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Interview
„Der Schmerz ist der gleiche“
Anna Lucia Richter über Mahlers „Kindertotenlieder“, altbackene Texte und die Gefahren des Singens
Von
Arnt Cobbers
Julia Wesely

Die Kölner Mezzosopranistin ist eine der wenigen Sängerinnen, die noch regelmäßig CDs aufnimmt. Nun erscheint ihre erste Aufnahme mit Orchesterliedern. Obwohl sie viel unterwegs ist, war es kein Problem, recht spontan ein Treffen im Café des Kölner Museums Ludwig, zwischen Dom und Philharmonie, zu verabreden. Die 35-Jährige, deren musikalische Laufbahn im Mädchenchor des Kölner Doms begann, wirkt auf eine angenehme Art hellwach und sehr präsent.

Frau Richter, warum haben Sie für Ihre erste Aufnahme von Orchesterliedern Gustav Mahler gewählt?

Ich habe schon viel Mahler gesungen, sowohl mit Orchester als auch mit Klavier. Das ist für mich die ideale Verbindung von Lied und Orchesterrepertoire und somit ein guter Übergang nach all meinen Lied- und Kammermusikeinspielungen hin zu meinem Orchester-Debütalbum!

Macht es einen Unterschied, ob ein Orchester oder ein Pianist hinter einem sitzt?

Das macht einen großen Unterschied! Erstens natürlich, dass man in der Probenzeit sehr viel eingeschränkter ist. Als Liedduo können wir so lange proben, wie wir möchten und wie sich die Nachbarn nicht beschweren, und dann geht die Aufnahme los. Mit dem Orchester ist man an Dienste gebunden. Man kann nicht sagen, lass uns erst das „Urlicht“ aufnehmen und dann das nächste Lied. Wenn die Trompeten da sind, muss einfach dieses Lied mit der Besetzung aufgenommen werden. Man muss sehr viele Äußerlichkeiten klären, bevor man sich um die Musik kümmern kann. Aber dann sitzen alle auch wirklich auf der Stuhlkante. Das kommt letztlich näher an eine Konzertatmosphäre heran.

Beflügelt Sie auch der Klang des Orchesters?

Auf jeden Fall. Vor allem die hohen Streicher und die Bläser unterstützen und pushen einen noch mal ganz anders, als ein Klavier es kann. Aber natürlich kann man nicht so spontan sein, weil einem einfach ein Riesenhaufen von Menschen folgen muss. Es muss alles besser abgesprochen und klarer kommuniziert sein.

Sind Sie denn spontan, wenn Sie nur ein Klavier begleitet?

Ich liebe es, spontan zu sein. Gerade in einer Aufnahme. Weil man ja die Freiheit hat, alles zu wiederholen, wenn man noch nicht zufrieden ist. Natürlich können wir Sänger nicht zehn Stunden am Stück aufnehmen, unsere Stimme wird irgendwann müde. Aber trotzdem kann man experimentieren, wie man lustig ist. Das ist schwieriger mit einem Orchester, wo es so viele Fehlerquellen gibt, wie es Musiker gibt. Das macht so eine Aufnahme aber auch spannend. Ich bin kein Fan dieser polierten Aufnahmen, wo kein Risiko eingegangen wird, wo dann aber auch nichts Spannendes passiert.

Wie haben Sie die Aufnahme mit dem Dirigenten vorbereitet?

Ich bin tatsächlich nach Berlin gereist und habe mit Jordan de Souza eine ausgedehnte Klavierprobe gemacht. Bei der Aufnahme haben wir jedes Stück erst mit dem Orchester geprobt, dann eine kurze Abhörpause vor allem für die Balance gemacht, und dann haben wir es aufgenommen.

Die Lieder haben Sie ja alle schon oft im Konzert gesungen, oder?

Die „Wunderhornlieder“ habe ich mit sehr vielen großen Dirigenten gemacht, was toll ist, weil man dadurch auf ganz neue Ideen kommt. Das erste Mal war gleich mit Haitink und dann mit Currentzis, was schon der größte Kontrast ist, den man sich vorstellen kann. Dann kamen Gergiev, Jurowski und andere, da habe ich mit der Zeit alles Mögliche ausprobiert und weiß, was ich möchte und was mit Orchester überhaupt geht. Manchmal hat man als Sänger so Vorstellungen, die am Klavier entstanden sind, was zum Beispiel das Timing angeht, und dann kommen Menschen, die einen Bogen ausnutzen müssen, und man denkt, ah ja, das ist anders. Es ist gut, wenn man dafür schon ein Gespür entwickelt hat. Die „Kindertotenlieder“ hatte ich vorher zweimal mit Orchester und zweimal mit Klavier gemacht.

Aber als Sängerin geben Sie schon die Linie vor, oder?

Grundsätzlich ja, würde ich sagen, weil man ja sängerisch sehr im Vordergrund steht und selbst weiß, was der Stimme am besten passt. Dennoch ist es eine Duo-Zusammenarbeit mit dem Dirigenten. Aber das war mit Jordan de Souza sowieso eine Art Heimspiel. Wir haben uns kennengelernt bei „La Périchole“ in Wien, und das lief so fantastisch, dass ich ihn gefragt habe, ob er meine erste Orchester-CD dirigieren möchte. Er kommt vom Klavier und hat zig Liederabende begleitet. Man merkt, dass er wirklich ein Gespür für Atmung, für Stimme hat. Mahler ist unglaublich lautmalerisch und humorvoll, es geht viel um Bilder, oft um Tiere und Natur. In „Des Antonius von Padua Fischpredigt“ hat jedes Tier eine andere Klangfarbe im Orchester. Das muss man den Musikern zu Beginn sagen: Traut euch, ihr seid hier nicht nur Begleiter, sondern ihr malt das Bild. Und in das kann ich mich wiederum hineinsetzen und es wachsen lassen mit meiner Stimme. Das war toll bei der Aufnahme, ich stand direkt vor den Holzbläsern, also hinter den Streichern. Bei Mahler hat man oft Duette mit der Oboe oder mit den Hörnern. Und diesen Instrumenten plötzlich so nahe zu sein, die ja genau wie ich mit der Atmung zu tun haben, das war großartig. Hinzu kommt, dass ich das Gürzenich-Orchester schon mein Leben lang kenne. Mein Vater sitzt in den Geigen, er hat mit aufgenommen. Den ersten Oboisten kenne ich seit Windeltagen, mit seiner Tochter bin ich Pony geritten. Diese Nähe und Vertrautheit machen mir dann auch in der Musik das Leben leicht.

Das ist der erste Liederzyklus, den Sie aufgenommen haben, oder?

Na ja, die meisten Männer singen nach dem Studium erst mal „Dichterliebe“, „Schwanengesang“, „Winterreise“ und Co. Als Frau wird man damit groß, dass man sich die Programme selbst zusammenstellt. Wenn man einen Zyklus singt, fühlt sich das erst mal falsch an: Habe ich mir jetzt zu wenig Arbeit gemacht? Aber das ist natürlich Humbug, weil man ja auch innerhalb eines Zyklus unglaublich viele Möglichkeiten hat zu gestalten. Die Reihenfolge auf der CD wird durch Spotify und iTunes immer unwichtiger. Trotzdem mache ich mir da sehr klare Gedanken. Und durch die Kombination der „Kindertotenlieder“ und der „Wunderhornlieder“ gab es da noch mal Spielraum in der Konzeption.

Wie wichtig ist Ihnen bei der Konzeption der Text?

Sehr wichtig. Die Dramaturgie muss textlich stimmen, die Übergänge dürfen nicht zu harsch sein. Man kann nicht das „Lob des hohen Verstandes“ direkt vors erste Kindertotenlied setzen. Außerdem braucht es eine gute Mischung aus schnell und langsam, dramatisch und lyrisch, lustig und ernst. Dann ist es nicht schlecht, wenn es tonartlich halbwegs zusammenpasst, wobei ich das nicht an erste Stelle setzen würde. Und es ist auch wichtig, dass man die Leute beim Einstieg gut abholt. Ich würde zum Beispiel „Urlicht“ nie an den Anfang setzen. Die ersten Takte würden überhaupt nicht so einsinken, wie es nötig ist. „Urlicht“ ist ein Stück, das Stille davor braucht. Aber es schafft einen wunderbaren Übergang, finde ich, in die „Kindertotenlieder“.

Fragen Sie sich nicht manchmal, was Sie da für altbackene Texte singen müssen?

Jein. Natürlich gibt es Texte, mit denen man erst mal nichts anfangen kann. Aber mir ist es noch nie so gegangen, dass ich keinen Zugang zu einem Text bekommen hätte. Meine Aufgabe ist es, durch die Farben, die Interpretation, durchs Timing den Inhalt so herauszukitzeln, dass man es auch heute versteht. Das bedarf allerdings auch einer Offenheit vonseiten der Zuhörer, dass man nicht an der Oberfläche der Texte bleibt, die ja zum Teil von unserer Sprachrealität weit entfernt sind. Letztlich sind es immer universelle menschliche Themen, die da verhandelt werden und die sich im Laufe der Zeit nicht verändert haben. Ob ein Kind vor dreihundert Jahren gestorben ist oder heute, der Schmerz ist der gleiche.

Und Sie können wirklich allen Texten etwas abgewinnen?

Na gut, um „Frauenliebe und -leben“ habe ich zehn Jahre einen Bogen gemacht, bis ich gesagt habe, ich gebe dem Ganzen eine Chance. Und zu Sopranzeiten in der „Schöpfung“ das große Rezitativ der Eva, „O du, für den ich ward, mein Schirm, mein Schild, mein All“: Dass sie sich so vollkommen dem Adam unterordnet, das war sehr weit entfernt von meiner Empfindung als Frau in einer Liebesbeziehung. Aber auch das habe ich damals für mich gelöst: dass nämlich jeder dieses unglaublich rosa­rote, verliebte Gefühl am Anfang einer Beziehung kennt, wo man denkt, für diesen Mann, für diese Frau würde ich in den Abgrund springen, um ihn zu retten. Oder noch schlimmer, wenn man sich gerade getrennt hat, dann würde man alles tun, damit der andere zurückkommt. Da gab es damals zwei Möglichkeiten für mich, das zu singen. Entweder als extrem verliebt, wo man dann aber sehr aufpassen muss, dass es nicht so überspitzt klingt, dass es als sarkastisch wahrgenommen wird. Oder es sehr ironisch zu singen – was ich bei Haydn nicht falsch fand, denn wenn man sich die Korrespondenz zwischen ihm und seiner Frau anschaut, dann stellt man fest, dass sie wirklich ein Besen war. Bei „Frauenliebe und -leben“ ist es tatsächlich die gleiche Stoßrichtung. Absolute Verliebtheit, egal ob von Mann oder Frau, kann zu Unterordnung führen, ohne wirklich Macht abzugeben. Weil es ein beidseitiges Eingeständnis ist. Ich glaube auch nicht, dass man nur dann eine gute Matthäus-Passion singen kann, wenn man jeden Sonntag in die Kirche geht. Denn auch da werden universelle Themen verhandelt.

Empfinden Sie es als eine schöne Herausforderung, dass Sie diese zweite Ebene des Textes und der Sprache haben? Oder sind Sie manchmal neidisch auf die Instrumentalisten?

Beides. Wenn Instrumentalisten sich nicht explizit mit Sängern auseinandergesetzt haben und vielleicht selbst mal gesungen oder am Klavier Sänger begleitet haben, dann verstehen sie oft gar nicht, was bei uns anders ist. Warum etwa manche Silben betont werden müssen und andere nicht oder bestimmte Vokale auf bestimmten Tonhöhen schwieriger zu singen sind als andere. Es gibt einfach Kombinationen von Sprache und Ton, die besondere Herausforderungen stellen. Selbst mit Dirigenten gerät man da manchmal in Debatten. Auf der anderen Seite finde ich es wahnsinnig reizvoll, immer wieder über den Text in die Musik zu gehen. Die Gedichte zu lesen und mir zu überlegen, worauf würde ich denn den Fokus legen? Wie würde ich das verstehen? Und mir dann die Komposition anzuschauen und zu denken, ach, er hat es genauso oder auch ganz anders gesehen.

Sind Sie denn überwiegend zufrieden, wie Schubert das gemacht hat?

Natürlich. Ich habe in der Schule, da war ich ungefähr 18, für eine Facharbeit mal die „Mignon“-Vertonungen von Zelter bis Wolf verglichen. Und ich fand es verrückt, dass Goethe die Zelter-Vertonung am tollsten fand. Die fand ich am langweiligsten. Aber Zelter ist auch am nächsten dran an der Vorstellung des Textes, wenn man ihn nur so liest.

Sie haben es vorhin schon kurz anklingen lassen: Sie haben vor fünf Jahren einen Fachwechsel vom So­pran zum Mezzosopran gemacht.

Darauf werde ich in jedem Interview angesprochen. Ich würde gern als Sängerin oder Künstlerin wahrgenommen werden und nicht als zum Mezzo gewechselte Sopranistin. Deshalb bitte nur kurz: Das größte Missverständnis ist, dass man denkt, ein Sopran singt hoch, ein Mezzo ein bisschen tiefer und ein Alt singt ganz tief. Das stimmt einfach nicht. Der Ambitus der Stimme, also die Spanne zwischen dem tiefsten und dem höchsten Ton, kann bei einem Alt und einem Sopran gleich sein. Es geht um die Tessitura, also um den Bereich der Stimme, in dem man sich am häufigsten aufhält. Die Tessitura des Soprans liegt am höchsten, die des Mezzo ungefähr eine Terz tiefer, die des Alt noch mal tiefer. Das heißt aber nicht, dass wir nicht auch hohe Spitzentöne haben oder dass der Sopran nicht mal in die Tiefe geht. Als Sesto in Händels „Cesare“ singe ich zum Beispiel in fünf Arien jeweils Kadenzen bis zum hohen C. Auch eine Carmen oder eine Cenerentola hat viele hohe Töne.

Ich hatte damals den Eindruck, dass meine Höhe gleich geblieben, aber die Mittellage und die Tiefe runder geworden waren. Ich hatte einfach sehr viel Freude daran, in der Mittellage zu singen und diese als „Trampolin“ für die Höhe zu nutzen, anstatt mich ausschließlich im obersten Drittel meiner Stimme aufzuhalten. Und das konnte ich nicht oft in meinem Fach. Deshalb habe ich die Covid-Zeit genutzt, um zu sehen, wo ich denn eigentlich stimmlich stehe, und meine Technik noch mal auf links zu drehen. Das war eine einjährige technische Umstellung mithilfe einer Lehrerin, die schon diverse Fachwechsel betreut hatte. Wir haben erst mal nur Übungen gemacht, um mein Timbre weiterzuentwickeln, die Mittellage zu stärken und Übergänge, und dann habe ich mir nach und nach neues Repertoire erarbeitet.

Wie spüren Sie, wie weit Sie Ihre Stimme fordern können und ab wo es eine gefährliche Überforderung wird?

Das ist total schwer. Ich glaube, jeder reflektierte Mensch spürt, ob es ihm gut geht oder nicht. Die allergrößte Herausforderung für uns Sänger ist, unser Wohlbefinden vor unserem Umfeld zu verteidigen. Es wird immer weniger geprobt, es gibt fast keine Klavierproben mehr. Überall wird gespart, was die Zeit angeht. Zeit ist eben Geld. Und dann wird morgens um zehn Uhr eine dreistündige Generalprobe angesetzt. Wir Sänger müssen aber vier Stunden vorher aufstehen, damit die Stimme in Schwung kommt. Das heißt, wir stehen um sechs Uhr auf, damit wir um zehn Uhr singen können. Und dann findet die Generalprobe vor Publikum statt, was bedeutet, dass wir nicht markieren können. Dann sollen wir am Nachmittag noch ein kleines Interview geben, da hat die Stimme wieder keine Ruhe. Und nach dem Konzert oder dem Opernabend gibt es noch einen Empfang mit einem Gläschen Sekt. Am nächsten Tag reist man zum nächsten Ort, und am übernächsten Tag hat man wieder das volle Programm. Das ist eine Form von Terminhatz, die es früher, glaube ich, so nicht gab. Wir müssen uns an einen globalisierten Betrieb anpassen, dem die einzelne Stimme vollkommen egal ist – weil es immer einen Ersatz gibt. Da ist die ganz, ganz große Herausforderung: für mich selbst die Grenze zu finden, die ich nicht überschreiten darf, ohne mir zu schaden. Dann muss ich eben sagen, das soll jemand anders machen, der vielleicht seine Grenzen weiter stecken kann oder will. Diese Grenze durchzusetzen gegen das Unverständnis, das einem dann von außen begegnet, das ist brutal schwer.

Müssen Sie generell ein Leben in Watte führen?

Da bin ich entschieden dagegen, wie, glaube ich, die meisten meiner Generation. Das wurde uns noch im Studium gepredigt: An einem Konzerttag darfst du nicht sprechen und keine Milch trinken und keine Nüsse essen und keinen Rotwein trinken und niemals rauchen. Natürlich müssen wir sehr verantwortungsbewusst und vorsichtig mit unserer Stimme umgehen. Aber was auch nicht zu unterschätzen ist: Nur ein glückliches Vögelchen singt gut. Wenn ich mich komplett isoliere, dann ist die Stimme vielleicht in einem einwandfreien Zustand, aber sie will trotzdem nicht singen. Aber natürlich würde ich nie auf eine laute Party gehen am Abend vor einem Konzert oder Alkohol trinken oder rauchen und so weiter. Aber ich treffe mich trotzdem mit Menschen auch in der Gefahr, dass jemand eine Erkältung haben könnte. Und ich fahre sogar manchmal Zug. Gefährlich!

Was sagt die Versicherung dazu?

Ich glaube, es gibt gar keine Stimmversicherung. Als ich das erste Mal in Salzburg gesungen habe, musste ich eine zusätzliche Haftpflichtversicherung abschließen, die auch für die Bühne gilt. Ich habe damals lange mit der Versicherung telefoniert, bis die wussten, wo sie mich eingruppieren sollte. Schließlich kam ich in dieselbe Schublade wie Löwendompteure und Zirkusartisten.

Ist es nicht manchmal hart, Partien nur wegen einiger weniger Töne, die Ihnen nicht gut liegen, abzulehnen?

Das ist eine Form von Disziplin und Geduld. Wir dürfen uns da nicht verführen lassen.

Sehen Sie sich da nicht als Opfer Ihrer Stimme?

Nein, gar nicht. Es ist doch auch toll, dass man eben nicht von Anfang bis Ende seiner Karriere das exakt gleiche Repertoire zur Verfügung hat, sondern dass sich alle fünf Jahre neue Möglichkeiten eröffnen. Gut, manchmal sieht man, dies hier geht jetzt, dafür das andere nicht mehr. Das muss man akzeptieren. Ein Geiger hat mit zwanzig Jahren alle großen Violinkonzerte durchgespielt, und die spult er dann sein Leben lang ab.

Und anders als Instrumentalisten haben viele Profisänger immer noch einen Lehrer.

Ich auch, ich bin nach wie vor bei Frau Prof. Tamar Rachum, mit der ich den Fachwechsel gemacht habe. Wir Sänger hören uns nicht so, wie der Rest der Welt uns hört, weil wir die Stimme ja auch von innen hören. Das kennt jeder, der seine Stimme mal auf dem Anrufbeantworter hört. Der sagt: Huch, so klinge ich? Es ist unglaublich wichtig, dass es einen Coach gibt, der über einen möglichst langen Zeitraum die Stimme kennt und einschätzen kann, in welche Richtung sie sich gerade entwickelt, und der weiß, was ich der Stimme sozusagen abverlangen kann, was sie hergibt und was nicht.

Das ist eine enorme Vertrauens­frage.

Man muss einem neuen Lehrer einen großen Vertrauensvorschuss geben. Dass man die Stimmentwicklung einschätzen kann, ist sehr wichtig. Man kennt das, wenn man Kinder hat. Wenn Besuch kommt, der selten da ist, sagt er oft: Die sind aber gewachsen. Man selbst hat das gar nicht so mitbekommen, weil das Wachstum ja langsam vor sich geht und man die Kinder jeden Tag sieht. So ist es für uns Sänger mit der Stimme. Wir benutzen sie jeden Tag, wir nehmen die kleinen Veränderungen gar nicht so wahr.

Und die müssen Sie dann hin­nehmen.

Das ist so. Aber viel anstrengender sind die Änderungen der Tagesform, mit denen ich umgehen muss, gerade als Frau. Da gibt es zyklusbedingt riesige Unterschiede in der Stimme. Neulich hat eine Leistungssportlerin gewagt, nach einem Wettkampf im TV-Interview zu sagen, sie habe zyklusbedingt eben nicht die beste Leistung abrufen können. So ist es bei uns Sängerinnen auch. Das ist ein Thema, über das überhaupt nicht gesprochen wird. Vor fünfzig Jahren gab es an jedem Opernhaus die sogenannte Rote Liste, wo der Zyklus der festangestellten Opernsängerinnen eingetragen wurde. Und dann hat man gesehen, dass man rund um die schwierigsten Tage Kolleginnen einteilt.

Warum macht man das nicht mehr?

Aus missverstandenem Feminismus. Aber Frauen sind nicht dann emanzipiert, wenn sie exakt gleich ticken wie Männer. Sondern sie sollten die Bedingungen bekommen, die sie brauchen. Heute muss man als Sängerin zusehen, dass man es schafft, auch an schwierigen Tagen zu funktionieren, ohne dass es auffällt. Und natürlich schafft man das, wenn man professionell ist. Ein gewisses Niveau unterschreitet man dann nicht. Aber es kostet unendlich viel Kraft. Ein Musikmediziner aus Freiburg, Bernhard Richter, hat untersucht, wie sich Frauenstimmen im Laufe des Zyklus verändern. Und er sagt, eines der größten Risiken für Sängerinnen ist, dass sie kurz vor der Periode Wasser einlagern im Gewebe, Schmerzmittel nehmen und dann heftige Partien singen und ihrer Stimme dadurch dauerhaft schaden.

Warum unternehmen Sie da nichts gemeinsam mit Ihren Kolleginnen?

Weil wir nur Frauen sind. Wir werden ignoriert oder nicht ernst genommen. Das wird einfach nicht thematisiert, das ist ein Problem der gesamten Arbeitswelt. Spanien hat vor Kurzem „Periodenurlaub“ eingeführt. Ein ganz großer Schritt, von dem wir weit entfernt sind. Wobei das Wort natürlich irreführend ist: Mit Urlaub hat das nichts zu tun. Ich kenne eine fantastische Kollegin, der nach einer Fehlgeburt klipp und klar gesagt wurde, wenn sie sich am Opernhaus länger krankmeldet, wird ihr Vertrag nicht verlängert. Man muss einfach auf sich selbst aufpassen. Und natürlich ist das auch von Mensch zu Mensch unterschiedlich. Ich kenne Kolleginnen, die damit nicht viele Probleme haben. Und andere kommen überhaupt nicht vom Bett hoch und können dann gar nicht singen.

Sind Sie denn insgesamt glücklich mit Ihrer Berufswahl? Sie kommen ja aus einer Musikerfamilie in der fünften Generation, Sie hätten auch Geigerin oder Pianistin werden können.

Dazu bin ich leider vollkommen untalentiert. Nein, ich bin sehr glücklich. Vor allem, weil ich die Sprache und Texte so liebe. Ich habe in jungen Jahren tatsächlich überlegt, ob ich nicht doch in Richtung Germanistik und Journalismus gehen soll, und hatte dann die Idee, beides parallel zu studieren. Aber ich war die erste Generation Bachelor, da passte neben mein Musikstudium kein zweites Studium. Deshalb ist das Singen perfekt für mich, weil ich mich trotzdem die ganze Zeit mit Texten auseinandersetzen kann.

Werden Sie denn auch die „Kindertotenlieder“ mal wieder im Konzert singen?

Vor Kurzem hatte ich das Glück, sie mit Iván Fischer und dem Budapest Festival Orchestra in Amsterdam und Brügge zu singen. Das war wunderbar. Aber allgemein ist dieses Repertoire schwer unterzubringen.  Das will fast kein Veranstalter machen. Und unter Dirigenten herrscht ein ziemlicher Aberglaube, dass es Unglück bringe, es zu dirigieren. Mahler hat die „Kindertotenlieder“ geschrieben, als er gerade mit Alma zusammengekommen war. Alma war entsetzt, dass er sich mit diesem furchtbaren Thema auseinandergesetzt hat. Ein paar Jahre später ist dann ihre gemeinsame Tochter gestorben, und daraus wurde bald ein Zusammenhang konstruiert. Ich bin kein abergläubischer Mensch, und ich finde, dass gerade in schwierigen Zeiten schwarze Themen wichtig sind in der Kunst – weil sich daraus eine Katharsis entwickeln kann. Es ist in Ordnung, dass du traurig bist. Mahler eröffnet in den Liedern dann auch eine neue Dimension, das Jenseits, wo man sich wiedertreffen wird. Ihr Kinder seid uns nur vorausgegangen, wir haben uns nicht zum letzten Mal gesehen. Das ist eine Form des Glaubens, die nicht unbedingt nur christlich ist. Die Kindersterblichkeit ist Gott sei Dank zurückgegangen seit Mahlers Zeiten. Auf der anderen Seite ist die Zahl der Fehlgeburten viel höher als damals. Das Thema ist immer noch aktuell, und ich finde, das braucht auch eine Spiegelung in der Kunst. Sonst wird es verleugnet und wächst in den Menschen, die es betrifft, übergroß und wird dadurch noch viel furchtbarer. Ich habe das Glück, dass ich alleine dieses Jahr Mahlers zweite Sinfonie mit dem „Urlicht“ zwanzigmal singen darf, und jedes Mal fühlt es sich richtig und wichtig an zu singen: „Der liebe Gott wird mir ein Lichtchen geben, wird leuchten mir bis in das ewig, selig Leben.“

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