
Als Geiger und Gambist hat Sigiswald Kuijken ebenso neue Maßstäbe gesetzt wie als Lehrer, mit seinem 1972 gegründeten Ensemble La Petite Bande und mit seinen zahlreichen CD-Aufnahmen von Monteverdi bis Debussy. Am 16. Februar vor 80 Jahren wurde er in Dilbeek bei Brüssel geboren.
Herr Kuijken, im Text zu Ihrer neuen CD haben Sie einiges über ein Stück geschrieben, das gar nicht drauf ist, Schütz’ Musikalische Exequien.
Mich hat diese Passage immer sehr berührt – „Unser Leben währet siebenzig Jahr, und wenns hoch kömmt, so sinds achtzig Jahr.“ Deswegen habe ich darüber geschrieben. Ich lebe im Frieden mit meinem Alter. Mir lag viel daran, einmal zu sagen, dass man sich mit 80 nicht unbedingt alt fühlen muss. Oder als ob schon alles vorbei sei. Man hat in unserer Gesellschaft ja die Tendenz, das Altwerden als negativ zu begreifen und den Tod als Feind zu sehen. Dagegen möchte ich mich wehren. Und ich habe die Musikalischen Exequien vor einigen Jahren aufgenommen. Wer will, kann sie auch hören.
Studieren Sie mit beinahe achtzig Jahren selbst immer noch die Quellen?
Weniger und weniger. Ich bin froh, dass das heute viele Leute machen. Aber in meinem Leben ist diese Zeit vorbei. Ich habe früher ganz viel entdeckt und mit Freude Sachen gespielt, die niemand mehr kannte. Das war wunderbar. Aber man sieht mit der Zeit auch immer mehr ein, dass die Stücke, die bekannt sind, auch mit Recht so bekannt sind. Man kann nicht hoffen, noch einmal eine Matthäus-Passion zu entdecken. Man muss eine Balance finden zwischen der Herausforderung, die die bekannten Werke darstellen, und den vielen Werken, die auch sehr wertvoll und interessant sind.
Wo hat denn der Musiker heute die größere Freiheit: bei einer Biber- oder einer Brahms-Sonate?
Das hängt davon ab, was Sie unter Freiheit verstehen. Wenn Freiheit bedeutet, mehr Rubato spielen zu können oder viele Noten hinzuzufügen oder zu fantasieren, dann ist sie bei einer Biber-Sonate größer. Aber für mich ist Freiheit eine innere Haltung, und die äußert sich nicht durch die Menge von eigenen Hinzufügungen. Freiheit darf keine Demonstration werden, wie weit weg man von der Partitur geht. Man muss immer das spielen, was man versteht, und bei jeder Notation von Musik steht nicht alles auf dem Papier. Eine Gebrauchsanleitung ist eben nicht dabei. Lesen zu können zeigt sich auch darin, das zu verstehen, was nicht dasteht.
Wie lernt man das?
Man muss neben der Musik die Kontexte der Komposition kennen. Wenn man eine Mozart-Oper aufführt, muss man wissen, was Mozart gemacht hat und was in seiner Zeit üblich war. Man muss sich in diese Zeit einleben, in die Architektur,
Poesie, Literatur, Malerei. Das lernt man nicht genug an den Konservatorien. Ich hatte das Glück, einige Vorbilder zu haben. Gustav Leonhardt zum Beispiel, der eine große Kenntnis der gesamten Kunst- und Kulturgeschichte besaß. Ich habe mit ihm viele Städte und Museen und Kathedralen besucht.
Sie selbst mussten oder durften sich ja vieles autodidaktisch aneignen. Haben es die junge Leute heute leichter?
Es ist heute viel schwieriger, weil es so viele Musiker gibt. Wir hatten damals das Glück, uns absetzen zu können und etwas Neues anzufangen. Jetzt gibt es eine Überfülle, in der es nicht leicht ist, sich zu profilieren.
Man hat oft den Eindruck, dass in jeder neuen Interpretation noch etwas draufgepackt werden muss, damit es interessanter wird.
Ich fand immer schon, dass man nicht dauernd etwas Neues bieten muss. Es ist nur wichtig, dass Musik lebendig ist, von innen belebt. Eine Interpretation darf einer anderen Version durchaus ähnlich sein. Ich habe die Bach-Solosonaten zweimal aufgenommen. Und wenn ich das jetzt anhöre, sind die beiden Fassungen gar nicht sehr verschieden. Das muss auch nicht sein. Ich hatte einfach Lust, das noch einmal zu machen, und wenn es ähnlich ist, ist das kein Problem. Es bedeutet nur, dass meine Meinung gleich geblieben ist, meine erste Fassung hatte ich vorher nicht noch einmal angehört. Die Diktatur des Neuen ist schrecklich, ich bin da sehr radikal. In der Oper ist das sehr deutlich: Jede Inszenierung von Mozart oder Wagner muss immer ganz neu sein, und jeder Regisseur muss etwas finden, was noch keiner vor ihm gemacht hat. Das ist ein schlechter und blöder Ausgangspunkt. Man sollte sich selbst nicht zu ernst nehmen. Man muss das Stück und den Komponisten ernst nehmen.
Sie wollten ja schon im Studium keine Virtuosenliteratur spielen – auch aus Abneigung gegen so viel Selbstdarstellung?
Ich habe es immer bewundert, wenn andere das gemacht haben, und mich amüsiert, wenn ich einen brillant gespielten Paganini hörte. Die Musik ist lustig, aber ich muss sie nicht selbst machen.