
Er wurde 1876 als Hermann Wolf in Venedig geboren, studierte in Rom und München, lehrte als Professor am Mozarteum in Salzburg, lebte den Großteil seines Lebens in München und Umgebung und starb 1948 in Venedig. Als Ermanno Wolf-Ferrari (nach dem Geburtsnamen seiner Mutter) wurde er einer der erfolgreichsten Komponisten seiner Zeit, heute ist seine Musik kaum noch zu hören. Friedrich Haider setzt sich seit Jahren für die Musik Wolf-Ferraris ein. Der Österreicher war Chefdirigent der Opéra national du Rhin in Straßburg und der spanischen Oviedo Filarmonía und wurde für seine Einspielung der Werke Wolf-Ferraris unter anderem mit dem Preis der Deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet. So war er sofort bereit, über den Jubilar Auskunft zu geben – was er im Videocall aus seinem Wohnhaus im Norden Dänemarks tat.
Herr Haider, runde Jubiläen sind oft ein Anlass, Komponisten einen Schwerpunkt zu widmen. Vom 150. Geburtstag Wolf-Ferraris bekommt man auf den Spielplänen nicht viel mit. Warum ist das so?
Ja, leider, selbst in Venedig nicht, wo er geboren wurde, dort wäre es ja absolute Pflicht. Ich verstehe es aus mehreren Gründen nicht. Zum einen haben wir es mit Musik von enormer Qualität zu tun. Zum anderen gehörte Ermanno Wolf-Ferrari zu Lebzeiten zu den meistaufgeführten Komponisten weltweit, jedenfalls bis zum Zweiten Weltkrieg. Vielleicht müsste man einmal Anthropologen, Kulturwissenschaftler und Soziologen heranziehen, um zu ergründen, warum sich die Gesellschaft für manche Kunstwerke interessiert und warum sie anderen mit Desinteresse begegnet. Aber ob solche Phänomene überhaupt ergründet werden können, ist zu bezweifeln.
Können Sie sich noch an Ihre erste Begegnung mit der Musik von Wolf-Ferrari erinnern?
Oh ja, das war 2002 in einem Antiquariat in London. Es gab dort ein kleines Fach mit Musikalien, in dem ich einen Klavierauszug seiner Oper „Il segreto di Susanna“ (Susannens Geheimnis) entdeckte. Den Namen Wolf-Ferrari hatte ich schon einige Male gehört, kannte seine Musik aber überhaupt nicht. Und in diesem Antiquariat beginne ich also, mir die Ouvertüre anzuschauen, mit ihrem unbeschreiblichen Esprit. Eine Musik, verliebt in das Leben selbst, voll Übermut und Seligkeit zugleich. Und auch handwerklich meisterlich gemacht. Dann blättere ich weiter – und bin vollkommen überwältigt!
Das hat allein der Notentext in Ihnen ausgelöst?
Ja, innerlich hat es sofort geklungen. Ich habe mich dann auf die Treppenstufen gesetzt und fast eine Stunde lang in diesem Klavierauszug gelesen, bis der Besitzer des Ladens meinte, er müsse jetzt schließen. Danach habe ich noch im Hotel weitergemacht – und was soll ich sagen: Das alles hatte eine elementare Wirkung auf mich. Ich war wie im Fieber! Seither lässt mich diese Musik nicht mehr los.
Wie ging es nach London weiter?
Ich habe sofort begonnen, nach Partituren, Noten und Tonaufnahmen zu suchen, doch es gab fast nichts. Manches war bei Verlagen leihbar, aber nur das wenigste auch käuflich, vor allem antiquarisch. Bald darauf hatte ich eine Einladung vom Münchner Rundfunkorchester, und man hat mich nach einem Programmwunsch gefragt. Natürlich war mein Vorschlag, die „Susanna“ konzertant zu machen. Ein paar Jahre später wurde ich Chefdirigent der spanischen Oviedo Filarmonía, mit der ich dann einen richtigen Wolf-Ferrari-Zyklus und die „Susanna“ eingespielt habe. So ging es los.
Ein Vorwurf an Wolf-Ferrari – den es auch schon zu Lebzeiten gab – ist, dass er nicht den Strömungen seiner Epoche gefolgt ist, sondern zeitlebens an der Tonalität festhielt.
Ja, aber was ist das für ein absurdes Argument? Die Tonalität ist nichts anderes als ein Gestaltungsmittel und in keiner Weise ein künstlerischer Qualitätsbegriff. Ein Teil der Musikwissenschaft ist der irrigen Meinung, Tonalität verhalte sich wie eine lineare Zeitkurve, an der man die Ausweitung der Harmonik als Fortschritt ablesen könne. Und ich frage mich: Wie kann es überhaupt sein, dass ein Künstler für das zur Rechenschaft gezogen wird, was er aus einer inneren Notwendigkeit heraus geschaffen hat? Am schönsten hat es Wolf-Ferrari selbst einmal ausgedrückt, als er meinte, dass die wesentliche Kraft der großen Meister in jener liege, die man die erneuernde nennen könnte. Eine Kraft, die befähigt, mit allereinfachsten harmonischen Beziehungen, solchen, die man schon längst kennt, eine Wirkung zu entfalten, als würde man sie zum ersten Mal erleben. Und er führt die C-Dur-Glorie von Wagners „Meistersingern“ an, die die revolutionäre Chromatik des „Tristan“ ablöst. Ein Fortschritt im Blick zurück.
Ein unberechtigter Vorwurf also …
Sein harmonischer Raum ist ja keineswegs eingeengt. In seiner Oper „I gioielli della Madonna“ (Der Schmuck der Madonna) dringt er überraschenderweise auch einmal in das Terrain des Verismo vor, den er auf seine ganz eigene Weise kultiviert. Es wird dort ein Bild des „schönen Neapel mit seinen tausend Farben“ besungen, das Bürger, Handwerker, Kirche und sogar die Camorra gemeinsam auf die Bühne bringt. Nicht aber als folkloristisches Tableau. Das Unheil wurzelt in dieser Geschichte in kultischer und religiöser Besessenheit. Mit hochdramatischer Zuspitzung bewegt die Musik sich am Ende in harmonische Regionen, die stellenweise nicht mehr so einfach zu deuten sind. Der Umgang mit der Harmonik ist bei Wolf-Ferrari also niemals Selbstzweck, sondern entsteht aus einer klaren dramaturgischen Intention.