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Musikgeschichte
Ein Grandseigneur der Violine
Als Virtuose eroberte er die Welt, mit seinen Piècen „Liebesfreud“ und „Liebesleid“ schuf er Evergreens. Am 2. Februar jährt sich Fritz Kreislers Geburtstag zum 150. Mal
Von
Norbert Hornig

Es gibt Musiker, um die sich Legenden ranken, die Geschichte geschrieben haben und die Vorbilder wurden für die Generationen, die nach ihnen kamen. Zu diesen Ausnahmeerscheinungen gehörte der am 2. Februar 1875 in Wien geborene Fritz Kreisler. Was machte die Faszination dieses charismatischen Geigers aus, dem man gern schon applaudierte, bevor sein Bogen überhaupt eine Saite berührt hatte? Sofort, als das „Wunderkind“ Fritz Kreisler auf der Weltbühne der Musik erschien, lag ihm das Publikum zu Füßen. Man sprach in Superlativen über ihn. Zeitzeugen berichten von Kreislers einzigartiger Präsenz auf dem Podium, seiner Ausstrahlung, seinem charmanten und aufrichtigen Naturell. Auf seine Zuhörer wirkte er authentisch, menschlich und echt. Der Geiger und Violinpädagoge Josef Gingold brachte es so auf den Punkt: „Wenn er aufs Podium trat, forderte seine majestätische Haltung Aufmerksamkeit, noch bevor er eine einzige Note spielte. Wenn er aber erst einmal seine Geige unter das Kinn legte, war er völlig verwandelt. Eine gewisse Bescheidenheit und Demut zeigten sich, wie wenn er sagen wollte: ‚Ich würde gern für Sie spielen.‘ Es kam mir vor, als ob Kreisler für jeden Zuhörer im Publikum persönlich spielte, eine solche Ausstrahlung hatte er.“

Nicht weniger beeindruckt war der Geiger Oscar Shumsky, der in seinen späteren Jahren die vielen kleinen Kreisler-Piècen einspielte: „Wer Kreisler nie im Konzert hat spielen hören, kann sich unmöglich vorstellen, welch großen Eindruck sein prachtvoller Ton und seine vitale Persönlichkeit hinterließen. Die vorhandenen Aufnahmen können nur einen ganz schwachen Eindruck dessen vermitteln, was uns heute fehlt.“

Als prominenter Zeitzeuge berichtete auch David Oistrach. 1937 hörte der frischgebackene Gewinner des Eugène-Ysaÿe-Violinwettbewerbs in Brüssel zum ersten Mal ein Recital mit Kreisler und machte aus seiner Begeisterung keinen Hehl: „Wunderbar! Allein dafür hat sich das Kommen gelohnt. Wenn man mich fragen würde, welcher europäische Musiker den stärksten Eindruck auf mich gemacht hat, würde ich ohne zu zögern antworten: Kreisler!“ Nach seinem Debüt in der New Yorker Carnegie Hall 1955 lernte Oistrach sein Idol dann persönlich kennen: „Auch Fritz Kreisler kam in meine Garderobe und lud mich zu sich nach Hause ein. Endlich konnte ich mit diesem köstlichen Mann, diesem unvergleichlichen Musiker allein sprechen.“

Die Lebensgeschichte von Fritz Kreisler liest sich wie ein Märchen, unglaublich, abenteuerlich. In diesem einzigartigen Künstlerleben lagen Glück und Unglück eng beieinander. Wir schauen auf ein Genie, das Höhen und Tiefen durchlebte, die Musikwelt im Sturm eroberte und ein grandioses Erbe hinterließ in seinen Aufnahmen, Kompositionen und Arrangements. Am Anfang stehen unglaubliche Geschichten über ein „Wunderkind“, das die Notenschrift beherrscht haben soll, bevor es lesen und schreiben konnte. Der Vater erteilte ihm den ersten Unterricht, im Alter von sieben Jahren trat der Kleine zum ersten Mal öffentlich auf. Schnell wurde der offensichtlich Hochbegabte in die Klasse von Joseph Hellmesberger jr. am Wiener Konservatorium aufgenommen, Unterricht in Harmonielehre und Komposition erhielt er dort bei Anton Bruckner! Ausgezeichnet mit einer Goldmedaille und mit einem Stipendium unterstützt, setzte er seine Ausbildung am Pariser Konservatorium bei Joseph Massart und Léo Delibes fort. Wieder wurde ihm eine Goldmedaille zuerkannt. Es folgte die erste USA-Tournee mit dem Pianisten Moritz Rosenthal als Klavierbegleiter, und der erst 14-jährige Kreisler fühlte, wie es ist, im Rampenlicht zu stehen.

Bevor seine internationale Karriere richtig Fahrt aufnahm, schloss Kreisler seine Schulausbildung ab, studierte zwei Jahre Medizin und absolvierte den Militärdienst. Es mutet geradezu kurios an, dass er ein Probespiel für eine Stelle als Geiger beim Wiener Hofopernorchester verpatzte. Doch der Misserfolg animierte ihn, noch einmal intensiv zu üben und nach Perfektion zu streben. Die durchschlagenden Erfolge ließen nicht lange auf sich warten. Seine Debüts bei den Wiener Philharmonikern unter Hans Richter 1898 und ein Jahr später bei den Berliner Philharmonikern unter Arthur Nikisch katapultierten den jungen Kreisler in die geigerische Weltelite. Konzertverpflichtungen in ganz Europa und den USA folgten. Die Debüts in der Carnegie Hall im Jahr 1900 und in London 1902 markierten weitere Höhepunkte seiner frühen Karriere. Schnell wurde der Name Kreisler zum festen Begriff. Was Caruso für den Gesang, Paderewski für das Klavier und Casals für das Violoncello bedeuteten, das war Kreisler auf der Violine.

Zu seinen Klavierpartnern zählten unter anderem Ferruccio Busoni, Leopold Godowsky, Josef Hofmann und Sergej Rachmaninow. Häufig spielte er Klaviertrio mit Pablo Casals und den Pianisten Harold Bauer oder Ignaz Paderewski. Regelmäßig konzertierte er mit dem New York Philharmonic unter Gustav Mahler, spielte Violinkonzerte von Camille Saint-Saëns und Max Bruch unter Leitung der Komponisten. 1910 war er in London Solist der Uraufführung von Edward Elgars Violinkonzert unter der Leitung des Komponisten. Das Konzert sorgte für enormes Aufsehen, nun galt Kreisler als „König der Geiger“. Bis zum Beginn des Ersten Weltkrieges war Kreisler in den USA so gefragt, dass er mehrere Monate in New York lebte. 32 Konzerte in 30 Tagen spielte er in dieser Zeit einmal, was Rachmaninow zu der Bemerkung veranlasste: „Fritz gibt so viele Konzerte, dass er gar nicht mehr zu üben braucht.“ Das tat Kreisler in späteren Jahren auch nicht mehr so gern, was sich dann doch negativ auf den Perfektionsgrad seines Spiels auswirkte.

Der Kriegsbeginn brachte eine unliebsame Unterbrechung des Karriere-Höhenfluges. Kreisler wurde als Reserveoffizier in die österreichische Armee eingezogen, nach Verwundung an der russischen Front aber bald entlassen. In dem kleinen Buch „Four Weeks in the Trenches“ („Vier Wochen in den Schützengräben“) schilderte er seine Kriegserlebnisse und kam damit dem amerikanischen Publikum entgegen, das ein enormes Interesse an seiner Person zeigte. Doch mit dem Kriegseintritt der USA wendete sich das Blatt. Nicht alle waren Kreisler jetzt noch wohlgesonnen. Der spendete nämlich großzügig für Verwundete und Kriegswaisen. Patriotische Kreise beschuldigten ihn, mit seinen Honoraren den Feind Österreich zu unterstützen. In einer 1917 von der New York Times veröffentlichten Erklärung bekundete Kreisler seine neutrale Haltung, sagte aber alle bereits terminierten Konzert ab. Nach Kriegsende gelang es ihm dann, einiger anhaltender Ressentiments zum Trotz, an seine frühere Popularität anzuknüpfen. Sein Wiedererscheinen in der Carnegie Hall im Oktober 1919 wurde zum Triumph, es gab minutenlang stehende Ovationen. Auch Konzerte in London, Paris und erfolgreiche Tourneen nach Fernost und Australien in den 1920er Jahren verliefen überaus erfolgreich. Kreisler avancierte dabei auch zum besthonorierten Geiger seiner Zeit, vergaß aber nie, Bedürftige zu unterstützen.

Doch wieder verdunkelte sich der Horizont. Nach der Machtergreifung der Nationalsozialisten verließ Kreisler sein geliebtes Berlin, wo er seit 1924 lebte. Er trat nie mehr in Deutschland auf. Die USA wurden schließlich seine Wahlheimat, die amerikanische Staatsbürgerschaft kam dazu. Noch einmal hatte Kreisler dann Glück im Unglück. Im Frühjahr 1941 wurde er in New York von einem Lastwagen überfahren. Ein zweimonatiger Krankenhausaufenthalt war die Folge. Wie durch ein Wunder war ihm danach die Rückkehr aufs Podium möglich. Sein letztes öffentliches Konzert gab er am 1. November 1947 in der Carnegie Hall. Seinen Lebensabend verbrachte Kreisler in New York City, dort starb er am 29. Januar 1962 im Alter von 86 Jahren.

Glücklicherweise gibt es die vielen Aufnahmen, die das Phänomen Kreisler in den Jahren von 1904 bis 1946 dokumentiert haben. Da teilen sich die Grundzüge seines Spiels mit, tragende Elemente in Tongebung und Phrasierung. Das war vor allem ein steter, in dieser Art damals noch nicht üblicher Einsatz von Vibrato zur Intensivierung eines durch und durch romantischen Tons. Dazu kommen genüssliche Portamenti, die für heutige Ohren antiquiert erscheinen, und nicht zuletzt eine lebendige, sprechende Rhetorik und Artikulation, verbunden mit einem improvisatorischen Element und einem relativ freien Umgang mit dem Notentext. Für das amerikanische Victor-Label spielte Kreisler viele Miniaturen und Encore-Piècen zum Teil mehrfach ein, „Liebesfreud“ und „Liebesleid“ jeweils viermal. Diese liebenswerten Stückchen wurden zu einer Art Markenzeichen seiner die Herzen berührenden Violinkunst.

1928 entstand die berühmte Aufnahme mit dem Duo Kreisler/Rachmaninow. Zwei ganz unterschiedliche Charaktere treffen sich hier und finden in Violinsonaten von Beethoven, Schubert und Grieg dennoch kongenial zueinander. Aufsehen erregte auch die Aufnahme vom ersten Satz aus Paganinis Violinkonzert Nr. 1 mit dem Philadelphia-Orchester unter Eugene Ormandy in Kreislers Bearbeitung – mit eigener Kadenz, neuer Einleitung und Coda sowie neu komponierten Übergängen. Viele bedeutende Tondokumente entstanden in den 1920er und 1930er Jahren in der Berliner Singakademie, dem Berliner Beethovensaal und den Londoner Abbey Road Studios für Electrola und HMV, darunter die Erstaufnahme sämtlicher Beethoven-Violinsonaten mit Franz Rupp und jeweils zwei Einspielungen der Violinkonzerte von Beethoven und Brahms, in denen Kreisler seine eigenen Kadenzen spielt, die heute noch Standard sind. Wer nach gut klingenden Aufnahmen mit Kreisler sucht, wird derzeit am besten fündig im Katalog von Naxos Historical, den von Ward Marston und Mark Obert-Thorn vorzüglich digitalisierten Tondokumenten in der Reihe „Great Violinists“. Das Faszinosum Kreisler vermögen diese Tondokumente wohl nur vage zu vermitteln. Es ist irgendwo verborgen hinter dem Rauschen und Knistern dieser frühen und wertvollen Aufnahmen. Aber etwas davon klingt nostalgisch herüber aus historischer Ferne.

Fritz Kreisler war aber auch der Letzte in der Reihe großer Geiger-Komponisten. Im Barock gehörten Corelli, Locatelli, Tartini und Vivaldi dazu, später dann Kreutzer, Spohr, Paganini, Vieuxtemps,Wieniawski, Joachim, Sarasate und Ysaÿe. Kreislers Kompositionen stellen nie Virtuosität als Selbstzweck heraus, sie leben von Eleganz, Charme und melodischer Inspiration. Für die Evergreens „Liebesfreud“ und „Liebesleid“ lieben ihn alle. Für „Schön Rosmarin“ und „Caprice viennois“ kaum weniger. Genial vermochte Kreisler Stile zu adaptieren, die Pentatonik von „Tambourin chinois“ beschwört fernöstliche Klänge, „La gitana“ trägt als Untertitel „Arabisch-spanisches Zigeunerlied aus dem 18. Jahrhundert“.

1905 publizierte Kreisler unter dem Titel „Klassische Manuskripte“ eine Sammlung „unbekannter Kompositionen des Barock“, von ihm selbst eingerichtet für Violine und Klavier. Die 53 Manuskripte seien in einem alten Kloster in Südfrankreich entdeckt worden. Drei Jahrzehnte später gab Kreisler dann zu, dass er die Stücke selbst komponiert habe. Man verzieh ihm diese Posse großzügig, nur der Kritiker der Londoner Times reagierte empört. Der Popularität dieser Preziosen tat dieser „Skandal“ keinen Abbruch. Man liebt und spielt sie bis heute.

Kreisler war aufrichtig bestrebt, Menschen glücklich zu machen. Das wollte er auch mit seinen beiden Operetten. „Apfelblüten“ wurde 1919 in New York mit Fred Astaire und John Charles Thomas in den Hauptrollen uraufgeführt. „Sissy“ kam 1932 in Wien heraus. Kreisler komponierte nicht nur „leichte“ Musik, er vertonte auch Gedichte von Joseph von Eichendorff und Gottfried Keller. Und 1919 schrieb er ein Streichquartett – „mein Bekenntnis zu Wien“, wie er sagte. Aus Kreislers Musik klingt immer wieder auch Melancholie, sie spiegelt die Tragödien des Lebens genauso wie das pure Glück. Von beidem hatte der emphatische Musiker aus Wien selbst genug erfahren.

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