter als er. Die Monks lebten zu viert in einem kleinen Zwei-Zimmer-Apartment. Am Klavier, zwischen Küche und Schlafzimmer, saß Thelonious. Sogar die Besten verzweifelten über seinen Stücken. Nur Sonny brachte sie auf Anhieb so, wie Monk sie haben wollte: „Let’s Call This“ und „Friday the 13th“ (Prestige) oder später „Misterioso“ (Blue Note) zeigen ihr unglaubliches Zusammenspiel.

Als „Body and Soul“ von Coleman Hawkins an sein Ohr drang, „aus dem offenen Fenster einer Bar“, war das der Moment. Sonny eignete sich ein enzyklopädisches Wissen über Songs an, vor allem aus den 1930er Jahren. So manch obskure Melodie aus Filmen, Radio und Jukeboxes, wie „I’m an Old Cowhand“, rührte keiner außer ihm an. Beim Konzert am 18. November 2011 in Ludwigshafen war die erste Zugabe „Falling in Love Again“, und hinterher fragte ich ihn beim Interview, warum.

„Als Junge habe ich diesen Film gesehen, ‚Der blaue Engel‘ mit Emil Jannings, ein so schöner Film, sehr tiefsinnig und mit viel Gefühl. Danach wurde ich ein großer Fan von Marlene Dietrich, ich erinnere mich noch so gut daran, und Friedrich Hollaender ist einer meiner Lieblingskomponisten, ich liebe seine Musik. Er begleitete sie am Klavier und schrieb Songs für sie. ‚Falling in Love‘ spiele ich nur, wenn ich nach Deutschland komme.“ Wenige Monate später zog er sich für immer von der Konzertbühne zurück.

Weills „Moritat“ (Mackie Messer) hatte er lange im Repertoire. In „Django“ sang sein Horn seltsam anders, oboenhaft und fast wie Edith Piaf. „Flying Home“ mit Illinois Jacquets Solo lernte er transkribierend Note für Note. „Als Schwarzer in Harlem aufzuwachsen, hieß ja nicht, dass man nur schwarze Musik spielte.“ Den Kollegen empfahl er Ella-Fitzgerald- und Fred-Astaire-Platten, „weil sie so singen, wie der Song notiert war“.

1948 wurde Harlem von der Mafia mit billigem Heroin überschwemmt. Auch er geriet ans Rauschgift, um so dem latenten Rassismus, dem Hass und der Intoleranz der amerikanischen Gesellschaft zu entfliehen. „Heroin half uns vielleicht, noch tiefer in die Musik einzudringen.“ Die Familie drohte zu zerbrechen, als der Vater wegen eines Fotos, auf dem ein schwarz-weißes Paar zu sehen war – Freunde hatten es ihm zur Erinnerung geschenkt –, zu zwei Jahren Gefängnis verurteilt wurde. Neun Monate war er in einer Haftanstalt, die als das „Alcatraz des Ostens“ galt.

Sonnys rasche Bekanntheit im Jazz fiel in eine für ihn schwere Zeit. Als Junkie wurde er straffällig und brachte sogar geliehene Saxofone ins Pfandhaus. Mit Miles Davis, seinem besten Freund neben Trane, nahm er „Airegin“, „Oleo“ und „Doxy“ auf. Von Miles im Knast geschrieben, erschienen sie später auf dessen LP „Collectors Items“. Miles’ Angebot, seinem neuen Quintett beizutreten, schlug Sonny aus, nachdem er Max Roach mit Clifford Brown erlebt hatte, und so bekam Coltrane den Job. Bei Bud Powells erster Blue-Note-Session war er erst 19-jährig in vier Stücken dabei. Als ihn ein Taxifahrer mit dem Baseball-As Don New­combe verwechselte, gab Miles ihm den Spitznamen Newk. Und empfahl ihn Bob Weinstock, dem Prestige Records gehörte. Bald konnte er seine erste 10-Inch-Platte, „Sonny Rollins Quartet“, machen. Den Rest des Jahres füllte eine monatelange Haftstrafe aus, während der ihm „nur die Mutter und Charlie Parker“ beistanden, wie er sagte.

Die eigenen Platten mochte er sich nie anhören. Eine Aufnahme war „eine traumatische Erfahrung“. Es wurde zur Phobie, er musste alt werden, um Studios nicht mehr zu hassen. „Ich bin Musiker und Performer. Also muss ich alles ablehnen, was für die Ewigkeit gleich bleiben wird. Ich improvisiere ständig. Ich bin nie derselbe.“ Doch Schlag auf Schlag kam in Rudy van Gelders Studio in Hackensack, New Jersey, hochkarätiger Hardbop aufs Band. Dann wurde Chicago zur zweiten Heimat, der Blues von Muddy Waters und Howlin’ Wolf elektrisierte ihn. 1955 starb Charlie Parker, und Sonny schwor dem Heroin ab. Am asketischen Trompeter Clifford Brown bewunderte er die totale Hingabe. Brown half ihm, Kurs zu halten. In Chicago entstand 1955 ihr „Live at the Bee Hive“, 20 bis 30 Minuten konnte ein Stück dauern. Als ein weiteres Album, „At Basin Street“ mit dem umwerfenden „Gertrude’s Bounce“, erschien, war die Brown-Roach, Inc. eine Sensation.

Am 2. Dezember 1955 nahm er, „wie immer in freier Themenwahl“, das epochale „Work Time“ auf – und „Sonny Rollins Plus 4“, wieder mit Clifford und Max, eine seiner Lieblingsplatten. Aber gerade als Sonny und Brownie einen neuen Sound gefunden hatten, passierte das Unfassbare. Am 27. Juni 1956 kam Clifford Brown mit nur 25 Jahren bei einem Autounfall ums Leben. Da habe er geweint wie ein Kind, „es war zu viel“.

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