
Aus der Stille perlen zart die ersten Töne, und rasch denkt man an Wassertropfen und Wellenbewegungen. „Wasserklavier“ heißt das geradezu romantisch-verwunschene Stück von Luciano Berio, dem nach nicht einmal zwei Minuten, so organisch, als sei es schon von Berio zusammengedacht worden, Bachs g-Moll-Sinfonia BWV 797 folgt. Sanft, aber bezwingend wird man hineingezogen in das Programm, das Alexandra Sostmann für ihre neueste CD entwickelt hat (und das sie sehr überzeugend spielt). Und so entstand die Idee, mit der Pianistin zu sprechen, die seit Jahren in schöner Regelmäßigkeit feine CDs herausgibt, in denen sie Bach mal mit Chopin, mal mit Renaissancemusik, mal mit Musik von heute kombiniert – oder auch pur vorstellt, mit dem ersten Band des „Wohltemperierten Klaviers“. Doch aus dem geplanten Kaffee bei ihr daheim wird nichts. So lerne ich leider nicht das moderne Haus am äußersten Stadtrand Hamburgs kennen, das, wie es eine Kollegin schrieb, um einen Steinway herum gebaut ist und in seiner klaren, modernen Form mit mehr Fenstern als Mauerwerk beindrucke. Erst gibt’s eine Vollsperrung auf der Autobahn, dann stehe ich lange vor dem Elbtunnel, und da ich anschließend noch ins Konzert muss, verlegen wir unser Treffen etwas stadteinwärts in den Garten einer Pizzeria im noblen Blankenese. Das Ambiente passt zu Alexandra Sostmann, die gleichzeitig elegant und bodenständig wirkt und mich – sie ist schon früher da – wie eine herzliche Gastgeberin empfängt. Und die mir in der nächsten Dreiviertelstunde mit großer Begeisterung von den Werken auf ihrem neuen Album erzählt. Von den „Color Variations“ von Jason Francesco Heath, bei dem sie einem elektronischen Klavier glockenähnliche und andere ungewöhnliche Klänge entlockt. Von Federico Mompou, der mit ganz wenigen Tönen eine eigene Welt erschafft. Oder dem elften Stück aus George Crumbs „Makrokosmos“, aus dem wie in einem Traum Fragmente aus Chopins Fantasie-Impromptu herüberwehen.
Dabei hatte sie eigentlich die Werke eines zeitgenössischen Komponisten aufnehmen wollen. Doch dann gab es Meinungsunterschiede, wie Alexandra Sostmann es diplomatisch umschreibt, der Komponist zog zurück, beim Bayerischen Rundfunk war aber schon alles vorbereitet, und so stellte sie innerhalb von zehn Tagen ein neues Programm zusammen. „Klasse Ausrufezeichen Machen wir“ sei nur als Reaktion vom zuständigen BR-Produzenten Thorsten Preuß gekommen. „Wandlung, Stille, Übergänge“ schwebte ihr ursprünglich als Titel vor, doch dass die CD nun „Aus der Stille“ heißt, ist sicherlich kein Fehler.
Wie hat sie das Programm nun zusammengestellt? „Ich habe überlegt, was könnte zueinanderpassen, und dann hat sich das Ganze sehr schnell zusammengesetzt. Auf die ‚Color Variations‘ von Jason Francesco Heath bin ich per Zufall gestoßen, als ich etwas von Xenakis gesucht habe, und plötzlich ploppten diese Stücke auf Instagram auf. Ich wusste anfangs gar nicht, ist das ein Klavier, was ich da höre? Aber ich fand es so interessant, dass ich Heath einfach geschrieben habe. Wir haben uns unterhalten, und er hat zugestimmt, dass wir es auf die CD nehmen. Wir brauchten dafür einen Extratermin, aber der BR wollte es zum Glück unbedingt machen. Das war eine echte Herausforderung. Man spielt auf einem E-Piano, dessen Töne per Computer, mit ‚Pianoteq‘ und drei unterschiedlichen ‚Presets‘ vom Komponisten, verfremdet werden. Aber nicht nur klanglich, sondern auch in den Tonhöhen. Es ist mikrotonale Musik.“ Das machte das Vorbereiten der Stücke kompliziert. „Es ist in normalen Noten notiert, ich habe es auf dem Flügel einstudiert. Aber auf dem E-Piano klingt ein A dann plötzlich nicht mehr als A, sondern ganz anders und in jeder der drei Variationen unterschiedlich. Anfangs dachte ich: Mein Gott, was ist das jetzt? Und ich hatte genau fünf Minuten, bis die Jungs meinten, wir nehmen jetzt auf. Natürlich haben wir dann noch nach dem besten Klang gesucht und die Einstellungen optimiert. Und ich hatte die Stücke ja auch schon gehört. Aber das Spielgefühl war trotzdem total fies.“
Zu John Tavener hatte Alexandra Sostmann schon immer eine Beziehung, und so kam sie schnell auf die sechsteilige Meditation „Ypakoë“. Und weil ihr der Bogen zur Natur wichtig war, fand Toshio Hosokawas Stück über die Kirschblüte, „Souvenir from Japan – Sakura“, seinen Weg auf die CD. „Das war auch nicht so einfach“, erzählt sie, „weil Herr Hosokawa das Stück für einen kleinen Yamaha-Flügel konzipiert hat. Und er will, dass man bestimmte Töne abdeckt in einem Bereich, in dem es beim Steinway D nicht geht. Da kommt man mit dem Finger nicht dazwischen. Schließlich haben wir mit einem Klaviertechniker etwas entwickelt mit so einem Stab und einem Leder, so hat es dann funktioniert.“
Bachs Choralvorspiel „Ich ruf zu Dir, Herr Jesu Christ“ in Busonis Fassung kam ins Programm, weil es der Ausgangspunkt des „Orchela Preludiums“ von Rouzbeh Rafie, einem guten Freund von Alexandra Sostmann, ist – in dem es übrigens auch mal richtig laut wird. Über Crumb, der ein Chopin-Zitat verarbeitet, fand Chopins Prélude a-Moll op. 28/2 auf die CD – „das ist wirklich abgefahren und modern“. Und Apollonio Maiello schrieb kurz vor der Aufnahme noch ein Stück für Alexandra Sostmann, zu dem dann die Etüde Nr. 2 von Philip Glass perfekt passt.
Doch die vielleicht größte Überraschung ist eine Fuge von Lyonel Feininger, dem berühmten Bauhaus-Maler, der, angeregt durch seine Liebe zu Bach, auch komponiert hat. „Die Noten habe ich von einem Komponisten, der sie in seiner Sammlung hat. Die Blätter sehen aus wie Zeichnungen.“ Eine Ersteinspielung sei es nicht, sagt Alexandra Sostmann. „Das hat eine Pianistin vor Urzeiten mal aufgenommen – leider auf einem sehr schlechten Flügel, deshalb fand ich es sinnvoll, das Stück noch mal in guter Qualität aufzunehmen.“
Schließlich kamen 23 Stücke von 13 Komponisten zusammen. „Man denkt, das sind alles so kleine Stücke. Aber sie sind zum Teil wirklich schwer zu spielen und so unglaublich verschieden. Das war schon ein hartes Stück Arbeit.“
Aber eine Arbeit, die sich gelohnt hat – finde ich zumindest als Hörer. Alexandra Sostmann allerdings wirkt reichlich frustriert. „Wir haben eine einzige Besprechung gehabt, so was hab ich noch nie erlebt. Funktioniert eine Sammlung von verschiedenen Stücken im Moment nicht? Ist das Programm zu kompliziert? Oder wirkt es zu spirituell? Ich habe keine Ahnung. Aber es ist frustrierend.“
Man muss hoffen, dass sich Alexandra Sostmann nicht entmutigen lässt und weiter spannende Programme entwickelt. Auch auf CD. Was das Live-Spielen angeht, hat sie sich in diesem Jahr nämlich eine neue Spielwiese geschaffen: ihr eigenes Festival. „Aber nicht, weil ich da selbst spielen möchte! Sondern ich wollte mich endlich wirklich gesellschaftlich engagieren. Mein Mann hat mir seit Jahren vorgeworfen, dass wir in der Hinsicht nichts machen. Das saß wie ein Stachel. Ich dachte mir: Was ich kann, ist Kultur. Ich habe damals nebenbei Kulturmanagement studiert und hatte schon einiges organisiert. Ich wusste also, was auf mich zukommen würde. Aber nicht, dass es so schlimm werden würde.“
Dabei waren die Voraussetzungen bestens. Alexandra Sostmann fand nämlich ein kleines Barockschloss nahe Stade, Agathenburg, als Spielort. Genauer gesagt, den Pferdestall, der nur 150 Menschen fasst und in dem die Künstler ohne Mikro zum Publikum sprechen können. „Diese Nähe ist wunderbar, und das Schlossensemble ist wunderschön.“ Und hat auch noch eine interessante Geschichte, die zu schön ist, um sie hier fortzulassen: Hier wuchs nämlich Maria Aurora von Königsmarck auf, die, so heißt es, schönste und intelligenteste Frau des Barock – diverse Komponisten schrieben Arien, um sie zu bezirzen. Erbaut hatte das Schloss ihr Großvater für seine Frau Agathe, daher der Name. „Auroras Bruder hatte eine Liaison mit der Frau des künftigen englischen Königs und verschwand eines Tages im Welfenschloss in Hannover. Aurora reiste nach Dresden zu August dem Starken, in der Hoffnung, dass der ihren Bruder retten könnte. Der Bruder ist zwar nie wieder aufgetaucht, aber Aurora wurde Augusts Mätresse und hatte auch einen Sohn von ihm. Doch sie wollte unabhängig bleiben, hat nie geheiratet, wurde Pröpstin der Abtei Quedlinburg, reiste aber weiterhin durch Europa, übernahm diplomatische Missionen und hielt sich immer wieder auch in Hamburg auf. Ihr Sohn ging nach Frankreich und war der Großvater der berühmten George Sand, die übrigens ein Maria-Aurora-Zimmer hatte, weil sie ihre Urgroßmutter so inspirierend fand. Aurora hat das Schloss damals für Künstlerinnen geöffnet. Es herrscht ein ganz besonderer Geist in dieser Schlossanlage – es ist der perfekte Ort für ein Festival“, schwärmt Alexandra Sostmann.
Was man allerdings nicht vorhersehen konnte, war, dass Alexandra Sostmanns Partner, der die Organisation übernehmen sollte, ausfiel – die ganze Arbeit blieb also an ihr hängen. „Ich habe wie eine Verrückte gearbeitet. Das Schlimmste sind die Förderanträge. Und jetzt bin ich bei der Nachbereitung. Aber es hat sich gelohnt. 2026 machen wir das nächste Festival. Wieder mit einem tollen Programm, tollen Musikern und einem Composer-in-residence.“
Das gesellschaftliche Engagement, das Alexandra Sostmanns Mann angemahnt hatte, manifestiert sich vor allem in den zahlreichen Programmen für Kinder, die das Festival anbietet. „Wir haben Workshops veranstaltet, wo man zum Beispiel Barockkostüme anprobieren konnte, es gab eine ‚Anstiftung zum Hören‘ für ältere Kinder und Jugendliche, wo man mit speziellen Kopfhörern in den Wald geht, um anders hören zu lernen. Es gab ein Konzert mit Juri Tetzlaff in der Kirche, bei dem dreihundert Kinder dabei waren, oder auch einen Workshop der Orgel-Akademie Stade, wo Kinder in Arbeitsgruppen selbst eine kleine Orgel gebaut haben, die spielbar ist. Es waren leider insgesamt weniger Kinder da, als wir gehofft hatten. Und deshalb werden wir nächstes Jahr in die Schulen gehen und die Kinder da abholen.“
„Bach & now“ heißt das Festival, das 2026 für vier Tage im Frühling, vom 23. bis 26. April stattfinden wird. Bach ist ein Lebensthema für Alexandra Sostmann. „Ja, in gewisser Weise“, sagt sie und muss lachen. Aber sie spielt eben auch viel zeitgenössische Musik. Die fand sie schon immer faszinierend, doch verstärkt wurde das durch die Begegnung mit Alfred Schnittke. „Er hatte eine Aura, ich fand ihn faszinierend. Aber Ligeti war damals auch sehr präsent in Hamburg, und auch mein Lehrer Volker Banfield hat viel zeitgenössische Musik gespielt.“
Mit Bach ist Alexandra Sostmann aufgewachsen. „Meine Mutter hat wahnsinnig viel Barockmusik gehört, vor allem Bach. Ich stelle immer wieder fest, dass ich mich da zu Hause fühle.“ Bach ist auf allen ihrer bislang sechs Solo-CDs vertreten, 2023 hat sie das „Wohltemperierte Klavier“ eingespielt. Tatsächlich beginnt sie jeden Tag „mit ein paar Fingerübungen, und dann kommt immer ein Bach. Wobei ich auch romantische Musik liebe, Chopin, Rachmaninow …“, schiebt sie sofort hinterher und schwärmt dann vom Konzert für Klavier, Streichorchester und Timpani von Galina Ostwolskaja, das sie gerade entdeckt hat und im nächsten Jahr auf Schloss Agathenburg aufführen wird. „Das ist schön düster, das ist großes Kino. Da werden die Leute wahrscheinlich umfallen, aber egal. Das müssen wir machen, das Stück ist wirklich toll!“
Wie es aussieht, wird sie auch in einem Konzert gemeinsam mit ihrer langjährigen Duopartnerin Judith Mosch auftreten. 1996 lernten sich die beiden jungen Pianistinnen bei einem Meisterkurs von Christian Zacharias im Schloss Villarceaux kennen und gründeten kurz darauf das Duo Villarceaux, mit dem sie sehr erfolgreich waren und auf das sich beide jahrelang konzentrierten. Erst nach dem Ende des Duos begann Alexandra Sostmann überhaupt ihre Solokarriere.
„Und vor drei Jahren bekam ich plötzlich einen Anruf von meinem Agenten aus Buenos Aires“, erzählt Alexandra Sostmann. „Da ist ein Duo abgesprungen, kannst du nicht spielen, fragte er. Ich habe zwischendurch mit anderen gespielt, aber das ist nicht dasselbe. Also habe ich Judith angerufen, und sie hat sofort zugesagt. Es war eine tolle Reise. Wir waren zehn Jahre nicht gemeinsam aufgetreten, aber das ‚Sacre‘ klappte auf Anhieb, und auch das Bach-Konzert war sofort zusammen. Selbst nach der langen Zeit weiß man genau, was der andere fühlt und macht, das ist schon ein bisschen unheimlich. Ich hätte große Lust, wieder Duo zu spielen. Aber es ist zeitlich einfach viel komplizierter geworden. Und Klavierduo ist sehr speziell, das kann man nicht ab und zu nebenbei machen.“
Der Neuanfang nach der Duozeit vor rund zehn Jahren war schwierig. „Niemand kannte meinen Namen. Ich hatte zwar auch Kammermusik gemacht, bin aber nicht solistisch aufgetreten. Ich musste mich also irgendwie neu erfinden – und hatte das Riesenglück, dass Andreas Ziegler gerade sein Label Tyxart gegründet hatte und mir die Chance gab, meine erste Solo-CD zu machen.“
Der Rest ist Geschichte, wie es so schön heißt. „Ich bin froh über das, was ich tue“, sagt Alexandra Sostmann und klingt dabei ehrlich. Und wir können uns nun freuen über ein ungewöhnliches CD-Programm, wie man es nicht mehr oft zu hören bekommt.