
Warum wurde ein Italiener aus der Hochrenaissance im romantischen Deutschland zum Inbild „reiner Kirchenmusik“? Bereits im 17. Jahrhundert begann die Verehrung Palestrinas – und sie hielt an wie bei keinem anderen Komponisten. Johann Joseph Fux machte in seinem didaktischen Klassiker „Gradus ad Parnassum“ (1725) die von ihm so verstandene palestrinische Kontrapunktlehre zur Norm, der Generationen von Kompositionsschülern folgten. Hier standen noch nicht der Künstler und seine Kunst, sondern sein Werkzeug und seine Technik im Vordergrund: ein Regelkanon der Dissonanzbändigung und Stimmführung. Ein „romantischer“ Palestrina, der gleichsam als historische Gestalt die Gegenwart zu prägen schien, gewann erst im 19. Jahrhundert Kontur. Wie kam es dazu? Historismus lag um 1800 in der Luft, und Palestrinas Musik wurde geschätzt als klar, ausgewogen, natürlich, dabei kunstfertig und expressiv, ohne je ekstatisch zu werden. Seine Mystifizierung ging mitunter jedoch so weit, in ihm den „Jesus Christus der Musik“ zu sehen, wie es Alexandre-Étienne Choron 1811 tat. Dazu trug auch E. T. A. Hoffmann entscheidend bei, der es 1814 in seinem Aufsatz „Alte und neue Kirchenmusik“ auf den Punkt brachte: „alles Weltliche verachtend und verschmähend ... es ist wahrhafte Musik aus der andern Welt“.
Zum Funken wurde dann eine Biografie: Giuseppe Baini veröffentlichte 1828 (ein Jahr vor Felix Mendelssohns triumphaler Wiederaufführung von Bachs Matthäus-Passion) seine „Memorie storico-critiche della vita e delle opere di G.P. Palestrina“. Das Buch machte den Komponisten zum princeps musicae und knüpfte ihn an die Legende vom Konzil von Trient, das die Kirche und die Kirchenmusik neu ordnen und einrichten wollte. Demnach habe Palestrina 1555 mit seiner „Missa Papae Marcelli“ bewiesen, dass mehrstimmige Kirchenmusik verständlich und würdig sein könne, und damit das drohende Verbot der Polyphonie abgewendet. Historisch ist das so nicht haltbar; das Konzil hat keine allgemeine Polyphonie-Sperre verhängt, Palestrina war kein einzelner Retter, die Messe sowieso schon vorher fertig. Aber die Legende wirkte stark: Sie gab Palestrina in der katholischen Welt des 19. Jahrhunderts die Rolle eines musikalischen Heiligen, eines Maßstabs für „wahre“ liturgische Kunst.
Das fiel gerade im deutschsprachigen Raum auf fruchtbaren Boden. Nach den napoleonischen Umbrüchen erstarkte eine kirchliche Erneuerungsbewegung, die sich auch musikalisch von der Opernästhetik lösen wollte, die vielerorts den Gottesdienst dominierte. In dieser Atmosphäre gewann Palestrina Autorität als Gegenfigur zum Bühnenpathos: still, transparent, textnah, kontemplativ. Zugleich befeuerte der Historismus das Interesse an alten Quellen, Methoden und Stilen. Wie die Berliner Sing-Akademie unter Carl Friedrich Zelter bei Bach und Händel historische Bodenhaftung suchte, sehnte sich auch die katholische Kirchenmusik nach einem „gereinigten“ Fundament.
Institutionell trug vor allem Regensburg Palestrinas Wiederaufstieg. Carl Proske (1794-1861) sammelte und edierte ab den 1830er Jahren alte Kirchenmusik in seiner Reihe „Musica Divina“. Franz Xaver Haberl gründete 1874 die Kirchenmusikschule in Regensburg, leitete den Allgemeinen Cäcilien-Verband für Deutschland und war treibende Kraft der ersten großen Gesamtausgabe Palestrinas bei Breitkopf & Härtel. Diese Edition machte viele Werke zugänglich und prägte mit reichlichen editorischen Eingriffen das Bild vom Palestrina-Klang. Zugleich etablierte sich mit der Cäcilienbewegung ein Kanon dessen, was man als liturgisch angemessen erachtete: a cappella, klare Textbehandlung, modale Wendungen und diszipliniert behandelte Dissonanzen, Verzicht auf instrumentale koloristische Zugaben. Palestrina als Ideal zu folgen, hieß aber nicht, zurückzublicken und nachzuahmen, sondern Normen und Regeln zu folgen. Was das für die neuen Werke bedeutete, wird noch zu sehen sein, aber für das Fach der Musikwissenschaft und die praktische Musizierausbildung wurde die systematischere und professionellere Beschäftigung mit Alter Musik zu einem wesentlichen Motor.
Fürs Komponieren im 19. Jahrhundert indes hieß es: Der Kontrapunkt erwachte zu neuem Leben. Kanon, Imitation und Fuge blieben ohnehin vital, alte Formen wurden neu gefüllt oder neue entwickelt. A-cappella-Werke rückten wieder stärker in den Mittelpunkt des Komponierens für Chöre. Und damit wurde Chorkomponieren ein eigenständiges Feld, nicht bloß Nebenprodukt des Bühnen- oder Orchesterbetriebs.