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Interview
„Es ist noch so viel zu entdecken!“
Seit mehr als einem halben Jahrhundert führt Paul Van Nevel mit seinem Huelgas Ensemble Musik des 13. bis 16. Jahrhunderts auf
Von
Arnt Cobbers
Pawel Stelmach

Das Huelgas Ensemble ist seit Jahrzehnten das profilierteste Vokalensemble für die polyfone Musik des Mittelalters und der Renaissance. 1971 sei es von Paul Van Nevel an der Schola Cantorum Basiliensis gegründet worden, liest man allenthalben. Doch das ist nur die halbe Wahrheit, wie sich im Gespräch mit dem Ensembleleiter, Dirigenten und unermüdlichen Entdecker Paul Van Nevel bald herausstellt. Der Flame, der am 4. Februar 79 Jahre alt wird, hat mich zum Interview in seine Wohnung in Antwerpen eingeladen, wohin er vor einigen Jahren gezogen ist – und wo nun auch das Huelgas Ensemble probt. Die Hotels in Antwerpen seien viel günstiger, sagt er, und bis auf ein Ensemblemitglied kämen derzeit alle aus dem Ausland angereist. Van Nevel (sprich: Nefel) ist ein munterer Gesprächspartner, der gut Deutsch spricht. Während des ganzen Gesprächs hält der „bekennende Cigarier“ einen Zigarrenstumpen in der Hand – rauchen tue er nur draußen auf dem Balkon, sagt er. Die Wohnung, in der er mit seiner deutschen Frau, der Blockflötistin Silke Jacobsen, wohnt, ist mit Büchern und Antiquitäten gefüllt – über dem Sofa hängt ein Foto Béla Bartóks vor einem Zelt und in der Diele eines von Paul Gauguin am Harmonium.

Herr Van Nevel, im Internet liest man, die Notations- und Quellenkunde sei Ihr Steckenpferd, daraus sei vor fünfzig Jahren das Huelgas Ensemble entstanden. Was ist daran so faszinierend?

Das ist die Basis für alles. In den zwei Jahren, die ich in Basel bei Karin Paulsmeier Notation gemacht habe, sind mir Augen und Ohren geöffnet worden. Da hab ich gesehen, was noch alles unentdeckt ist und welche Vorteile es hat, wenn man das Original lesen kann. Von meinen Sängern erwarte ich das nicht, die lesen meine Transkription. Aber wenn man von einer Transkription von jemand anders singt, weiß man eigentlich nicht, was man in der Hand hat. Oft sind Fehler drin oder, noch gefährlicher, sogenannte Verbesserungen. Da denkt ein Musikwissenschaftler: So eine Dissonanz, das kann nicht richtig sein – und korrigiert den vermeintlichen Fehler. Aber wenn man alles, was einem unbekannt ist, als Fehler ansieht, geht es nie voran. Und selbst wenn die Transkription gut ist, interpretiert man doch eigentlich nur die Interpretation eines anderen. Ich möchte den direkten Kontakt mit den Noten haben und direkt in den Kopf des Komponisten gucken: Warum hat er das so geschrieben? Da kommen viele interessante Dinge zum Vorschein. Man sieht, wie professionell die Musiker damals waren. Sie haben nur notiert, was wirklich notwendig ist. Was selbstverständlich oder bekannt war, haben sie weggelassen. Und Sie wissen sicherlich: Man sieht nie eine Partitur, sondern immer nur die separaten Stimmbücher oder Chorbücher. In meiner Arbeit gibt es zwei besondere Momente: Der erste ist, wenn ich die vier, fünf, sechs Stimmen übereinandersetze und sehe, wie es klingen wird – das ist der erste Schock. Und der zweite Schock ist die erste Probe.

Haben Sie Musikwissenschaft studiert?

Nein, der Anfang von Huelgas war eigentlich ein Laboratorium. Wir haben angefangen zu viert, wir haben die Originale gelesen, das hat zum Teil sehr lang gedauert. Musik aus dem 13. Jahrhundert zu lesen, ist nicht so einfach. Aber uns war der direkte Kontakt zur Musik wichtig. Da habe ich viel gelernt.

Hatten Sie vorher studiert?

Natürlich. Sehr wichtig war mein Professor am Konservatorium in Maastricht, Joannes Colette, da hat alles angefangen. Er war ein fantastischer Lehrer, da habe ich vier Jahre lang alte Musik gemacht. Aber von modernen Partituren!

Als Sänger?

Nein, ich habe Blockflöte und Alte Musik studiert. Und von meinem zwölften Lebensjahr an hab ich gesungen. Im bischöflichen Chor in Hasselt, meiner Geburtsstadt.

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