
Fünf Paßionen, worunter eine zweychörige befindlich ist“, habe Johann Sebastian Bach komponiert, vermeldet 1754 der Nekrolog in Mizlers Musikalischer Bibliothek. Doch wir kennen nur drei: die Johannes-, die Matthäus- und die Markus-Passion, wobei von letzterer nur der Text erhalten ist. Jetzt präsentiert der Weimarer Cembalist, Dirigent und promovierte Musikwissenschaftler Alexander Grychtolik als „künstlerisches Experiment“ eine Aufnahme des Passionsoratoriums BWV Anh. 169 (neu: BWV S. 718), das er bereits im vergangenen Jahr in einem Konzert vorgestellt hat. Ausgangspunkt ist das überlieferte Libretto des Dichters Picander aus dem Jahre 1725. Grychtolik geht nach umfangreichen Forschungsarbeiten davon aus, dass Bach diesen Text von Picander für seine Passion am Karfreitag 1725 beauftragt habe. Vielleicht wegen einer Intervention der damals üblichen Textzensur sei die Passion – fertig gestellt oder nicht – aber nicht aufgeführt worden. Grychtolik hat bereits mehrfach verschollene Bachwerke rekonstruiert, etwa die „Schäferkantate“ BWV 249.1, die „Köthener Trauermusik“ BWV 1143 und zahlreiche Huldigungskantaten. Zum 300. Geburtstag wird das Passionsoratorium 2025 u.a. beim Leipziger Bachfest zu hören sein.
Herr Grychtolik, wie kam es dazu, dass Sie sich diesem Werk gewidmet haben?
Ich hatte mich vor vielen Jahren bereits mit diesem rätselhaften Passionsoratorium beschäftigt. Der bisherige Stand der Forschung war, dass Picander das Libretto vermutlich für einen anderen Leipziger Kantor gedichtet hat, Georg Balthasar Schott. Für diese Vermutung gibt es aber keine konkreten Hinweise, und spätere Forscher haben sie unkritisch als „Tatsache“ übernommen. So etwas passiert im Wissenschaftsbetrieb leider nicht selten. Ich beschloss dann, mir ein eigenes Bild von dieser Zuschreibungsproblematik zu machen, denn in der Zwischenzeit sind über Bachs Textdichter verschiedene Details bekanntgeworden, die eine Neubewertung der Quellen zulassen. So bin ich zu der Einschätzung gekommen, dass Bach eine Vertonung 1725 geplant haben muss. Diese These passt zu allem, was wir über Bach in dieser Zeit wissen. Zur merkwürdigen Wiederaufführung der Johannes-Passion 1725 und zu Bachs Verbindung mit Picander, die in dieser Zeit schon sehr eng war. Der gehörte zu einem Kreis junger Textdichter, auf die Bach für seinen enormen Bedarf an Kantatentexten zurückgriff. Er schreibt sehr bildlich und originell, und es gelang ihm offensichtlich gut, sich Bachs Vorgaben anzupassen. Picanders Dichtungen sind perfekt auf Bachs Musik abgestimmt, und zum Verständnis von Bachs Leipziger Vokalwerken ist Picander sehr wichtig. Heute wirken seine Texte oft befremdlich, aber das hat mit unserem enormen zeitlichen Abstand zu tun. Ich persönlich finde die Texte von Bachs Librettisten Christian Friedrich Hunold (genannt Menantes) dichterisch etwas raffinierter, aber Picander ist sehr originell.
„Passionsoratorium, rekonstruiert und vervollständigt“ steht auf dem Cover der CD – was hat man sich darunter vorzustellen?
Mein Versuch einer Teilrekonstruktion des Passionsoratoriums ist ein Experiment: Ist das klangliche Resultat plausibel, welche Fragen bleiben offen oder tauchen neu auf? Man kann diese Arbeit als künstlerische Forschung bzw. als angewandte Musikwissenschaft verstehen. Dieses Passionsexperiment hat für mich überraschend gut funktioniert, von der Textverteilung der rekonstruierten Sätze über die erzielte Bildsymbolik bis hin zur Instrumentierung. Aber natürlich unterscheidet sich dieses Projekt von meinen früheren Arbeiten, bei denen ich aufgrund der bekannten Schwesterwerke in viel gesicherterem Terrain unterwegs war. Hier hingegen fehlt vieles und muss gänzlich offenbleiben. Aber man kann sich dieses Passionsoratorium jetzt zumindest als ein in sich geschlossenes Werk anhören und einen Eindruck bekommen, wie es in etwa geklungen haben könnte. Gerade im Vergleich mit der zweiten Fassung der Johannes-Passion, die Bach stattdessen recht kurzfristig aufgeführt hat. Deren erste Fassung von 1724 hatte ja den hochdramatischen Eingangschor „Herr unser Herrscher“, der 1725 ausgetauscht wurde. An seine Stelle trat die Choralfantasie „Oh Mensch, bewein dein Sünde groß“, die Bach auch in der Matthäus-Passion verwendet hat und die ich für das Passionsoratorium als Eingangssatz vorgeschlagen habe.
Bach wurde die Aufführung seines Passionsoratoriums untersagt und hat deswegen eine überarbeitete Johannespassion aufgeführt?
Es ist extrem wenig über die damalige Textzensur bekannt. Aber wir wissen, dass Bach oft sehr kurzfristige Anweisungen von seinen Vorgesetzten bekommen hat und der Informationsfluss zu den Behörden alles andere als ideal war. So kam 1739 gut eine Woche vor einer Passionsaufführung jemand von der Stadt zu Bach und sagte „Sie dürfen das nicht aufführen.“ Auch da ging es um den Text. Die Aufführung einer Passion am Karfreitag war noch eine recht neue Tradition, die erst 1721 unter Bachs Vorgänger Johann Kuhnau begonnen worden war. Diskussionen über den Text zu einer Passionsmusik konnten leicht zum Politikum werden. Die Karfreitagsmusiken waren wichtige gesellschaftliche Ereignisse, in der Kirche versammelten sich rund 2.000 Menschen. Alles von Rang und Namen war anwesend: die Ratsherren, Kaufleute und Professoren. Bach war noch recht neu in Leipzig und saß als Thomaskantor und Direktor der Universitätsmusik an der Schnittstelle verschiedener Zuständigkeitsbereiche. Ich kann mir vorstellen, dass er damals noch nicht alle Befindlichkeiten vollständig überblickte, etwa die unterschiedlichen Erwartungshaltungen zwischen den städtischen Kirchenvorstehern und den Geistlichen.
Was genau ist eigentlich ein Passionsoratorium?
In dieser Gattung wird die Leidensgeschichte nicht im Wortlaut der Bibel, sondern als freie Dichtung erzählt. Es geht vor allem um die menschliche Anteilnahme am Leiden Jesu, um das im Hörer zu erweckende Mitgefühl. Man hat es mit einem eher betrachtenden Charakter zu tun, auf die Dramatik etwa von Turba-Chören wird bewusst verzichtet. Dieses Passionsoratorium auf Picanders Text stammt aus einer lyrischen Affektwelt und erinnert im Stil eher an eine Kantate als an die uns bekannten Passionen Bachs.
Wie verändert sich unser Bachbild, wenn man dieses Werk neben seine bekannten Passionen stellt?
Das Passionsoratorium mag überraschen und liebgewonnene Hörgewohnheiten herausfordern. Unser heutiges Bach-Bild ist ja durch die erhalten gebliebenen Werke und deren Rezeptionsgeschichte geprägt. Das ist wie bei den Dinosauriern: Früher dachte man, die wären alle grau wie Elefanten – neuere Analysen an den Fossilien zeigen aber, dass viele bunte Federn hatten! Das ändert unser Bild total. In jedem Fall muss sich Bach intensiver mit dem Passionsoratorium beschäftigt haben, als bisher angenommen wurde. Bach hat mindestens zwei Passionsoratorien anderer Komponisten in Leipzig aufgeführt. Die Gattung war damals sehr populär: Die Brockes-Passion etwa haben Telemann, Händel, Keiser und Stölzel vertont. Und auch dieses Picander-Libretto ist nachweislich mehrfach vertont worden, von einem Augsburger Kantor zum Beispiel, dazu in Nürnberg und in Dresden.
Picander hat ja Texte aus diesem Oratorium in sein Libretto der Matthäus-Passion übernommen.
Bisher hat man angenommen, dass Picander aus dem Libretto des Passionsoratoriums sechs Stellen in die Matthäus-Passion übernommen hat. Das sehe ich anders. Damals haben Dichter sich in ihren Werken oft wiederholt, bestimmte dichterische Bilder und Formulierungen wurden immer wieder übernommen. Zum Beispiel werden das Bibelzitat „Es ist vollbracht“ und die zur Sterbethematik passende Floskel „Gute Nacht“ immer wieder verwendet, wie ein festes Vokabular. Ich sehe unter diesen sechs Textstellen nur zwei, bei denen ein Text wirklich weiterentwickelt wurde. Da ist beim Abschlusschor so und bei der Arie „Aus Liebe will ich alles dulden“, aus der in der Matthäus-Passion „Aus Liebe will mein Heiland sterben“ wurde. Dafür habe ich auf die Musik aus der Matthäus-Passion zurückgegriffen, wobei allerdings Änderungen notwendig waren. In der Matthäus-Passion ist die Arie ja mit einem Sopran besetzt, während im Passionsoratorium Jesus selbst singt. Entsprechend habe ich für die Begleitung nicht eine Traversflöte und zwei Oboen da caccia gewählt wie im Original, sondern entsprechend der Liebes- und Sterbethematik eine Oboe
d´amore und zwei Gamben.
Wie findet man die Musik, die ursprünglich für dieses Passionsoratorium komponiert wurde?
Für die Rekonstruktion einiger Sätze des Oratoriums gibt es schon länger Kandidaten. Die Arie „Rolle doch nicht auf die Erde“ ist ein besonders interessanter Fall. Dafür habe ich das Domine Deus aus der A-Dur-Messe genommen, bei dem sicher ist, dass Bach hier eine ältere Arie wiederverwendet hat. Wenn man die Komposition genau untersucht, sieht man, dass es sich dabei ursprünglich um eine Da-capo-Arie gehandelt hat, für die der Text der Messe von der Form her gänzlich ungeeignet war. Man kann gut erkennen, wie Bach das Problem auf sehr unkonventionelle Weise zu lösen versuchte. Als ich diese Änderungen rückgängig machte, passten alle Textbestandteile perfekt zur Musik: „Schmerzens-Tau“ oder „Halt doch ein“ treffen genau auf die passenden rhetorischen Figuren. Und beim „Rolle doch“ erklingt eine Figur, die die zeitgenössischen Musiktheoretiker als „Roulade“ bzw. „Roulement“ bezeichnen. Ich glaube, dass diese Musik ursprünglich für diese Arie komponiert wurde. Bei der Rekonstruktion muss man unbedingt Bachs Autographe anschauen. Die Arie „Ach, wie meint es Jesus gut“ sieht in seiner Handschrift zum Beispiel auf den ersten Blick so aus, als sei sie eine Originalkomposition für einen ganz anderen Anlass. Sie wäre dann nicht schon für das Passionsoratorium entstanden. Aber es fällt auf, dass es richtige Korrekturen nur in der Gesangsstimme gibt. Das spricht dafür, dass vielleicht schon eine frühere Fassung der Arie existiert hat.
Und wie funktioniert die Auswahl der Arien, für die sich keine Vorlage finden lässt?
Bei den Arien, die ich aus anderen Bach-Werken zur Vervollständigung frei entlehnen muss, untersuche ich zunächst, welche Texte bei Bach dieselbe Textstruktur haben. Sonst bekommt man gravierende Betonungsprobleme. Da alle Arien nach bestimmten Schemata gedichtet sind, findet man meist mehrere Stücke, die infrage kommen. Dann schaue ich: Welche Arien passen vom Charakter her zum Text? Zu beachten ist auch, dass in einer Passion verschiedene Besetzungen, Taktarten und Tonarten vorkommen, damit es eine innere Ausgewogenheit gibt: Man kann z.B. nicht lauter Arien mit Solovioline zusammenstellen. Auch klangliche Sondereffekte wie Blockflöte oder Gambe können bereichernd wirken. Wenn es nicht ganz passt, muss umbesetzt werden. So habe ich in einer Arie Tenor, Blockflöten und Oboe da caccia ersetzt durch Sopran, Traversflöten (die dunkler und trauriger klingen) und Gambe.
Die Rezitative stammen alle von Ihnen?
Die musste ich allesamt neu komponieren. Der Text ist von Picander rhythmisch so gedichtet, dass das sehr einfach geht. Man kann sich dem Original gut nähern, wenn man den Stil kennt. Das ist wie bei einem Bildhauer, der seit 20 Jahren Skulpturen von Andreas Schlüter nachbildet, weil die Originale verwittert sind: Man kennt die typischen Details. Bachs Rezitativtechnik ist prinzipiell sehr formalisiert und gut nachvollziehbar, weil es eine lineare und modulare Art zu komponieren ist. Es gibt immer wieder äußerst überraschende Eigenheiten bei Bach, aber insgesamt folgt alles der damaligen Kompositionslehre. Dadurch erhält man einen konkreten Einblick in seine Kompositionsstube und ein tieferes Verständnis für seine große kompositorische Meisterschaft.