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Porträt
Ein großes Glück
Christian Jost über die Lust des Beginnens, die Kunst des großen Bogens und die schönsten Momente beim Komponieren
Von
Arnt Cobbers
Kartal Karadegik

Christian Jost ist einer der gefragtesten Komponisten unserer Zeit. Und ein sehr produktiver. Sein Werkverzeichnis umfasst Stücke für so gut wie alle Gattungen, darunter elf Opern, zahlreiche Orchesterwerke und Solokonzerte, aber auch Kammermusik für die unterschiedlichsten Besetzungen. „Sie halten mich nicht vom Komponieren ab“, sagt er, als wir uns am Vormittag in einem Café in Berlin, wo er seit Langem wohnt, gegenübersitzen. Sein letztes Werk, „Eismeer“ nach dem Gemälde von Caspar David Friedrich, hat er gerade beendet, nun genießt er die Schaffenspause, bis er das nächste Werk beginnt.

Vielleicht bin ich zu sehr Romantiker, aber für mich wohnt jedem Anfang ein Zauber inne. Was auch daran liegt, dass ich erst anfange zu komponieren, wenn ich richtig Lust dazu habe. Natürlich habe ich Deadlines, aber ich teile mir das immer so ein, dass ich Zeit habe für den Anfang. Ich umkreise das Stück, die Thematik, und wenn ich den ersten Klang habe, ist das ein wunderbarer Moment. Der mit sehr viel Hoffnung verbunden ist, mit viel Sinnlichkeit und Wohlgefühl. Ich halte nichts davon, dass alles, was tief und komplex ist, aus Schmerz geboren sein muss.

Ich schreibe sowohl Auftragswerke als auch Stücke aus eigenem Antrieb. Aber die Sachen, die ich selbst machen möchte, sind nicht unbedingt freier als die Sachen, die auf mich zukommen. Bei Opernanfragen geht es in den seltensten Fällen um konkrete Stoffe und schon gar nicht um Libretti, die ich vertonen soll. Es gibt vielleicht eine Richtung, die sich die Auftraggeber wünschen, aber meist ist eine große Offenheit da, dass ich meinen Stoff wählen kann. Nur bei meiner letzten Oper, „Voyage vers l’Espoir“, die im März 2023 in Genf uraufgeführt wurde, gab es eine Vorlage: den Schweizer Film „Reise der Hoffnung“, der 1991 den Oscar als bester fremdsprachiger Film gewonnen hat. Das ist eine Flüchtlingsgeschichte, und die zu vertonen konnte ich mir am Anfang überhaupt nicht vorstellen, weil ich zu realistischen Stoffen eher schwer Zugang finde. Ich habe lange gezögert, aber der Regisseur, der gesetzt war, wollte, dass ich das mache. Und jetzt bin ich sehr froh darüber. Die Aufführungen waren ein großer Erfolg und haben gezeigt, dass man auch mit dieser Thematik und mit komplexer Musik das Publikum mitnehmen kann. Leider gibt es nun ein Rechteproblem, und die Oper wird wohl nie wieder aufgeführt werden können, was sehr schmerzhaft ist. Aber dieses Projekt, das einfach so auf mich zugekommen ist, hat Dinge in mir freigesetzt, an die ich gar nicht gedacht hätte.

Dagegen war das Stück, das wir gerade auf CD aufgenommen haben, ein absoluter Herzenswunsch: „Pieces of a Dream“ heißt es, ein 50-minütiges, viersätziges, monumentales Trio für Flügelhorn, Vibraphon und Klavier. Auch da bin ich über das Ergebnis sehr glücklich. Es ist schon ein großer Luxus, dass sich eine Gesellschaft komponierende Menschen leistet. Natürlich wäre es noch schöner, wenn nie in Frage gestellt würde, ob das eine gesellschaftliche Relevanz hat. Aber die Realität ist eine andere. Und deshalb bin ich nicht nur dankbar, dass ich mein Leben damit bestreiten kann, svondern fühle auch eine gesellschaftliche Verpflichtung. Das Publikum ist mir sehr wichtig! Natürlich werden wir mit Kunstmusik nie Fußballstadien füllen. Aber es ist enorm wichtig, dass wir mit dieser Musik, die vielschichtige Emotionen auf komplexe Weise transportiert, möglichst viele Menschen erreichen.

Und da komme ich zum nächsten wichtigen Punkt: Ich denke, ich habe über die Jahre eine Sprache gefunden, die ein gewisses Alleinstellungsmerkmal hat – das finde ich ganz wichtig. Aber man sollte als Komponist nicht im Vakuum sitzen und alles immer komplett neu erfinden müssen – weil das irgendwann in die Sackgasse führt. Wir sind in unserer Entwicklung an einem gewissen Endpunkt angelangt. Das heißt aber nicht, dass damit alles zu Ende gehen muss. Die Frage ist vielmehr: Wie können wir bestehende Dinge neu denken, sodass wir trotzdem innovativ auf die Fragen, die auf uns einprasseln, Lösungen finden, die unser Weiterleben möglich machen? Auch in der Kunst. Im Sinne einer gedanklichen Nachhaltigkeit finde ich es wichtig, Dinge zu machen, die andocken an eine Vorgeschichte. Dinge in immer wieder neue Kontexte zu stellen. Oder sie so zu beleuchten, dass sie frisch wirken. Und für absolut wesentlich halte ich dabei das Emotionale. Auch deshalb ist dieser Moment, wenn ich die ersten Töne aufs Papier setze, mit so viel Lust und Hoffnung verbunden.

Früher habe ich erst angefangen, wenn ich wusste, wie das Stück enden würde. Erst wenn ich einen ziemlich genauen Formverlauf hatte, wenn ich mir klar geworden war über die Ins­trumente, die Struktur, die Dramaturgie, erst dann habe ich losgelegt. Das mache überhaupt nicht mehr. Ich will in einen Zustand geraten, dass sich das Stück von selbst schreibt. Ich versuche eine Initialzündung zu schaffen – und dann geht’s los. Dann lasse ich mich regelrecht treiben.

Ich fange immer mit dem Anfang an. Ich brauche eine gewisse Organik und einen Atem, und das geht nur, wenn ich am Punkt 1 anfange. Allerdings kommt es vor, dass ich bei einem mehrsätzigen Werk anfange und merke: Das ist nicht der erste Satz. Das ist der Finalsatz.

Ich habe eine ganz klare Idee vom ersten Klang. Selbst wenn es nur eine kleine Linie im Englisch Horn ist oder ein Intervall oder eine kleine harmonische Progression. Es sind immer ganz konkrete schwarze Punkte auf dem Papier, mit ganz konkretem Instrument. In der Regel sind es ein paar Sekunden, vielleicht auch nur zwei Takte. Aber in diesen zwei Takten ist das gesamte Material für das Stück oder den Satz enthalten. Ich klopfe es immer darauf ab, ob es so angelegt ist, dass es sich in alle möglichen Richtungen entwickeln lässt. Das funktioniert über das innere Ohr. Es passiert selten, dass ich mich improvisierend ans Klavier setze und auf etwas komme, das ich dann auch wirklich benutze.

Wir haben heute keine Schemata mehr wie zum Beispiel die Sonatenhauptsatzform. Diese handwerkliche Struktur hat vieles einfacher gemacht. Wobei es den großen Komponisten ja immer darum ging, aus diesem Formkorsett auszubrechen. Heute funktioniert es über ein anderes Formdenken, ein strukturelles Denken. Das muss man lernen. Bei jungen Komponisten stellt man oft fest, dass sie nicht genau wissen, welchen Schritt sie als nächstes gehen sollen, sie stolpern manchmal. Es ist eine Sache der Erfahrung, dass man gehen kann und sich nicht mehr überlegen muss, wie mache ich den nächsten Schritt. Ich habe früher auch mit klaren Formschemata gearbeitet. Aber irgendwann kommt man an den Punkt, an dem man plötzlich weiß, wie es geht. Der Moment, in dem ich verstanden habe, ich brauche all diese Hilfsstützen eines formalen Musters nicht mehr, das war ungeheuerlich. Zu wissen, ich bin vollkommen frei in meinem Schaffensprozess. Trotzdem haben meine Stücke eine kompaktere Struktur als früher.

Ich kontrolliere mich aber auch permanent. Ich schreibe die Partituren per Hand und übertrage sie dann in den Computer. Und in dem Moment, wo ich es eintippe ins Notenprogramm, ist es quasi aus meinem Körper raus, und ich schaue auf das Werk wie aus der Vogelperspektive. Der Computerscreen schafft da eine fantastische Distanz. Änderungen, Umstellungen gehen dann viel leichter. Weil man ja doch in die eigene Handschrift verliebt ist, da ist man noch zu nah dran.

Strawinsky hat gesagt, die Inspiration kommt mit der Arbeit. Er war ja ein sehr handwerklicher Komponist. Aber es ist wirklich so: Wenn man an einer Sache dran bleibt, findet sich auch eine Lösung. Natürlich gibt es die Momente, in denen es hakt. Und oft merke ich dann, dass der Fehler einige Takte vorher liegt. Auch das ist eine Frage der Routine im positiven Sinne, dass man schnell merkt, das Problem liegt nicht hier, sondern weiter vorn. Da hab ich einen Abzweig genommen, der nur hierhin führen konnte, und jetzt bin ich in der Sackgasse. Dann gehe ich zurück und nehme einen anderen Weg. Wichtig ist, dass man diese Momente nicht als die große Katastrophe sieht. Wenn die Ausbeute an einem Tag mal nicht ein Kilo Gold ist, sondern nur ein Gramm, muss man verstehen, dass auch dieses eine Gramm glänzen kann.

Ich bin sehr diszipliniert, ich arbeite relativ früh am Vormittag und am Abend. Manchmal überkommt mich aber auch der Schaffensrausch, und dann stehe ich erst vom Schreibtisch auf, wenn das Stück fertig ist. Was ich nicht kann, ist im Zug oder im Café komponieren. Beim Spazierengehen funktioniert es manchmal. Aber am besten ist es zu Hause in meinem Arbeitszimmer. Ich brauche Intimität, ich brauche diese Vertrautheit, um alles aufzumachen. Das Komponieren ist auch ein Prozess des sich total Öffnens, und um diese Durchlässigkeit, diese Fragilität herzustellen, brauche ich einen Schutzraum.

Wenn ich tief in einem Stück drin bin, höre ich die ganze Zeit in meinem Inneren Musik. Rund um die Uhr. Als ich exzessiv Opern komponiert habe, zehn Stücke in zwanzig Jahren, da sind die Charaktere wirklich durch meine Wohnung gelaufen, ich hab intensiv von ihnen geträumt. Aber wenn ein Stück abgeschlossen ist, höre ich es noch ein bisschen nach, und dann ist es gut. Ich schätze das sehr, diese Zeiten der inneren Stille sind mir sehr wichtig geworden.

Manchmal braucht es nur ein paar Tage, bis ein Werk aus dem System raus ist. Und dann bin ich offen für Neues. Ich weiß noch, als ich das erste Mal einige Monate nicht komponiert habe, bin ich mit jedem weiteren Tag immer panischer geworden, weil ich dachte, das wars, jetzt kommen keine Einfälle mehr. Das ist ja das Damoklesschwert, das über jedem kreativen Menschen hängt. Heute bin ich gelassener. Ich nehme mir die Zeit, die es braucht. Und wenn ich ein paar Wochen nichts zu sagen habe, dann habe ich eben nichts zu sagen.

Ich bin relativ fix. Ich habe eine Technik entwickelt, in der ich fast simultan denke und schreibe. Aber in Echtzeit zu komponieren, das schaffe selbst ich nicht. Es macht aber auch Spaß, sich in Details zu vergraben, an den Noten wie an einem Uhrwerk zu feilen und zu schleifen und die Dinge einzustellen, bis alles perfekt ineinandergreift. Opernkomponisten haben sicherlich eine innere Veranlagung zum großen Bogen. Das trainiert man dann auch, über lange Strecken eine Dramaturgie aufzubauen, Spannung und Entspannung zu schaffen. Und dann verliert man das Ziel auch nicht über der Detailarbeit aus den Augen. Manchmal braucht man aber auch das Kleinklein, dann dauert es eine Woche, um zehn Sekunden zu komponieren. Und dann wiederum gibt es diese Stellen, die ganz wenig Material haben, die aber einen unheimlichen Zauber entfalten – und man versteht nicht, warum ist das so. Das ist ein Geheimnis, dem ich mein Leben lang auf der Spur bin. Woran liegt es, dass Dinge, die keine offensichtliche Komplexität bereithalten, trotzdem die größte Magie offenbaren? Manchmal passiert es, dass ich beim Komponieren spüre: Jetzt kommt sehr viel zusammen, und trotzdem steht sehr wenig auf dem Papier. Aber ich spüre, das könnte was Tolles sein. Und wenn ich später höre, was die Musiker damit machen, dann denke ich mir: Verflucht noch mal, was ist die Formel dafür? Man will ja eigentlich nur solche Stellen schreiben!

Ich habe ganz genaue Vorstellungen in meinem inneren Ohr, wie etwas klingen wird. Und trotzdem bin ich jedesmal bei den Proben vor einer Uraufführung nervös. Ich bin unsicher, ob es tatsächlich funktioniert. Natürlich sind Opernpremieren toll, aber auch da bin ich immer mit der Frage beschäftigt: Funktioniert es tatsächlich? Dieses Verliebtsein in das, was da mit meiner Musik passiert, ist mir relativ fremd.

Insofern muss ich sagen: Die größte Befriedigung verspüre ich beim Komponieren. Wenn alles geöffnet ist und ich das Gefühl habe, das Stück schreibt sich selbst, und ich bin gerade an eine Stelle gelangt, wo ich spüre: Genau deshalb hab ich mich wochenlang damit auseinandergesetzt – um an diesen Punkt zu kommen. Das ist ein tolles Gefühl! Das wird dann durch das Konzerterlebnis im besten Fall bestätigt. Das setzt auch Glückshormone frei, aber nicht mehr so viele. Es ist schon so: Wenn man das Glück hat, diesen Beruf ausüben zu können und aufgeführt zu werden, muss man seinem Schöpfer oder wem auch immer danken und den Ball ganz flach halten.

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