
Georg Philipp Telemann (1681-1767) Aquatinta von Valentin Daniel Preisler nach einem verschollenen Gemälde von Ludwig Michael Schneider
Die Uraufführung fand in einer Auktionshalle für Rinder statt. Rund 10.000 Menschen hatten in diesem Riesenstall im dänischen Odense Platz, es war der Juli 1922, und beim dritten nationalen Chorfestival Dänemarks stand die Uraufführung eines neuen Werkes von Carl Nielsen auf dem Programm. 800 Chorsänger waren auf der Bühne, dazu ein hundertköpfiger Kinderchor und ein großes Orchester – Dimensionen wie bei Gustav Mahlers Achter, die den Beinamen „Symphonie der Tausend“ erhielt. Nur dass es sich bei Nielsen nicht um eine Symphonie handelte, sondern um eine „lyrische Humoreske“: die Kantate „Fynsk Forår“ – „Frühling auf Fünen“. Weder der Komponist noch der Textdichter Aage Berntsen ließen sich bei der Uraufführung blicken; möglich, dass die Aussicht auf ein tausendköpfiges Spektakel die Reiselust der beiden Schöpfer auf Null reduzierte. Später wurde Nielsen jedenfalls nicht müde zu betonen, dass das Werk für eine nur kleine Besetzung gedacht sei: kleiner Chor, kleines Orchester. Denn „leicht und heiter und anmutig“ sollte diese Frühlingskantate klingen. Vor diesem Hintergrund muss die Uraufführung wohl als ein Missverständnis gelten zu einer Zeit, da gerne in großen Dimensionen gedacht wurde und Nielsens Forderung nach Einfachheit und Humor eher ungewöhnlich war.
Vier Monate später brachte der Komponist das Stück selbst zur Aufführung in Kopenhagen, in der kleinen Besetzung, die ihm vorschwebte, und schloss dabei wohl nicht nur seinen Frieden mit den Umständen der Uraufführung, sondern auch mit dem Werk selbst, das er lange mit sich herumgeschleppt hatte. 1917 hatte der dänische Chorverein einen Text-Wettbewerb ausgeschrieben, dessen Preis exquisit war: Die Gewinner-Dichtung sollte vom berühmtesten Komponisten des Landes vertont werden. Sieger wurde Aage Berntsen, der nicht nur dichtete, sondern auch Arzt war und Sportler: Drei Jahre später nahm er als Fechter an den Olympischen Spielen in Antwerpen teil. Da hatte Nielsen noch keine Note komponiert. Erst 1921, nachdem er den ersten Satz seiner fünften Symphonie vollendet hatte und nicht recht wusste, wie es weitergehen sollte, machte er sich ans Vertonen von „Frühling auf Fünen“, spielte immer wieder mit dem Gedanken, die ganze Sache hinzuschmeißen, um dann doch eines Tages den passenden „Ton und den Stil“ zu finden, „der eine leichte Mischung aus Lyrik und Humor sein wird“.
Warum tat sich Nielsen so schwer? Beschwerden über die leichtgängige Textdichtung („Es blühen schon die Schlehen, / und munter wird der Dachs. / Mein Kreisel soll sich drehen / und springen wie ein Lachs“) sind nicht überliefert. Denkbar wäre, dass ihm das Thema so nah war, dass er nicht wusste, wo beginnen. In seinem schönen Aufsatz „Das fünische Lied“ hat der literarisch begabte Komponist einmal nahezu verliebt vom ganz eigenen, „fünischen“ Ton berichtet, der bei allen Lautäußerungen auf der Insel zu vernehmen sei: „Die Bienen summen auf ihre eigene Weise mit einem besonderen, fünischen Klang, und wenn die Pferde wiehern und die roten Kühe brüllen, hört doch wohl ein jeder, dass es anders tönt als im übrigen Land. Die Glocken läuten und die Hähne krähen auf fünisch, (…) auch die Stille singt in demselben Ton, und selbst die Bäume träumen und sprechen im Schlaf die Sprache der Fünen.“ All das muss sich Nielsen aufgedrängt haben beim Gedanken an den „Frühling auf Fünen“. In welchen „Ton“ und in welchen „Stil“ aber die Fülle fassen, zumal simple Illustration und Nachahmung Nielsens Sache nicht war?
Dass das Genre der „Frühlingskantaten“ (und ebenso ihre Diskographie) so dünn – dabei aber exquisit – bestückt ist, dürfte auch mit solchen Problemen zu tun haben, mit denen wohl nicht nur Nielsen zu kämpfen hatte. Dass der Frühling die Menschen zum Singen treibt, greift die Form der Kantate in professionalisierter Weise auf. Zugleich sind die Komponisten mit der Forderung nach Einfachheit, ja Volksnähe konfrontiert. Denn kompliziert oder ambivalent ist am Frühling ja eigentlich nichts: Empfindungen von Freude, Harmonie, Erleichterung, Liebe herrschen vor, und die sind besonders unverstellt vielleicht behandelt im Volkslied. Die „Kunstmusik“ hingegen muss sich um Einfachheit bemühen und um Lauterkeit, will sie in diesem Fall nicht belanglos sein oder im Kitsch enden. Ein Problem, dessen sich Carl Nielsen sehr bewusst war.
In einem weiteren Aufsatz, betitelt „Musikalische Probleme“, forderte er genau solche Einfachheit ganz generell von der Musik, verweist auf die Verwendung „einfacher“ Intervalle (etwa die Kuckucks-Terz), führt Mozarts Melodien als vorbildlich an und nennt Wagners Brünnhilden-Motiv als negatives Beispiel, das ihm mit seinen gespreizten Intervallen „hässlich“ und „veraltet“ erscheint und in seiner Überschwänglichkeit „unerträglich“. Tatsächlich gelang Nielsen in „Fynsk Forår“ das Kunststück einer volksliedhaften Simplizität, die doch eingebunden bleibt in die harmonischen und klangfarblichen Möglichkeiten, die ein großes Ensemble bereithält. Die fehlenden Gegensätze beim Thema „Frühling“ gleichen er und sein Librettist aus mit einer multiperspektivischen Betrachtungsweise: Zu Wort kommen die Alten und die Jungen, ein unglücklicher Liebhaber und ein blinder Spielmann, der gleichsam zum Hören verdammt ist. Strophisches Lied findet sich ebenso wie A-cappella-Chorsatz und großes, mild durchwehtes Orchesterlied.
Etwa zur gleichen Zeit komponierte Ottorino Respighi seine großangelegte Kantate „La primavera“ (uraufgeführt 1923), die in vielem das Gegenstück ist zu Nielsens „lyrischer Humoreske“ – drei Mal so lang, in den klanglichen Rückgriffen auf Strauss, Mahler, Wagner und Debussy durchaus monströs, einnehmend in der erlesenen Parfümiertheit seiner mediterranen Klänge, mit der Absicht zu überwältigen im hymnischen Schluss: Der Frühling wird mit dem Leben selbst gleichgesetzt. Eine Art-Déco-Installation, die gleichwohl ähnlich perspektivenreich angelegt ist wie „Fynsk Forår“. Auch in den Texten des armenischen Dichters Gostan Zarian (1885-1969) melden sich Alt und Jung zu Wort, ebenso Lüfte, Wasser und Blumen in personifizierter Weise; eine raunend in Gang gesetzte Liebesgeschichte kommt zum erfolgreichen Abschluss. Auch Respighi versucht sich an der Einfachheit, lässt Motive mantraartig kreisen, Rhythmen im Ostinato wiederholen, all das aber eher, um durch die Kraft der Vereinfachung (oder nennen wir es ruhig Populismus) zu überwältigen. Mag sein, dass Gostan Zarians eher schwülstige Dichtung ihren Teil beitrug zum ästhetischen Scheitern des Projektes.
Als Georg Philipp Telemann 1720 seine Kantate TWV 20:10 schrieb, griff er auf einen ebenfalls nicht unproblematischen Text zurück. Barthold Heinrich Brockes, beliebter Textdichter der Bach-Zeit, formte in seinem „Singgedicht im Frühling“ die Anfangszeile „Alles redet itzt und singet“ sehr wörtlich aus und lässt nun zwischen Himmel („geflügelte Bürger beblätterter Zweige“) und Erde („es quakt der feuchte Frosch“) kaum ein geläufiges Tier unerwähnt. Telemann, als Hamburger Director Musices auch begeisterter Hobbygärtner mit eigenem Grünstück vor dem Stadttor, lässt sich die Gelegenheit nicht entgehen und setzt das Krähen, Quaken, Muhen und Wiehern aus Brockes‘ Text fröhlich illustrierend für Streicher, zwitschernde Blockflöten und Sopran- und Bass-Solisten. Die durchaus ermüdende Litanei hat gleichwohl ihren dramaturgischen Sinn, der so recht erst ganz am Ende erkennbar wird: Wenn alles, was kreucht und fleucht den Schöpfer lobt, wo bleibt da die Stimme des Menschen? „Laß (…) Gott ein Danklied widerschallen!“ lautet daher die Aufforderung, mit der die Kantate zu Ende geht.
Etwa zur gleichen Zeit schrieb Johann Sebastian Bach seine weltliche Kantate „Weichet nur, betrübte Schatten“ BWV 202. Als „Hochzeits-Kantate“ bekannt geworden, komponierte sie Bach vermutlich während seiner Köthener Jahre als Frühlings-Kantate. Der Text, möglicherweise vom Weimarer Dichter Salomon Franck, widmet sich jedenfalls der „neugebornen Welt“, in der Apollon unter dem Pferdegetrappel des Basso continuo Einzug hält. Auf dem Fuß folgt Amor, der das Wiederaufkeimen von Liebe und Lust beobachtet („Sich üben im Lieben / in Scherzen sich herzen“). Am Ende erst gibt es für ein Hochzeitspaar Segenswünsche, die der Kantate zu ihrem Titel verhalfen. Der Grad der Innerlichkeit ist beispiellos im Kreis der Frühlingskantaten, Illustratives reiht sich ein ins Vokabular eindringlicher Klangrede. Wenn in der Eingangsarie in aufsteigenden Streicherakkorden die „betrübten Schatten“ weichen wie aufsteigender Dampf, dann fährt darin auch eine zunächst noch präsente Traurigkeit gen Himmel. Wenn es heißt „Frost und Winde, geht zur Ruh!“, dann haben die sanft absteigenden Sextakkorde eine tröstlich-lösende Ausdruckskraft, die man später „romantisch“ nennen sollte. Auch bei Bach blasen die „Frühlingslüfte“ – und entfernen sich im dreifach gestaffelten Diminuendo der Solo-Geige. Und im Oboen-Solo der Arie „Sich üben im Lieben“ findet sich eine Simplizität der Harmonik wie selten bei Bach. Auch der Leipziger Thomaskantor scheint vom Frühling auf den Pfad der Einfachheit geführt worden zu sein. So recht abnehmen will man ihm den einfachen Ton dieser Sopran-Arie aber nicht.
Als sich sein Sohn Carl Philipp Emanuel rund fünfzig Jahre später ebenfalls an die Komposition einer Kantate „Der Frühling“ für Tenor und Streicher machte, griff er auf eine Hymne Christoph Martin Wielands zurück. Der besingt die Freude als „Schwester des Frühlings“, die den Menschen beflügelt und ihn hinauf zum Göttlichen erhebt. Mit knapp zehn Minuten Dauer ist sie die kürzeste der Frühlingskantaten, in der Ausgestaltung gleichwohl eine der dichtesten: mit Erleichterungs-Seufzern und gewundener Harmonik ein Kind des „empfindsamen Stils“, in der Bildhaftigkeit der Darstellung aber weit vorausweisend. Wenn das lyrische Ich von der Freude in die Wolken erhoben wird und nun die Natur unter sich grünen sieht, dann dünnt sich das musikalische Geschehen ähnlich aus wie später, wenn Richard Strauss’ „Alpensinfonie“ auf dem Gipfel Station macht: Der aufsteigenden Linie geht zusehends der Sauerstoff aus, übrig bleibt ein dünnes Unisono, das bald ganz verstummt. Chromatischer Schwindel erfasst das lyrische Ich nun beim Blick nach unten.
Auf der Kurzstrecke seiner Hymne kommt Wieland ohne schärfere Kontraste aus. Um einen längeren Text zu formen, greift der italienische Librettist Pietro Metastasio hingegen zu einer List: In seiner „Primavera“ weckt der Frühling ganz ambivalente Gefühle – seine Ankunft bedeutet nicht nur Freude, sondern auch, dass der Geliebte nach der Winterpause wieder in den Krieg ziehen muss. Das weibliche Ich verflucht den Krieg und schreibt dem Scheidenden ins Stammbuch, in der Ferne immer das Andenken zu wahren.
Johann Gottlieb Graun, als Konzertmeister der Hofkapelle Friedrichs II. ein Kollege von Carl Philipp Emanuel Bach, vertonte den Text mit schwermütigen Gamben-Klängen, aber auch mit funkensprühender Dramatik. Denselben Text nahm sich auch Joseph Martin Kraus vor, aus dem Odenwald stammender Kapellmeister am Hof in Stockholm. Einmal mehr zeigt diese Vertonung, warum man Kraus den „Odenwälder Mozart“ nannte: Hinreißend sind die Melodien, die ihm eingefallen sind, sie atmen Mozartsche Anmut, Schönheit und Gesanglichkeit und fügen sich in ein Ganzes von opernhafter Dramatik. Eine Bravour-Arie steht am Ende dieser Kantate, in weiblichem Furor fegt der Solo-Sopran über das Chaos der kriegerischen Männerwelt hinweg; die Bitte, im Feld immer an die Daheimgebliebene zu denken, wird zum selbstbewusst platzierten Befehl.
Am weitesten bei solcher Dramatisierung des Sujets geht Sergej Rachmaninow, der für seine Kantate „Frühling“ für Bariton, Chor und Orchester ein Gedicht von Nikolai Nekrassow (1821-78) zur Vorlage nahm. Der Frühling erscheint hier als Macht, die den Menschen vom Bösen abhält. Ein Mann wurde von seiner Frau betrogen, den Winter über sinnt er auf Rache („Das Beil liegt schon bereit“), doch der Frühling hellt seine Gedanken auf: „Es weicht von mir der finstere Plan“, in triumphalem Gesang intoniert der Chor die Moral der Geschichte: „O duld’, so lang’ Du dulden kannst / Gott sei Richter Dir!“ Dass der Mann, wohl ein Bauer, gleich an die Ermordung seiner Frau denkt, verstört, reiht sich aber ein in eine Vielzahl an Beispielen, wo in der russischen Literatur Gewalt thematisiert wird. Gerade Nikolai Nekrassow kommt in seinen Gedichten immer wieder darauf zurück. Rachmaninow, 30 Jahre alt, kleidet das Sujet in einen Mantel aus warmer Schwermut und stillem Erschrecken. Das Gefühl des Winters herrscht noch vor, wenn zu Beginn die tiefen und dunklen Klangfarben dominieren: Fagotte, Violoncelli, Bassklarinette. Später rauscht zwar der Frühling in weiten Hornkantilenen und emsig webenden Streichern, so ganz frei von klammem Gefühl wird man als Hörer aber nicht: Das Orchesternachspiel erzählt erneut von der Brüchigkeit aller
Harmonie.
Damit ist Rachmaninows Kantate nicht zuletzt textbedingt weit entfernt vom lyrischen Humor Carl Nielsens oder von der subtilen Poesie Benjamin Brittens. Der schrieb Mitte der 1940er Jahre im Auftrag von Sergei Koussevitzky seine „Spring Symphony“, die gleichwohl näher an der Kantate angesiedelt ist als an der Symphonie. Englische Dichtung des 16. und 17. Jahrhunderts wählte Britten dafür aus, angeregt von einem „besonders wundervollen Frühlingstag in East Suffolk“, außerdem ein Gedicht seines Freundes H. W. Auden.
Der Kraft dieser Dichtung näherte sich Britten nahezu zärtlich: Die Musik trägt den Text auf Händen, umsichtig und klanglich phantasievoll – bis hin zum munter sich drehenden Finale, in dem der Quart-Ruf eines Kuhhorns für dezent archaische Anmutung sorgt. Einfachheit findet Britten in der Konzentration klanglicher Mittel: Oft begleiten nur wenige Instrumente die Sänger, so allein die Trompeten im Lied vom „Merry Cuckoo“, dem fröhlichen Kuckuck. Ganz keck lassen sie die Kuckucks-Terz schallen, die auch am Anfang von Carl Nielsens „Fynsk Forår“ steht, von den ersten Geigen in einem rhythmischen Ornament ausgebreitet. Bald wehen linde Lüfte darum – Bratschen und Hörner in wohligen Terzen, getragen von einem sonoren Orgelpunkt in Bässen und Celli: „Wie ein grüner Fleck im schmelzenden Schnee, / (…) liegt die Insel Fünen in der Silbersee.“