
Da hat sie sich was vorgenommen, die Solofagottistin der Wiener Philharmoniker. Aber Herausforderungen scheut Sophie Dervaux nicht. Aufgewachsen im Großraum Paris, studierte sie in Lyon und Berlin, wurde Stipendiatin der Berliner Philharmoniker und 2013 deren Solokontrafagottistin, 2015 wechselte sie als Solofagottistin an die Staatsoper Wien. 2021 erschien das erste Album unter ihrem Namen bei Berlin Classics, Vivaldi Vol. 2 ist bereits ihr fünftes. Die 34-Jährige ist eine lebhafte Gesprächspartnerin, sie spricht sehr gut Deutsch.
Frau Dervaux, wie sind Sie auf die Idee gekommen, alle 39 Fagottkonzerte aufzunehmen?
Eigentlich wollten der Leiter des La Folia Barockorchester, Robin Müller, und ich eine Barock-CD machen mit Werken von Telemann, Boismortier und Vivaldi, mit einem Barockfagott. Dann kam der nächste Corona-Lockdown, und wir mussten die Aufnahme absagen. Und als wir weiter über das Projekt sprachen, dachten wir, uns auf einen Komponisten zu konzentrieren und wirklich alle Vivaldi-Konzerte aufzunehmen, wäre schön. Für einen Musiker ist so ein langfristiges Projekt eine schöne Sache.
Man kann sich entwickeln.
Sind die Konzerte denn abwechslungsreich genug?
Ich finde schon. Jedes Konzert hat seinen eigenen Charakter. Sie stehen in verschiedenen Tonarten, manchmal sind sie sehr barock, manchmal ist der dritte Satz ein Menuett, was schon fast an Haydn denken lässt. Vivaldi hat sehr strukturiert komponiert. Aber ich glaube, er hat vieles sehr spontan, sehr schnell geschrieben.
Natürlich gibt es Ähnlichkeiten, aber das ist dann auch die Herausforderung, dass wir wirklich nach unterschiedlichen Farben suchen müssen. Wenn wir ein Stück zum ersten Mal spielen, machen wir ganz genau, was da steht. Und dann arbeiten wir an der Begleitung, mal Pizzicato, mal mit, mal ohne Continuo, mal mit Theorbe oder Barockgitarre. Und je weiter wir kommen, desto mehr Freiheiten nehmen wir uns. Wir spielen natürlich, was da steht, aber wir machen viel mehr Fermaten oder Rubati, wir versuchen jedem Satz einen besonderen Charakter zu geben. Ein Allegro moderato kann doppelt so langsam sein wie das nächste Allegro moderato, wegen der kleinen Notenwerte. Man muss versuchen zu spüren, was Vivaldi gemeint hat. Es gibt eher langsame Sätze, die wir sehr langsam gespielt haben, und andere, die wir sehr flott gespielt haben, und beim Abhören denke ich mir manchmal, wir hätten es auch umgekehrt machen können. Aber wir müssen uns ja leider festlegen, wenn wir es aufnehmen. Es ist sehr abhängig von der Stimmung, in der wir sind bei der Aufnahme. Die Akustik der Kirche spielt auch eine Rolle. Und auch unser Tonmeister gibt immer wieder Input und Ideen. Das ist total interessant. Aber man muss sagen, es ist schon vom Grundmaterial her sehr abwechslungsreich. Vivaldi war nicht nur der Routinier, der ein Konzert nach dem anderen abgespult hat. Ihm ist immer etwas Neues eingefallen. Weiß man, warum Vivaldi so viele Fagottkonzerte komponiert hat? Nur für die Geige hat er mehr Konzerte geschrieben.
Ich habe keine seriöse Quelle gefunden, die das erklären kann. Er selbst, vermutet man, hat wohl nicht Fagott gespielt, weil er Asthma hatte. Aber es muss auf jeden Fall eine sehr gute Fagottistin oder mehrere gegeben haben im Ospedale de la Pietà, denn die Konzerte sind schwer zu spielen. Aber sie liegen gut auf dem Fagott, er kannte das Instrument. Sehr viele Konzerte stehen in C-Dur, F-Dur und B-Dur, den drei Tonarten, die auf dem Fagott am besten funktionieren. Und wenn er mal etwas in D-Dur schreibt, dann liegt es gut, und er umgeht die Töne, die auf dem Barockfagott sehr schwer zu spielen sind, oder benutzt sie selten.
Kennen Sie die Konzerte alle schon oder lernen Sie vieles ganz neu kennen?
Viele sind für mich neu. Beim nächsten Mal nehmen wir sechs oder sieben Konzerte auf, mal sehen, wie viele wir schaffen. Und vier davon haben wir schon im Konzert gespielt. Das macht einen großen Unterschied, weil man im Konzert eine ganz andere Energie hat. Ein Konzert ist eine lebendige Erfahrung, da geht es um die Energie zwischen uns und dem Publikum. Wenn man nur für die Mikrofone spielt, muss man versuchen, ebenfalls diese Energie aufzubringen. Und das finde ich einfacher, wenn man schon eine Erfahrung mit dem Werk vor Publikum gemacht hat. Aber 39 verschiedene Konzerte kriegt man gar nicht im Konzertleben unter.
Haben Sie denn schon alle einmal angespielt?
Noch nicht alle. Das macht es so spannend. Wir Fagottisten spielen oft immer dieselben fünf bis zehn Standardwerke. Mozart, Weber, Hummel, Rossini. Man hört sich die Aufnahmen an, die es gibt, und will dann auch diese Werke spielen. Deshalb drehen wir uns immer wieder im Kreis mit den wenigen Konzerten. Als Student bekommt ja man Empfehlungen von seinem Lehrer. Und ab und zu fallen einem Noten in die Hände von Werken, die man dann spielen will. Auf Werke, von denen es keine guten Noteneditionen gibt, kommt man dann gar nicht.
Aber die Vivaldi-Konzerte sind alle veröffentlicht?
Es gibt Noteneditionen und gedruckte Stimmen. Die Continuo-Spieler spielen lieber aus der Handschrift, wo der Bass noch nicht ausgeschrieben ist. Ich habe alles schön gedruckt und eingerichtet. Aber ich vergleiche trotzdem zwischen Handschrift und Notentext. Die Ricordi-Ausgaben sind eigentlich sehr gut, aber ich mache mir trotzdem gern mein eigenes Bild.
In welcher Reihenfolge nehmen Sie die Konzerte auf?
Wir haben mit der Nummer 1 angefangen und dann 2, dann 3, dann 4 aufgenommen. Und hatten schließlich mehr, als auf das erste Album passte. Für die zweite Aufnahme habe ich dann geschaut, was dazu passen könnte vom Charakter und den Tonarten her. Und nun mischen wir. Fünf Konzerte hintereinander in C-Dur wäre schwierig. Und ich versuche, bekannte mit unbekannten Konzerten zu mischen. Sich an den Nummern der Konzerte zu orientieren, macht eigentlich nicht so viel Sinn, weil man die Chronologie, in der sie entstanden sind, gar nicht genau kennt.
Wer ist denn eigentlich das La Folia Barockorchester?
Eine coole Truppe! Sie hatten ursprünglich ihre Basis in Dresden, aber einige Musiker wohnen mittlerweile in Österreich. Sie spielen seit zwanzig Jahren zusammen, sie haben eine Art der Verständigung untereinander, dass man nicht mehr viel reden muss.
Wie viele sind es?
Wir sind nur acht insgesamt. Wir haben uns für eine solistische Besetzung entschieden, denn wenn man solistisch spielt, gibt man eine andere Energie, als wenn man sich in einer Gruppe anpassen muss. Das funktioniert auch mit der Balance gut.
Warum spielt das Orchester auf „alten“ Instrumenten und Sie auf einem modernen Fagott?
Mir war es wichtig, dass das Orchester aus der Alten Musik kommt. Es ist eine andere Art zu spielen, zu artikulieren, flexibel zu sein. Die Art zu spielen, ist mir wesentlich wichtiger als das Instrument selbst. Ich spiele auch Barockfagott, aber ich habe mich dann doch für das moderne Instrument entschieden. Das spiele ich jeden Tag. Aber ich versuche, mit den modernen Möglichkeiten die Flexibilität des Barockinstruments zu finden. Die Art zu spielen, ist anders, die Luftführung ist viel flexibler, man braucht weniger Druck. Und die Griffe sind auch anders. Man kann manche Töne besser oder weniger gut intonieren, was jeder Tonart dann auch eine andere Farbe gibt. Aber ich glaube, wenn man das weiß, dann kann man das auch mehr oder weniger kopieren auf dem modernen Instrument. Und ich versuche auch, die barocke Art der Artikulation auf dem modernen Instrument zu finden und wirklich so flexibel zu spielen, wie es geht. Wichtig ist mir, dass es sich mit den Streichern gut mischt, ich versuche, mich mit meiner Artikulation anzupassen. Und wenn alle quasi die gleiche stilistische Sprache sprechen, dann passt es. Ich möchte mich einfach wohlfühlen und das Beste geben können.
Sie dirigieren ja auch seit einigen Jahren. Ein Ensemble von acht Musikern ist zu klein, um es zu dirigieren, oder?
Das würde nur stören. Aber eigentlich dirigiere ich immer mehr. Mal leite ich mit dem Fagott, das ist ein bisschen wie Kammermusik in Groß, mal dirigiere ich mit dem Taktstock. Vor drei Wochen habe ich zum Beispiel Strawinskys „Feuervogel“ dirigiert, das hat nichts mehr mit dem Fagott zu tun. Mal sehen, wie es sich entwickelt. Ich spiele immer noch sehr gern Fagott. Aber für einen Dirigenten ist das Repertoire unendlich, man kann noch so viel lernen, und jedes Orchester ist anders, man muss als Dirigent immer anders sein, um dasselbe Ergebnis zu erzielen, das ist eine unendliche musikalische Suche. Als Fagottistin spiele ich meine Stimme mehr oder weniger immer gleich. Als Solistin kann ich natürlich versuchen, die Musiker mitzunehmen, sie zu beeinflussen, wie sie phrasieren und spielen. Aber als Dirigentin habe ich ganz andere Möglichkeiten, die Aufgabe ist viel umfassender.
Im Orchester zu spielen, ist auch nach zehn Jahren immer noch interessant?
Am Anfang war es natürlich wahnsinnig viel Arbeit, da musste ich mehr als dreißig Opern in einem Jahr lernen. Das war anstrengend, aber auch spannend. Jetzt kenne ich die Stücke, aber dafür muss ich nicht mehr so auf meine Stimme fokussiert sein, ich kann viel mehr die Sänger genießen oder die Inszenierung – wir haben in der Wiener Staatsoper ja das Glück, dass wir einen Teil der Bühne sehen können. Viele Opern werden einfach nie langweilig. Man kann „La Bohème“ hundertmal spielen, man weint trotzdem am Ende. Und was nicht so spannend ist, das spielt man eben, das ist auch okay, das gehört dazu. Und ich kann ja meine Projekte nebenher machen, um am Instrument immer wieder gefordert zu werden und mich zu entwickeln.
Und das Fagott ist immer noch das richtige Instrument?
Als ich ins Orchester gekommen bin, habe ich etwas damit gehadert, dass die Klarinettisten, Flötisten, Oboisten viel mehr Soli haben. Wir Fagottisten stehen mehr im Schatten, wir sind viel mehr Tuttisten, wir müssen uns anpassen und unterstützen und uns mischen. Und manchmal kriegt man dann auch ein Solo. Mittlerweile mag ich das sehr, weil es viel entspannter ist. Ich kann einen Opernabend wirklich genießen, die Herausforderungen hole ich mir in anderen Projekten.
Wann wird das Vivaldi-Projekt abgeschlossen sein?
Das ist schwer einzuschätzen. Wir machen dieses Jahr wahrscheinlich noch die vierte Aufnahme, insgesamt werden es sechs oder sieben, je nachdem, wie viele Konzerte wir jedes Mal schaffen. Es dauert also wohl noch drei Jahre. Aber das ist gut, weil man dann die Entwicklung sieht. Alles auf einmal wäre zu viel – ich möchte ja jedes Konzert gut vorbereiten und genießen.