
Herbert von Karajan mit seiner Frau Eliette in St. Moritz
Im September 2024 wurde bei Youtube ein faszinierendes Dokument mit Herbert von Karajan und den Berliner Philharmonikern hochgeladen: eine vollständige „Tosca“-Aufführung vom 18. oder 24. März 1989 während der Salzburger Osterfestspiele mit Luciano Pavarotti als Mario Cavaradossi, Josephine Barstow in der Titelpartie und Alain Fondary als Scarpia. Die Dirigentenkamera zeigt Karajan vom Kopf bis zum Oberschenkel, die Bewegungen der Arme und Hände sind trotz des dunklen Gesamtbildes gut erkennbar. Es ist fesselnd, unmittelbar, sozusagen aus der Orchesterperspektive, einen der bedeutendsten Dirigenten des 20. Jahrhunderts en face zu studieren – für angehende Dirigenten eine Lehrstunde in Ökonomie und Suggestion, denn Karajan agiert rein sachbezogen, offenkundig nicht wissend, dass ihn eine Kamera festhält. Trotz fehlender Druckpunkte, also gestischer Akzentuierungen, ist das Orchester überraschend genau im Zusammenspiel: Karajans vorscheinende Unbestimmtheit ist eine Genauigkeit erzielende. Vier Monate vor seinem Tod ist Karajan vom Alter gezeichnet, aber in seiner Gestik nicht eingeschränkt. Hellwach, ökonomisch, bei wichtigen Einsätzen den Blick auf die Bühne und ins Orchester gerichtet, dirigiert er ein zentrales Werk seines Repertoires auswendig, im zweiten Akt elegant ein, zwei Unstimmigkeiten mit Fondary und Pavarotti auffangend. Die von etlichen bezeugte Fähigkeit Karajans, seine Sänger wie auf Händen zu tragen, wird hier unmittelbar nachvollziehbar. Berührend, wie der Dirigent im Vorspiel zum dritten Akt die Farben und Affekte ausmalt, oft nur mit der linken Hand impressionistisch gestaltend. Trotz der schwelenden Konflikte mit seinem Orchester – einen Monat später legt Karajan sein Amt als Chefdirigent der Berliner Philharmoniker nieder – reagiert es traumwandlerisch, klangschön, expansiv auf seine Impulse. Mit dieser Aufführung kommt die Beziehung des Dirigenten mit den Festspielen zu ihrem Ende. Vor der Premiere von Verdis „Maskenball“ im Sommer des gleichen Jahrs stirbt Karajan während der Proben am 16. Juli mit 81 Jahren. Karajan und Salzburg, das ist eine besondere Verbindung, weniger weil der Dirigent dort am 5. April 1908 als Heribert Adolf Ernst Ritter von Karajan geboren wurde, sondern weil er später zielsicher die Geburtsstadt von Wolfgang Amadé Mozart zu einer zentralen Stätte seiner künstlerischen und medienpolitischen Ambitionen auszubauen wusste. Der Weltbürger Karajan, der mit charmantem Akzent fließend Italienisch, Französisch und Englisch sprach, der technikaffin Regattasegeljachten, Rennautos und Jets steuerte, war am Ende im einige Kilometer südlich von Salzburg gelegenen Dorf Anif zu Hause und ist dort still begraben worden.
Er wusste früh, was ihm die 1920 von Max Reinhardt gegründeten und bald von Richard Strauss maßgeblich unterstützten Festspiele an Möglichkeiten eröffneten. Einmal hatte er bei ihnen mitgewirkt, als er 1933 die Bühnenmusik für Max Reinhardts „Faust“-Inszenierung geleitet hatte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs ohne Ämter und wesentliche Einkommen, konzentrierte er sich als schwer belastetes NSDAP-Mitglied auf einen baldigen Freispruch. „Man ist einfach hineingetorkelt. Ich habe nichts anderes gewollt, als in Ruhe meine Musik zu machen“, exkulpiert sich Karajan vor den Spruchkammer-Kommissionen. Währenddessen hilft ihm der englische Schallplattenproduzent Walter Legge: Während Karajan noch für öffentliche Auftritte gesperrt ist, ermöglicht Legge ihm Plattenproduktionen mit den Wiener Philharmonikern. Das entfacht erneut die seit vielen Jahren glimmende Eifersucht von Wilhelm Furtwängler, der ebenfalls von Legge für das Label His Master’s Voice unter Vertrag genommen war. Sie rührt von 1938, als der dreißigjährige Karajan im April bei den Berliner Philharmonikern und im Herbst an der Berliner Staatsoper Unter den Linden debütiert hatte. Nach einem „Fidelio“ war es besonders die Aufführung von „Tristan und Isolde“ am 21. September, die zu der sprichwörtlich gewordenen Überschrift der Kritik von Edwin van der Nüll in der „B.Z. am Mittag“ führte: „Das Wunder Karajan“.