
Unsuk Chin mit den Berliner Philharmonikern und Simon Rattle
Man nennt ihn gern den Nobelpreis für Musik, den Ernst von Siemens Musikpreis, der seit 1974 alljährlich in München an eine herausragende Persönlichkeit auf dem Gebiet der klassischen Musik vergeben wird. In diesem Jahr, am 18. Mai, erhält ihn die Komponistin Unsuk Chin, die aus Südkorea stammt, 1985 zum Studium bei György Ligeti nach Hamburg kam und seit 1988 in Berlin wohnt. Da trifft es sich gut, dass die Berliner Philharmoniker vor wenigen Monaten die Mitschnitte all ihrer Aufführungen von Werken Unsuk Chins in einer opulenten Doppel-CD/Blu-ray-Box zusammengefasst haben. Wer sie noch nicht kennt, lernt dort eine Komponistin kennen, die dezidiert modern, aber doch leicht zugänglich und emotional packend schreibt – was ihr nicht immer geholfen hat. Ihren Humor hat sie darüber aber nicht verloren, wie sich beim Tee in einem Café bei ihr um die Ecke zeigt.
Frau Chin, wie ist es, wenn man mit Abstand auf Werke schaut, die man vor Jahren oder Jahrzehnten geschrieben hat?
Diese Werke habe ich in den letzten Jahren ja immer wieder in Aufführungen gehört. Die älteste Aufnahme stammt von 2005, ich habe also mit den Berliner Philharmonikern über 17 Jahre hinweg Musik gemacht. Diese Box in der Hand zu halten, das war schon ein unglaubliches Gefühl. Die Boxen der Philharmoniker sind alle sehr schön und besonders, die Aufmachung entspricht meinen musikalischen Vorstellungen voll und ganz, und die Interpretationen sind ein Traum.
Leben die Werke lange in Ihnen nach?
Das sind Meilensteine meines Lebens, die bleiben lebendig in mir. Aber wenn ein Stück fertig ist, dann schließe ich damit ab. Ich will einfach weiter. Ich bin meist unzufrieden mit dem, was ich mache. Deswegen: Wenn ein Stück fertig ist, denke ich: Naja, diesmal hat‘s wieder nicht geklappt. Aber beim nächsten Mal wird’s klappen.
Sind Sie nie zufrieden?
Manches gelingt besser als anderes. Es gibt einige Werke, wo ich ganz genau wusste, was ich wollte. Die betrachte ich als gelungener als andere.
Warum komponieren Sie?
Ich hab nichts anderes gelernt. Ich wusste schon mit drei, vier Jahren: Musik ist das, was ich in meinem Leben machen möchte. Und als ich zwölf war, hat mir mein Musiklehrer in der Schule nahegelegt, ich solle doch versuchen, etwas zu komponieren. Und da dachte ich mir: Das könnte es sein! Um Pianistin zu werden, war es schon zu spät. Bis heute ist Musik die größte Leidenschaft in meinem Leben. Wenn man jung ist, will man etwas beweisen, man braucht eine „Karriere“, um überhaupt weiterzukommen. Aber je älter man wird, desto demütiger wird man. Im Moment hab ich das Gefühl: Selbst wenn ich als Komponistin nichts werden sollte – dass ich die Schönheit der Musik kennengelernt habe und diese Schönheit wahrnehmen kann – dafür braucht man ja schon sehr viel Mühe und viel Wissen –, das macht mich bereits sehr glücklich.
War es immer klar, dass Sie westliche Kunstmusik komponieren würden?
Ja, diese Kategorisierungen, westlich, östlich – als ich in den 80er Jahren nach Deutschland kam, war das noch viel krasser. Was, als Komponistin aus Korea machen Sie europäische Musik?! Ich hab das nie so empfunden. Musik ist Musik. Wenn man Neues erschaffen will, sollte man an vielem interessiert sein. An allem, was man Musik nennt. Natürlich benutze ich Instrumente, die in Europa erfunden wurden, aber die Kategorien lösen sich immer mehr auf. Man muss sein eigenes Ding machen. Ob das mit der traditionellen Musik aus seinem Herkunftsland zu tun hat oder nicht, das ist einfach eine persönliche Entscheidung. Außerdem ist die „klassische“ Musik westlicher Herkunft seit hundert Jahren Bestandteil koreanischer Kultur.
Suchen Sie nach Musik – oder ist die immer da?
Die Musik ist in meinem Kopf. Ich notiere mir manchmal Gedanken, plane Harmonien usw. Aber ich mache niemals Skizzen in Partiturform, niemals. Wenn ich wenig Zeit habe, mache ich nicht mal Notizen, dann schreibe ich alles aus dem Kopf aufs Notenpapier. Es braucht mehrere Jahre, bis die Gedanken reifen. Und wenn der Druck groß genug ist, dann ist es wie bei der Geburt: Dann müssen die Gedanken raus, dann schreibt man.
Kommen die Gedanken einfach so oder entwickeln Sie die zielgerichtet?
Ich suche gezielt Aufträge zu den Gedanken. Oder ich verbinde Aufträge mit Gedanken, die ich im Kopf habe. Ich nehme nie einen Auftrag mit irgendwelchen Bedingungen an. Bis jetzt hat es immer geklappt, meine Gedanken mit Aufträgen zu verbinden.
Würden Sie auch ohne Auftrag komponieren?
Ohne Auftrag, ohne Deadline würde ich nie ein Stück komponieren. Man braucht schon sehr viel Druck von außen, um diesen verrückten Prozess durchzuhalten. (lacht) Ich habe keine Werke in der Schublade. Dieser Arbeitsprozess ist einfach so anstrengend – ohne Druck von außen würde ich das nicht machen.
Aber wenn es so anstrengend ist, warum machen Sie es dann? Ist es dann doch erfüllend?
Ja, gewissermaßen. Es ist halt mein Leben.
Was ist der schönste Moment beim Komponieren?
Der Beginn der Arbeitsphase ist die schlimmste Zeit, also die Zeit, noch bevor man anfängt zu schreiben. Wenn man dann angefangen hat, ist es immer noch schwierig. Aber wenn es einmal läuft und man sich keine unnötigen Gedanken mehr macht, ob es funktioniert oder so, wenn man einfach drin ist und es läuft, das ist die schönste Phase. Ich arbeite gerade an meiner zweiten Oper. Ich hab noch nie in meinem Leben so hart gearbeitet, es ist wirklich extrem. Und trotzdem: Die Arbeit läuft. Da mache ich mir auch keine Gedanken, wie das ankommen wird oder sowas Blödes. Ich schreibe einfach weiter den ganzen Tag, obsessiv. Und wenn ich mal eine Pause brauche, mache ich was anderes mit derselben Obsession. Ich gehe an den Flügel und spiele beispielsweise Bach-Fugen, obsessiv. Wenn ich den ganzen Tag niemanden gesehen und mit niemandem gesprochen habe, dann bin ich glücklich.
Was ist so hart am Komponieren?
Alles auf dieser Welt ist schwierig, wenn man es gut machen will. Es geht darum, etwas, das nicht existiert, lebendig werden zu lassen, indem man es aufs Papier bringt. Die Ideen, die Fantasien existieren in einer sehr abstrakten Form, und die muss man in die musikalischen Parameter übersetzen. Um Musik zu schreiben, braucht man sehr viel Erfahrung. Man muss jedes einzelne Instrument einigermaßen kennen, man muss sich den Zusammenklang vorstellen können. Ich sitze ja nur am Schreibtisch und schreibe. Da ist immer eine große Unsicherheit dabei, ob es wirklich so klingen wird, wie man es sich vorstellt. Und man überlegt, wie das Publikum reagieren wird. Das ist eigentlich nicht wesentlich, aber es beschäftigt einen doch. Im Konzertbetrieb gibt es sehr, sehr wenige Menschen, die beurteilen können, was wir machen. Also ist es eigentlich ganz egal, ob die Zuhörer es loben oder hassen, sie werden es doch nicht verstehen. Da fühlt man sich sehr allein, damit muss man klarkommen. So ist das.
Im Endeffekt machen Sie es für sich.
Genau. Das Werk muss vor mir bestehen. Aber dann muss es auch in die Welt hinausgehen und andere Menschen berühren. Aufs Publikum zu hören, kann sehr gefährlich sein. Es gibt zu viele Leute, die einen ohne Grund bejubeln, und leider auch immer noch zu viele, die dogmatisch sind. In den 80ern war es so: Wenn in einem Stück eine Oktave vorkam, war es automatisch kein gutes Stück. Das ist viel besser geworden. Aber in Deutschland muss man oft immer noch spezielle Effekte und „ungewöhnliche Klänge“ erschaffen – die man aber schon seit 40, 50 Jahren kennt. Nur dann wird man akzeptiert. Manches muss man einfach erfüllen, um als Komponist akzeptiert zu werden. Und wenn man das nicht tut, dann weiß man, dass man mit Ablehnung rechnen muss. Aber im Grunde spielt das keine Rolle. Ein Stück wird geboren, und wenn es Qualität hat, wird es meinen Tod überleben. Wenn nicht, dann wird es vergessen werden. Das ist in der Kunst wie in der Evolution: Manches bleibt bestehen, manches stirbt aus. Es ist so ein merkwürdiger Filterungsprozess, für den irgendein großes übergeordnetes Bewusstsein verantwortlich ist. So empfinde ich das. Und nach 50 oder 100 Jahren wird ein Stück einigermaßen richtig bewertet. Bei aktuellen Kritiken bin ich immer sehr vorsichtig.
Aber Sie freuen sich schon über den Ernst von Siemens Musikpreis, oder?
Das ja! Ich bin äußerst berührt und dankbar über diese Anerkennung und natürlich sehr demütig, wenn ich an die bisherigen Preisträger denke, von denen viele zu meinen größten musikalischen „Helden“ gehören. Der Siemens-Preis und die Berliner Philharmoniker-Edition sind zwei Meilensteine für mich; Zeichen, auch in Deutschland als Komponistin anzukommen, dem Land, in dem ich mehr als mein halbes Leben gelernt, gearbeitet und Steuern bezahlt habe.
Sie betonen ja auch, dass Sie sich als Außenseiterin fühlen – aber dass Sie sich in dieser Rolle auch ganz wohl fühlen.
Ja! Wenn ich in Korea bin, treffe ich dauernd Leute, die mich bewundern. Ohne jemals meine Musik gehört zu haben! Damit fühle ich mich unglaublich unwohl. In Berlin fühle ich mich sehr wohl, aber gearbeitet habe ich meistens im Ausland. Wenn ich hier eine Probe habe, fahre ich mit dem Bus hin. Das ist schon ungewöhnlich.
Müssen Sie also bald Berlin verlassen, wenn Sie jetzt oft gespielt werden?
Ich habe nicht so viele Stücke geschrieben. Viele wurden schon aufgeführt, und was einmal gespielt wird, wird normalerweise in den nächsten zehn Jahren nicht mehr gemacht. Von daher ist meine Angst begrenzt. (lacht)
Sie haben mal gesagt, dass es in Ihrer Musik um Farben, um Licht, um Wärme geht. Sie erzählen also keine Geschichten?
Naja, das stimmt so nicht, das wurde mir quasi in den Mund gelegt. Ich habe mal vor Jahren versehentlich gesagt: Meine Musik ist das Abbild meiner Träume, ohne das näher zu erklären. Es gibt manchmal irgendwie ein großes Fragezeichen, wenn meine Musik gespielt wird, weil sie keinem ästhetischen Lager angehört. Und was den Leuten als erstes auffällt, sind die Farben. Und einige Kritiker schreiben dann auch, das sei Farbmalerei. Das ist eigentlich ein ziemlich krasses Urteil, das überhaupt nicht stimmt. Ich habe als Kind schon immer eine gewisse Affinität zu Farben gehabt, und die versuche ich zu realisieren. Aber was heißt Komponieren? Es geht um Organisation, und Klangfarbe ist ein Parameter unter sehr vielen.
Aber es gibt ja auch Werke wie die Frühlingssinfonie.
Ist der Titel wirklich von Schumann? Der Titel suggeriert etwas. Aber es ist absolute Musik, abstrakte Musik.
Wie wünschen Sie sich denn das ideale Publikum?
Das wäre eine Mischung aus unterschiedlichen Leuten: einem fachlich versierten Publikum und Zuhörern, die einfach Musik lieben und offen sind. Das ergibt eine gewisse Dynamik. Wenn ich in einem Konzertsaal sitze, und das Orchester fängt an, weiß ich nach ein paar Sekunden, ob es klappt oder nicht. Diese Energie, die Konzentration, die spürt man. Und wenn die Musiker das Publikum nicht vom ersten Moment an packen, dann wird es nichts. Das hab ich schon einige Male erlebt.
Hören Sie selbst denn immer analytisch, oder werden Sie auch mal weggetragen von der Musik?
Ich höre Musik immer in abstrakter Form. Wie einen dreidimensionalen, transparenten Klangraum. Wenn ich höre, höre ich die Tonhöhen, die Harmonien usw., da hab ich keine Zeit, an den Sonnenuntergang zu denken. (lacht)
Und wenn das Publikum solche Assoziationen hat?
Jeder soll und muss es auf seine eigene Weise verstehen. Nur: Die Leute müssen das wollen, das wäre mein Wunsch. Wenn sie dann an den Sonnenuntergang denken, dann soll mir das recht sein.
Warum dirigieren Sie Ihre Werke nicht selbst?
Das wäre, als würde ich plötzlich anfangen, vor Publikum Posaune zu spielen. Das wäre absurd. Dirigieren muss man lernen, und ich stehe nicht so gerne vor Leuten. Ich finde es sehr mutig, wenn andere Komponisten das machen. Die schlechtesten Aufnahmen von Strawinskys Werken sind die, die er selbst dirigiert hat. Allerdings gibt es auch Kollegen, die hervorragend dirigieren und komponieren.
Dabei haben sich selbst mal als „Kontrollfreak“ bezeichnet. Ist es dann nicht schwer, die Sache einem Dirigenten zu überlassen?
Früher fiel mir das sehr schwer. Jetzt bin ich entspannter. Bei der Probe versuche ich immer noch so viel wie möglich zu kontrollieren. Es ist aber auch faszinierend, wenn großartige Interpreten neue Blickwinkel in einem Stück entdecken.
Sie wohnen seit 40 Jahren in Deutschland. Trotzdem sind Sie immer noch eine „koreanische Komponistin“. Ist das wichtig für Sie und Ihr Komponieren?
Naja, ich komme aus Korea. „Berliner Komponistin“ wäre auch gut. Mir ist das egal, ich bin Kosmopolitin.
Auf Wikipedia werden Sie konsequent „Chin Un-suk“ genannt.
Das ist die koreanische Schreibweise, mit dem Familiennamen vorn, eigentlich ohne Bindestrich. Das steht wahrscheinlich da, weil es ein Koreaner geschrieben hat. Aber außerhalb Koreas heiße ich Unsuk Chin.
Unterrichten Sie auch?
Nicht regelmäßig, ich war ein Leben lang freischaffend. Ich gebe Meisterklassen. Aber regelmäßig unterrichtet habe ich nie, das werde ich auch nie machen. Ich habe gar keine Zeit.
Wäre Ihr Lehrer György Ligeti, der für Sie ja sehr wichtig war, da nicht ein Vorbild?
Ligeti war in den 70er Jahren arm, er brauchte Geld, und er hat auch sehr gewissenhaft seine Professur erfüllt. Ich brauchte, als ich jung war, auch Geld, aber unterrichten wollte ich nie.
Und jetzt arbeiten Sie an Ihrer zweiten Oper. Wie lange brauchen Sie für solch ein Werk?
An meiner ersten Oper, „Alice in Wonderland“, habe ich fast drei Jahre geschrieben. Planungszeit vorher vielleicht auch zwei, drei Jahre. Meine zweite Oper ist keine Literaturoper, außerdem schreibe ich das Libretto selbst. Das mit der Arbeitsdauer ist sehr unterschiedlich, und es lässt sich oft nicht voraussehen. Für eine meiner Etüden für Klavier, ein Stück von zweieinhalb Minuten Dauer, habe ich drei Monate gebraucht und bin darüber fast verzweifelt. Am längsten dauert freilich der Prozess von den ersten Ideen im Kopf über ihr allmähliches Reifen und das Festhalten einzelner Skizzen. Gewöhnlicherweise verwerfe ich so etwa 98 Prozent meiner Ideen und Einfälle, und das ist kein geradliniger Prozess.
Und jetzt setzen Sie sich gleich wieder an den Schreibtisch?
Jetzt setze ich mich wieder an den Schreibtisch. Wenn ich einmal komponiere, mache ich nichts anderes.