
Thomas Mann, 1932
Lübeck ist im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts eine Stadt mit rund 30.000 Einwohnern. Gelistet werden rund 1.200 Handwerker, 82 Schiffer, 47 Musiker und 170 Großkaufleute. Zu Letzteren zählt auch die Familie des Konsuls und späteren Senators Thomas Johann Heinrich Mann und seiner Frau Julia. Von ihr, so bekennt Thomas Mann später, hat er die „künstlerisch-sinnliche Richtung“ geerbt. Er schwärmt davon, wie er seiner Mutter „beim Musizieren“ folgt: „Ihr Bechstein-Flügel stand im Salon [...] und hier kauerte ich stundenlang in einem der hellgrau gesteppten Fauteuils und lauschte dem wohlgeübten Spiel meiner Mutter, das sich am glücklichsten wohl an den Etüden und Notturnos von Chopin bewährte.“ Doch sie spielt nicht nur Klavier, sie hat auch offenbar eine schöne Stimme: „Kam der Abend, so saßen wir stille im Sessel und lauschten, wie die Mutter am Flügel den sanften Liederreigen von Frauenliebe und -leben vorüberführte.“
Doch nicht nur Mutter Julia sorgt von früh an für die wachsende Musikbegeisterung ihres Sohnes. Alexander von Fielitz, Erster Kapellmeister des Lübecker Stadttheaters, verkehrt häufig im Hause Mann, und ein Geiger seines Orchesters führt den kleinen Thomas in die Grundlagen des Violinspiels ein. Ab dem siebten oder achten Jahr nimmt er Unterricht, etwa bis zum Ende seiner Schulzeit. Anfangs übt er sich an der Seite seiner Mutter, später, zu seiner Münchner Zeit, taucht Thomas Mann mit Carl Ehrenberg am Klavier in die Sonatenwelten von Beethoven, Schubert, Grieg und Richard Strauss ein.
Schließlich sind da die Opernbesuche im Lübecker Stadttheater. Er hört Emil Gerhäuser, der, in „seiner Stimme Maienblüte“, den Walther von Stolzing singt, den Tannhäuser und den Lohengrin. Bereits während seiner Schuljahre nähert sich Thomas Mann, „wenn es irgend ging, erlaubter- und unerlaubterweise“, den Werken Richard Wagners, denen er zeitlebens mit „einer enthusiastischen Ambivalenz“ begegnet: „Ich werde eben wieder jung, wenn es mit Wagner anfängt.“
Seine spätere Frau Katia beobachtet Thomas Mann im Konzert durchs Opernglas: im noch neuen Kaim-Saal, der im Zweiten Weltkrieg dem Bombenhagel zu Opfer fallen wird. Sie stammt aus einem Haus mit musikalischer Begeisterungsfähigkeit. Ihr Vater Alfred Pringsheim ist ein glänzender Pianist – und ein glühender Wagner-Anhänger obendrein: Gast bei den Proben und Aufführungen der ersten Bayreuther Festspiele, außerdem Arrangeur von Wagner-Szenen für Klavierduo. Jeden Sonntag gibt es bei den Pringsheims, in ihrem neuen prächtigen Palais, Hausmusik.
Am Klavier ist Thomas Mann Autodidakt. Die Faszination für das Instrument begleitet ihn ein Leben lang: „Später, als ich noch ein wenig älter war“, heißt es, autobiografisch geprägt, in der Erzählung „Bajazzo“, „erlernte ich auf eigene Hand eine Art von Klavierspiel. Ich begann damit, in Fis-dur-Akkorde zu greifen, weil ich die schwarzen Tasten besonders reizvoll fand, suchte mir Übergänge zu anderen Tonarten und gelangte allmählich […] zu einer gewissen Fertigkeit im takt- und melodielosen Wechsel von Harmonien.“ Gerade während der Jahre des amerikanischen Exils findet man immer wieder Notizen wie diese: „Im Abendkonzert Vorspiel u. Liebestod. Auf dem Flügel etwas mitgespielt“, oder: „Am Klavier meiner Zärtlichkeit für chromatische Durchgangstöne nachgehangen.“
Dieses Klavier ist ein Stutzflügel, Marke Wheelock, Modell Baby Grand Piano, und fungiert „von Anfang an als ausgesprochenes Familieninstrument“, wie Enkel Frido berichtet, der das Instrument nach dem Tod des Großvaters jahrelang in seinem Besitz hatte, bevor es, dank seiner Schenkung, nun wieder, frisch überholt, im „living room“ des Thomas-Mann-Hauses von Pacific Palisades gespielt werden kann.
Während seiner Zeit in Kalifornien wächst auch Thomas Manns Sammlung von Schellack- und Schallplatten. Als er Anfang der 1950er Jahre nach Europa zurückkehrt, bleiben jedoch viele der alten Schellacks in Amerika zurück. Sein Neffe packt die Sammlung schließlich in seinen Sportwagen und transportiert sie quer durch die USA nach Kanada. Einige der Platten gehen dabei zu Bruch. Was sich erhält, wandert später ins Deutsche Musikarchiv nach Berlin.
Schaut man sich die Listen von Thomas Manns Schallplattensammlung – auch die aus den späten Kilchberger Jahren in der Schweiz – an, so fällt, wenig verwunderlich, vor allem die große Anzahl an Aufnahmen mit Musik von Richard Wagner auf. Dazu gibt es viel Romantisches, vom Lied bis zur Sinfonik. Doch es gibt auch einige Kuriositäten, etwa Stücke von Noël Coward oder ein Hans-Albers-Album mit „Auf der Reeperbahn“ oder auch ein Album mit Liedern von Charles Trenet.
Schon auf einem Foto aus dem Jahr 1922 sieht man Thomas Mann in Anzug und Krawatte mit verschränkten Armen halb ehrfürchtig, halb versunken vor einem geöffneten Grammophon stehen. Zwei Jahrzehnte später schreibt er an einen gewissen Hans Koch: „Ich hatte an den Musikapparaten, die ich bei ihnen kaufte, soviel Vergnügen gehabt […] letztlich war die Freude an den früheren, noch nicht so voll und reich lautenden sogar größer, und jedenfalls ist es der kleine, schwarze Kasten, den ich zuerst von Ihnen bezog, der sozusagen unsterblich geworden ist, da er es war, der mich zu dem Kapitel ‚Fülle des Wohlklangs‘ [sic!] im Zauberberg begeisterte.“
In seinem letzten Lebensjahr willigt Thomas Mann ein, als Gast in der Sendereihe „Wer wünscht was?“ des damaligen Süddeutschen Rundfunks mitzuwirken. Die Aufzeichnung findet im Studio in Zürich statt, seine Liste mit Favoriten-Aufnahmen muss er im Vorfeld kürzen. Vor allem der Verzicht auf Schuberts B-Dur-Klaviertrio schmerzt ihn sehr. In seinem gewohnt feierlichen Vortragsstil gibt er Auskunft über seine Vorzugsplatten: Beethoven, Wagner, Debussy, dazu zwei Lieder der Romantik.
Fest in seinen Tagesablauf eingegliedert sind abendliche Hörkonzerte, wenn Thomas Mann allein, mit Familie oder Gästen Musikaufnahmen lauscht. Durchs Tagebuch ziehen sich knappe Bemerkungen zu den gehörten Stücken wie ein roter Faden. Auch kommt es in seinem Haus in Pacific Palisades zu kleineren Privataufführungen. So zeigen mehrere Fotos etwa Bruno Walter am Flügel. Der berühmte Dirigent ist ein guter Freund der Manns, seit sie in Münchner Tagen Nachbarn in der Poschinger Straße waren und der Zank ihrer Kinder die Versöhnungsfähigkeit beider Familien getestet hat. „Bald ergab es sich“, erinnert sich Bruno Walter, „dass ich Thomas und Katia Mann aus Werken vorspielte, die ich gerade einstudierte und von denen ich also ‚überfloss‘ […] Symphonien von Beethoven oder Mozart, Schubert oder Mahler.“ Als Thomas Mann in Zürich seinen achtzigsten Geburtstag feiert, kommt Bruno Walter eigens aus New York angeflogen, um für den Jubilar ein Ständchen zu dirigieren: Mozarts „Kleine Nachtmusik“.
Walter ist für Thomas Mann ein „teurer bewunderter Mittelsmann“ zwischen sich und „der geliebten Kunst“, der Musik. Grundsätzlich beobachtet Thomas Mann gern Dirigenten bei ihrer Arbeit. Bei den Salzburger Festspielen 1935 sitzt er bei einem von Bruno Walter dirigierten „Don Giovanni“ in der ersten Reihe. Er dürfte jede von Walters Gesten genau verfolgt haben. „Zum Musiker geboren, hätte ich komponiert ungefähr wie César Franck und dirigiert – wie Du“, schreibt Thomas Mann noch elf Jahre später an den Freund.
In jenem Salzburger August 1935 ist auch ein Konzertbesuch eingeplant. Die Wiener Philharmoniker spielen im damaligen Festspielhaus, dem heutigen Haus für Mozart, unter Arturo Toscanini: Händel, Debussy, Wagner, Mendelssohn. Im Tagebuch heißt es: „Zum Thee per Wagen zu Walters Wohnsitz, Thee auf der Terrasse mit Toscanini, seiner Frau, seinem Freund.“ Ebenfalls mit von der Partie: eine Frau, die munter Fotos schießt – Thomas Mann mit Krawatte in der Mitte, links von ihm Bruno Walter, rechts Arturo Toscanini, beide mit Fliege. Ein künstlerisches Gipfeltreffen, fotografisch festgehalten von der Sopranistin Lotte Lehmann!
Persönliche Begegnungen mit Musikern sind Thomas Mann wichtig. So bedauert er, dass er Gustav Mahler nach der Uraufführung seiner achten Sinfonie in München beim Empfang nicht hat sprechen können. Daraufhin schickt er dem Komponisten einen Brief und ein Exemplar seines Romans „Königliche Hoheit“.
Auch für die Musik Hans Pfitzners kann sich Mann, anfangs zumindest, begeistern. Die Premiere von „Palestrina“ hinterlässt in ihm tiefe Spuren. In den „Betrachtungen eines Unpolitischen“ würdigt er Werk und Komponist in einem eigenen Kapitel. Später wird Thomas Mann sich von Pfitzner und von seinem eigenen verschwurbelten Nationalismus distanzieren. Er wechselt ins republikanische Lager. Pfitzner wiederum sieht darin einen Verrat, doch Thomas Mann antwortet unmissverständlich: „Es steht uns frei, uns zu verfeinden; aber wir werden nicht hindern können, daß zukünftige Zeiten unsere Namen häufig in einem Atem nennen werden.“
Ohnehin bläst Thomas Mann in seinen Positionen, auch zu bestimmten Komponisten, gelegentlich kräftiger Wind ins Gesicht. 1933 führt der gegen ihn gerichtete „Protest der Richard-Wagner-Stadt München“ – initiiert von Hans Knappertsbusch und unterzeichnet unter anderem von Richard Strauss – indirekt dazu, dass die Manns von einer Vortragsreise durch Europa nicht mehr nach München, ja nach Deutschland insgesamt zurückkehren, sondern sich ins Schweizer, später ins amerikanische Exil begeben.
Natürlich hat die große Passion für die Musik auch im literarischen Schaffen Thomas Manns vielfältig ihre Spuren hinterlassen: „Der Roman war mir immer eine Sinfonie, ein Werk der Kontrapunktik, ein Themengewebe, worin die Ideen die Rollen musikalischer Motive spielen.“ Formal knüpft Mann an die von Wagner etablierte Leitmotiv-Technik an, bei der bestimmte Motive mit bestimmten Bedeutungen aufgeladen werden. Die Form der vier „Joseph“-Romane erinnert nicht zufällig an die äußeren Proportionen von Wagners „Ring“-Tetralogie.
Einen wichtigen Teil nehmen in seinen Werken Hinweise auf und die Beschreibungen von Musik ein. Mal sind es Studenten wie in „Gladius Dei“, die, das „Nothung-Motiv“ pfeifend, durch München ziehen, mal wird die Musik zum zentralen Element, wie in „Wälsungenblut“ oder „Tristan“: „Nicht ohne Erfolg versuchte die Spielende, auf dem armseligen Instrument die Wirkungen des Orchesters anzudeuten. Die Violinläufe der großen Steigerung erklangen mit leuchtender Präzision. Sie spielte mit preziöser Andacht, verharrte gläubig bei jedem Gebilde und hob demütig und demonstrativ das Einzelne hervor, wie der Priester das Allerheiligste über sein Haupt erhebt.“
Schließlich die Romane: In den „Buddenbrooks“ besiegeln die Klavierauftritte von Hanno das Bekenntnis zur Kunst und zugleich den Untergang der Kaufmannsfamilie. Im „Zauberberg“ vertieft sich Hans Castorp abendelang in den Zauber des neu beschafften „Grammophons“ und erlebt den Zauber von Operette und Oper, Orchesterstück und Kunstlied. Die Beschreibung der Blumenarie aus „Carmen“ erfolgt anhand der deutschsprachigen „Reklam“-Ausgabe [!], die sich Thomas Mann eigens hat schicken lassen. Bei der Beschreibung von Schuberts „Lindenbaum“ dient ihm die Aufnahme mit Richard Tauber als Inspiration.
Doch Mann scheut sich nicht, Rat einzuholen, wenn er seine eigenen Kenntnisse an Grenzen geführt glaubt. So wird Theodor W. Adorno für den „Doktor Faustus“ zu einem zentralen Einflüsterer. Nicht nur, dass er Thomas Mann erlaubt, munter aus seiner „Philosophie der neuen Musik“ zu zitieren, er wird auch zum Erklärer Beethovens. Im Oktober 1943 schreibt Mann nach einem gemeinsamen Abend an Adorno: „Ich wollte Sie noch bitten, mir in ganz einfach Noten das Arietta-Thema des Variationssatzes aufzuschreiben und mir den Ton anzugeben, der bei den letzten Wiederholungen so eigentümlich tröstlich vermenschlichend hinzukommt.“ Adorno kommt dieser Bitte nach und übersendet ein Notenpapier, auf das er handschriftlich das Arietta-Thema aus Beethovens letzter Sonate notiert. Dabei kommt es zu einem aparten Missverständnis. Adornos Handschrift ist auffallend klein und krakelig, sie ist, zugegeben, nur schwer zu entziffern. Dort findet sich das Wort „Eigengewicht“ – Thomas Mann aber liest falsch, und so findet sich später im Roman die seltsam-irrige Formulierung vom „Fugengewicht“ der Akkorde.
Für Thomas Mann steht die Kunst, und allem voran die Musik „mit ihrem gewaltig-vieltönigen Ineinander von Eigenwille und Ordnung“, immer an erster Stelle. Sie erfüllt, sie repräsentiert und widersteht politischen Strömungen: „Die Kunst als tönende Ethik, als fuga und punctum contra punctum, […] ist wahrhaftig mein Ideal von Kunst.“