
Ein riesiger Neger aus Montreal“ – so handelt 1953 Joachim Ernst Berendt in seinem „Jazzbuch“ den kanadischen Pianisten Oscar Peterson mehr oder weniger in einem Nebensatz ab. Zwanzig Jahre und 22 Auflagen später findet der deutsche Jazzpapst dann schon deutlich mehr Zeilen für jenen Mann, den Duke Ellington in ehrlicher Bewunderung den „Maharadscha der Tasten“ nannte. Ein swingender Improvisator sei Peterson, mit einer starken Persönlichkeit: „Doch entdeckt man hinter der Bravour und Brillanz seines Spiels im Laufe der Zeit einen gewissen Zug zum Klischee – überspielt freilich immer wieder von seiner beispielhaften musikalischen Vitalität.“ Deutliche Worte, vielleicht nicht ganz fair angesichts der Tatsache, dass der 1925 in Montreal als Sohn karibischer Einwanderer geborene Pianist im Laufe seiner langen Karriere bis zu einem Dutzend Platten pro Jahr einspielte – und doch nicht ganz falsch.
Vermutlich hätte der kleine Oscar auch das Talent gehabt, ein famoser Trompeter zu werden, doch eine Tuberkulose-Erkrankung zwingt ihn mit sechs Jahren, zum Klavier zu wechseln. Es muss wohl eine erstklassige Schule gewesen sein, denn schon mit 14 gewinnt er einen Amateurwettbewerb, der ihn so populär macht, dass er eine eigene, wöchentliche Radioshow bekommt. Doch über sein stupendes technisches Vermögen befand er 1997 in einem langen Gespräch mit dem Autor nur trocken: „Das ist einfach nur Vokabular. Ich wurde klassisch unterrichtet, was bedeutet: Wenn man ein gutes Vokabular und die Kontrolle darüber hat, dann kann man seine Ideen ausdrücken.“ Und die hat der massige Pianist, der mit wuchtigen Blockakkorden in der Tradition von Art Tatum swingt, im Laufe seines Lebens reichlich. Zunächst aber hat er das Glück, dass 1949 der legendäre Impresario Norman Granz eine Live-Übertragung seines ersten Trios aus der Alberta Lounge in Montreal im Radio hört und Peterson daraufhin sofort für seine „Jazz at the Philharmonic“-Tourneen engagiert. Es ist das perfekte Sprungbrett, um zum Liebling aller Jazzfans zu werden und sich einen grundsoliden Ruf als einfühlsamer Begleiter so ziemlich aller Stars der damaligen Zeit zu erarbeiten.
1953 gründet Peterson mit dem Gitarristen Barney Kessel und dem Bassisten Ray Brown, inspiriert von Nat King Cole, ein neues Trio, das bald Geschichte schreibt. Überraschenderweise spielt er nicht nur Klavier, sondern singt auch – was wohl eine Idee des geschäftstüchtigen Norman Granz ist. „Ich hatte nie die Absicht zu singen, man bat mich darum. Ich habe das niemals ernst genommen, mich hat immer nur das Klavier interessiert“, so Peterson Jahrzehnte später. Allerdings muss er zum Fürchten gut gewesen sein und Nat King Cole zum Verwechseln ähnlich. Denn der wendet sich, nachdem er einige Aufnahmen gehört hat, umgehend an den Kanadier, erzählt Dave Gelly in seinem Buch „The Giants of Jazz“: „Ich mache mit dir einen Deal. Ich verspreche, niemals wieder öffentlich Klavier zu spielen, wenn du mir versprichst, nie wieder zu singen.“ Egal, ob diese Geschichte wirklich stimmt: Ein Blick in die Diskografien zeigt, dass beide Musiker ihr Versprechen hielten.
Doch natürlich lässt Peterson nicht die Finger vom Gesang – schließlich ist sein Bassist Ray Brown damals mit Ella Fitzgerald verheiratet. „Es ist wirklich schwer, gleichzeitig zu singen und sich dabei zu begleiten. Und wenn man das nicht wirklich gut kann, dann ist es besser, man begleitet andere Sänger“, so Peterson, der nicht nur ein famoser Leader, sondern auch ein exzellenter Begleiter mit hervorragendem Gespür für seine musikalischen Partner ist. „Ich war immer der große Zuhörer. Ich predige das immer wieder: Wenn man in einer Band spielt, muss man zuhören. Wenn du nicht zuhörst, bist du nicht in der Band. Du kannst dir vielleicht ein Bier kaufen, aber du spielst einfach nicht in der Band.“
Nach nur einem Jahr wird Barney Kessel, der des ständigen Reisens überdrüssig ist, durch den Gitarristen Herb Ellis ersetzt, was den Erfolg dieses Trios nur noch mehr anheizt. Gemeinsam nehmen die drei für Granz’ Label Clef reihenweise „Songbooks“ genannte Scheiben mit den Erfolgsstücken aller großen Komponisten der damaligen Zeit auf, die sich wie geschnitten Brot verkaufen und das „Oscar Peterson Trio“ zu einer der auch kommerziell erfolgreichsten Combos der 50er Jahre machen. 1958 kommt es dann zu einem entscheidenden Einschnitt, der den Sound des Trios massiv verändert. Doch war es kein Wechsel des Konzepts, behauptet der von seinen Fans nur OP genannte Pianist: „Es war pure Notwendigkeit. Herb Ellis musste die Band verlassen, und wir entschieden uns, dass wir jetzt einen Drummer bräuchten.“
Es ist die richtige Entscheidung zum richtigen Zeitpunkt. Denn der neue Mann, Ed Thigpen, gibt seinem Chef erheblich mehr Möglichkeiten, seine atemberaubende Virtuosität nahezu ungehemmt ausspielen zu können. Doch auch wenn das Klavier nun klar im Mittelpunkt des Geschehens steht, funktioniert das neue Trio wie ein Schweizer Uhrwerk und swingt mit einer Präzision, die es zum gefragten Begleiter unzähliger Stars macht. Denn Peterson verfügt über die Gabe, jeden seiner Frontmen – von Stan Getz über Charlie Parker bis Dizzy Gillespie und Clark Terry –, aber auch Sängerinnen wie Ella Fitzgerald, Billie Holiday oder Carmen McRae stets ins Rampenlicht zu stellen, wie zahllose Tonträger beweisen. 1962 spielt der flotte Dreier schließlich jene Platte ein, die nach Meinung zahlloser Experten Oscar Petersons allerbeste ist: „Night Train“ für Verve, das bekannteste Label von Norman Granz. Der Gourmet und Kunstliebhaber hatte freilich Verve gerade für ein kleines Vermögen an Metro-Goldwyn-Mayer verkauft, was auch Folgen für seinen Tastenstar hat, sich aber letztlich als Glücksfall erweist.
Denn plötzlich hat der Kanadier jede Menge Zeit, weshalb er häufig im Schwarzwald bei Hans-Georg Brunner-Schwer, dem MPS-Produzenten und Saba-Erben, zu Gast ist. Der ist nicht nur schwerreich, sondern auch ein großer Jazzliebhaber und dazu ein exzellenter Toningenieur mit eigenem Studio in seiner Villa. Und leistet sich den Luxus, für handverlesene Gäste Privatkonzerte in seinem Wohnzimmer zu veranstalten, die er dann mitschneidet. „Der Grund, dass ich dort Platten aufgenommen habe, war ganz einfach“, erinnerte sich OP 1997: „Norman Granz hatte Verve verkauft, und es war ihm deshalb nicht erlaubt, Platten mit mir zu produzieren. Granz dachte aber, es sei eine gute Idee, weiter Platten aufzunehmen und nicht vom Markt zu verschwinden. Er selbst musste sich für sieben Jahre aus dem Geschäft zurückziehen, das war die Bedingung des Deals mit MGM. Und damals fragte mich Brunner-Schwer, ob ich ihn nicht zu Hause besuchen und dort spielen wolle. Er würde das gerne aufnehmen. Das geschah ursprünglich nur für seine Privatsammlung, aber später gab es dann eine Vereinbarung, diese Bänder auf Platten zu veröffentlichen. Die wurden dann, aus verschiedenen Gründen, eine Art Meilenstein des Solo-Jazzpianos.“
Als opulente 4-CD-Box „Exclusively For My Friends“ gehören diese Aufnahmen heute zu den spannendsten des Kanadiers, der im Gegensatz etwa zu Miles Davis nie seinen Stil wirklich veränderte und stets dem Spannungsfeld zwischen Swing und Bop verhaftet blieb. Dies freilich mit unerreichter Meisterschaft und dem bis ins hohe Alter ungebrochenen Bestreben, technische Brillanz mit Ausdruckswillen zu immer größerer Reife zu führen. Auch wenn er mit überbordender Virtuosität oft hundert Noten spielte, wo andere Pianisten mit zehn auskämen, saß bei ihm für gewöhnlich jede einzelne, so der amerikanische Kritiker Scott Yannow. Selbst wenn das seine Fans anders sehen mögen, ein Innovator war Oscar Peterson nicht wirklich, womit er aber keine Probleme hatte: „Die Medien suchen ständig nach etwas Neuem, jede Woche. Aber so läuft das nicht, weder im Jazz noch im klassischen Bereich. Immer wenn sich jemand hinsetzt und spielt, dann passiert so eine Art inhärenter Innovation. Und mehr braucht man nicht.“
Für ihn galten andere Maßstäbe, wie er deutlich machte: „Zeit ist der einzige Maßstab – die Zeit prüft alles. Sie bestätigte Duke Ellington, Art Tatum, Count Basie, Dizzy Gillespie und viele andere.“ Auch zum Thema „Begabung“ hatte Peterson eine klare Meinung: „Für mich ist Begabung mehr als nur der Glaube der Leute, dass man talentiert sei. Für mich gehört dazu, wie man sein Talent kontrolliert, es formt, wachsen und es in die Richtung gehen lässt, in der man es haben möchte.“ Außerdem sei eines ganz entscheidend: „Time! Wenn man im Jazz ,a good time‘ hat, dann hat man bessere Chancen, ein großer Jazzmusiker zu sein. Die andere, ganz wichtige Sache ist ein harmonisches Verständnis; übrigens etwas, was man mit zwanzig Jahren einfach noch nicht haben kann. Time wächst nicht, entweder hat man’s und ist dabei, oder Ende und aus. Aber harmonisch kann man sich entwickeln.“
Oscar Peterson hatte beides: ein grandioses Verständnis für Harmonien und eine unverwechselbare Time, die er auch seiner brachialen linken Hand verdankte. Umso härter muss es ihn getroffen haben, dass er 1993 einen Schlaganfall erlitt, der zu massiven Einschränkungen führte und sein Spiel spürbar veränderte. Er selbst verneinte das vehement: „Auf gar keinen Fall! Nein, es hat mich überhaupt nicht verändert. Tatsächlich spiele ich heute viel härter als früher, rhythmisch gesehen“, so seine feste Überzeugung 1997. Mit eisernem Willen kämpfte er sich zurück auf die Bühne – das war er sich und seinen Fans wohl schuldig. Doch an die alte Klasse konnte er nicht mehr anknüpfen, auch wenn er bis zuletzt beeindruckende Konzerte gabt. Am 23. Dezember 2007 starb der mit unzähligen Auszeichnungen geehrte Oscar Emmanuel Peterson im Alter von 82 Jahren in seinem Haus in Mississauga, einem Vorort von Toronto. Er hinterlässt Hunderte Tonträger und die Erinnerung an einen der größten Jazzpianisten aller Zeiten.