
Je stärker sich Personalstile ausprägten, desto origineller, unverwechselbarer wurden die Werke. Spätestens ab 1800 gaben Symphonien ihre Eigenart gleich in den ersten Takten preis. Wir wissen nach zwei Sekunden, ob es sich um Mozarts Symphonie g-Moll handelt oder um Beethovens Fünfte. Aber der Beginn muss nicht nur ergreifen oder entzücken oder aufrütteln, er muss auch den Weg weisen zu einem Ziel. Dem Alpha muss das Omega folgen – andernfalls endet man in den Gefilden des Rhapsodischen.
Die Symphonie verfügte schon früh über revolutionäres Potential, da sie die höfische wie die sakrale Musikpraxis überwand. Eine neue Zeit brach an. Aber Fermente der alten überlebten. Deswegen wirken trotz aller Innovationskraft die Werke eines Johann Stamitz und anderer Vorklassiker doch konventionell. Selbst bei Joseph Haydn behauptet sich noch vielfach der Zeitstil. Die übermütige Bläserfanfare seiner 48. Symphonie C-Dur „Maria Theresia“ bleibt einem freilich im Gedächtnis, und die ungewöhnliche Eröffnung von Nr. 103 Es-Dur trug dem Werk gar den Namen „Mit dem Paukenwirbel“ ein, während Nr. 104 D-Dur durch den Wechsel von barockem Eröffnungsgestus und romantischer Klage fasziniert. Nicht immer entziffern wir sogleich die Besonderheit eines Werkes; so braucht die Symphonie 97 C-Dur einige Seiten, um sich als das zu erkennen zu geben, was ihr ein Biograf Haydns zugesprochen hat, nämlich die „mit Weinlaub umwundene Trauer“ des österreichischen Charakters. Der springt einem hingegen aus tausend Notenblättern Franz Schuberts sofort entgegen, am schönsten zu Beginn der „Unvollendeten“, deren romantisches Geraune unvergleichlich zu nennen wäre – gäbe es nicht die „Sinfonie singulière“, die Franz Berwald 1845 nach einem Wiener Aufenthalt geschrieben hat.
Von Mozart ist Lokalkolorit nicht zu erwarten, schon gar nicht wienerisches, denn er hasste die Donaumetropole wie sonst nur noch Salzburg und Paris. Auch die Individualität der Anfänge, so geistreich sie sind, ist bei ihm noch nicht dermaßen ausgeprägt wie bei Beethoven. Wer wüsste auf Anhieb zu sagen, ob gerade die „Linzer“ oder „Prager Symphonie“ gespielt wird! Vollkommene Treffsicherheit ist nur bei den zwei Symphonien g-Moll gegeben (Nr. 25 bzw. 40); bei Mozarts letztem Gattungsbeitrag C-Dur fällt die Identifikation schon wieder schwerer. Das dem Werk angeheftete Etikett „Jupiter“ ist dabei wenig hilfreich – und im Falle Mozarts sowieso unpassend: Mit dem Göttlichen hatte er es nicht so …
Spätere Symphoniker dagegen umso mehr. Einige symphonische Anfänge lassen sich durchaus kosmologisch deuten: als Klangmetaphern der Schöpfung oder – rein wissenschaftlich – der Entstehung des Universums. Ausgangspunkt dieser Betrachtungsweise ist die „Eroica“ mit ihrem Urknall: ein Forte-Tutti, zwei Pausen in Vierteln, dann wieder ein Tuttischlag und zwei Viertelpausen – den Hörern muss damals das Herz stehengeblieben sein bei diesem Auftakt. Er hallt in der Musikgeschichte noch lange nach, am auffälligsten in der „Sinfonia espansiva“ Carl Nielsens, seiner Dritten. Sie hebt ebenfalls mit einem Tutti im Forte an, dem dann über 14 Takte weitere Schläge folgen, wobei die Notenwerte kleiner und die Pausen immer kürzer werden, den Eindruck atemloser Beschleunigung erzeugend.
Aber natürlich ist ein Urknall nur eine Möglichkeit des Beginnens. Das Alternativmodell zur „Eroica“ stammt von Bruckner, dessen elf Symphonien überwiegend mit dem berüchtigten „Urnebel“ beginnen, der nicht immer ein Streichertremolo sein muss. Man könnte das Urbild dieses Beginns in Haydns „Schöpfung“ vermuten, allerdings steht dort im ersten Takt ein Tutti forte, dann erst entrollt sich das uranfängliche Chaos. Eine creatio ex nihilo ist das nicht. Beethovens Neunte kommt dem Ursprung näher: geheimnisvolle Sechzehntel-Triolen in den zweiten Violinen und Celli, also „Urnebel“, dann die fallenden leeren Quinten der ersten Violinen, die sich anschwellend zu einem Ausbruch negativer, niederschmetternder Gewalt steigern. Das ganze zweimal, als sollte es keine Rettung geben aus dem anfänglichen Desaster. In den fallenden Quinten ist bruchstückhaft das Hauptthema vorgebildet, von dem die weitere Entwicklung bestimmt wird. Die grandiose Düsternis dieses Satzes erscheint uns einzigartig, unwiederholbar.
Doch zeigt Bruckners 9. Symphonie eine nicht weniger eindringliche Konzeption. Auch sie beginnt in d-Moll, und auch hier hören wir, wie Mikroelemente aus Gottes Baukasten zögerlich, fast widerstrebend zu einem organischen Motivgebilde zusammenschießen – bis der Schöpfer selbst in furchterregender Majestät hervortritt. Bei Bruckner erleben wir wie später in den kolossalen, einsätzigen Symphonien Allan Petterssons, dass Musik keinen echten Anfang hat, dass sie immer schon existiert im Kontinuum der Zeit oder Zeitlosigkeit. An das Numinose der Gottheit indes rühren allein die archaischen Schöpfungen eines Beethoven und Bruckner.
Dafür gibt es auch biographische Gründe. Es ist bekannt, dass sich Beethoven intensiv mit Schriften der indischen und christlichen Religion beschäftigte, dass er wiederholt intensiv Christoph Christian Sturms „Betrachtungen über die Werke Gottes im Reiche der Natur und der Vorsehung“ studierte. Und wer wollte daran zweifeln, dass es Bruckners strenge katholische Erziehung war, die ihm erhebende und erschreckende Visionen schenkte, die in seinen martialischen Manifestationen einer erstarrten, unnahbaren Gottheit widerklingen. Jedenfalls ist kein späterer Komponist in diese spekulativen Sphären vorgedrungen, auch Gustav Mahler nicht und erst recht nicht die passionierten Hobby-Astronomen Charles Koechlin und Robert Simpson.
Mit dem Versuch, den Schöpfungsakt musikalisch aus dem Naturtrieb statt aus dem göttlichen Willen zu gestalten, ist Mahler in der 3. Symphonie – auch sie in d-Moll – philosophisch sogar gescheitert. Die von Brahms entlehnte, einleitende Hörner-Fanfare des Kopfsatzes mit dem ursprünglichen Titel „Der Sommer marschiert ein“ ergibt keinen Sinn, wenn danach das schwere, dumpfe Erwachen der erstarrten Materie geschildert wird. Das einsame Trompetensignal am Beginn der 5. Symphonie cis-Moll ist schon logischer, weil als rhythmisierte Trauermarsch-Formel in den Kopfsatz eingebunden. Das Instrument taucht in dieser Funktion dreißig Jahre später noch einmal bei Franz Schmidt auf, dessen 4. Symphonie mit einem Trompetensolo beginnt und endet: Erinnerungen an seine Jugend, als er in den Wälder rings um Perchtoldsdorf auf der Trompete improvisierte, verbinden sich mit dem Schmerz um seine früh verstorbene Tochter; die idée fixe unterliegt – anders als in zyklischen Symphonien von Berlioz, César Franck oder Tschaikowsky – keiner Veränderung, sie symbolisiert vielmehr den Lebenskreislauf und die „letzte Musik, die man ins Jenseits mitnimmt“.
Finden sich bei Mahler vergleichbare ingeniöse Eingebungen? Sehr sonderbar tönt uns seine 1. Symphonie D-Dur entgegen: Über den auf sieben Oktaven verteilten und fünfzig Takte durchgehaltenen Liegeton A der Streicher erscheint der verfremdete Naturlaut eines Kuckucksrufs, ein Quartmotiv, das die gesamte Symphonie organisch gestaltet. Wir haben es nicht mit dem „Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande“ zu tun wie in der „Pastorale“, nicht mit einem menschlichen Gemütseindruck, sondern mit der Stimme der Natur selbst. Allerdings übernahm Mahler die Idee mit dem Liegeton aus Beethovens Vierter. Das Allegro maestoso der „Auferstehungs“-Symphonie c-Moll kann, mangels einer deutschen Vokabel, nur mit „thrilling“ beschrieben werden: Unter dem Tremolo der hohen Streicher im fortissimo setzen die tiefen Streicher forte fortissimo mit abgerissenen Figurationen ein, aus denen sich schon bald das zerklüftete Hauptthema entspinnt – ein großer Wurf, an den vielleicht nur noch seine so ganz anders geartete 9. Symphonie heranreicht mit ihrem irrealen viertönige Motiv der Harfe, dem sich zögerlich andere Instrumente anschließen, wie aus einem dunklen Traum oder dem Unterbewussten auftauchend. Von einer Melodie im üblichen Sinne kann nicht mehr gesprochen werden; wir werden mit einem Werk totaler Polyphonie konfrontiert.
Zehn Jahre später entstand ein französisches Pendant zu Mahlers Neunter: die letzte Symphonie von Charles Tournemire, seine Achte. Der Anfang ist ähnlich zart und vage, atmet eine sehr dünne Luft. Die Inspiration zu dieser Symphonie, genannt „Le Triomphe de la Mort“, überfiel Tournemire, als er seine Frau kurz nach ihrem Tod ein letztes Mal küsste.
Nun streben nicht alle Komponisten und noch weniger alle Musikliebhaber in solche metaphysischen Höhen. Die Regel dürfte eher sein, es sich am Wohlklang genügen zu lassen, an einer hinreißenden, unvergesslichen, süchtig machenden Melodie, wie sie die Vierte e-Moll von Brahms und die Erste As-Dur von Elgar adelt. Brahms’ letzte Symphonie entstand im steiermärkischen Mürzzuschlag, wo „die Kirschen nicht süß und essbar“ werden. Tatsächlich beginnt das Werk denn auch keineswegs kernig mit einem handfesten Thema, sondern nur mit fallenden und steigenden Intervallen; erst die Nebenstimmen, der polyphone Reichtum machen diesen Beginn so unwiderstehlich, dass er sich auch durch hundertfaches Hören nicht abnutzt. Allerdings haben betäubend schöne Anfänge wie bei Brahms und Elgar oder der 6. Symphonie Edmund Rubbras auch einen Nachteil: Was danach kommt, das zweite Thema nämlich, kann diese Höhe selten halten. Um den Bruch zu vermeiden, muss das zweite Thema marginalisiert werden oder völlig entfallen, was aber nur funktioniert, wenn das Hauptthema (noch einmal: Mozart g-Moll, Beethoven c-Moll) von bezwingender Originalität und zugleich wandlungsfähig ist. Das suggestive 16-taktige Largo-Thema von Hector Berlioz’ „Symhonie fantastique“ eignet sich dafür nicht. Bruckner aber gelingt das in seiner 7. Symphonie E-Dur mustergültig: Ihr 20 Takte beanspruchendes Hauptthema kehrt im Laufe des ersten Satzes öfter wieder und wird durch Modifikation und Modulation mit den beiden anderen Themen organisch verbunden. Eine Meisterleistung dieser Form stellt Alexanders Glasunows 3. Symphonie D-Dur dar, deren herbstlich verhangenes, schwärmerisches Thema nach allen anderen Regeln der Tonkunst verwandelt wird und nicht eine Sekunde langweilt.
Glasunow und sein Mentor Tschaikowsky stehen unverkennbar in jener romantischen Tradition, die sich vom Geisterreich der Ideen, von der Überhöhung der Musik mittels Metaphysik verabschiedet hat. Wenn jetzt noch Gestirne eine Rolle spielen, dann bestenfalls der nahe Mond, dessen Betrachtung Eichendorff den Vierzeiler eingab: „Und meine Seele spannte / weit ihre Flügel aus / flog durch die stillen Lande / als flöge sie nach Haus.“ Über die Stratosphäre wollte keiner mehr so recht hinausgelangen, obwohl dort – laut Eichendorff – die wahre Heimat der Seele liegt. Man flog lieber durch die stillen Lande, die mal schwermütig, mal euphorisch besungen wurden.
Mendelssohns „Schottische Symphonie“ mit ihrer todtraurig schönen Eröffnung ist wohl das beste Beispiel für die ernste Stimmungslage, Schumanns „Rheinische“ für die überschwängliche. Der Beginn seiner 3. Symphonie Es-Dur wurde gelegentlich mit der gut zehn Jahre später entstandenen „Meistersinger“-Ouvertüre verglichen, deren pompös-vordergründige Festtagslaune sie jedoch nicht teilt; Schumann bringt durch Hemiolen gleich im zweiten Takt die metrische Ordnung durcheinander, die Verblüffung und Begeisterung desjenigen einfangend, der – wie Schumann als Zwanzigjähriger – zum ersten Mal den Mittelrhein mit seinen Burgen und Weinbergen erblickt. Landschaftsbeschreibungen sollte man hier aber nicht erwarten, genauso wenig wie bei Mendelssohn oder in Schuberts Großer C-Dur-Symphonie, die gleichwohl davon zu künden scheint, dass sie in Bad Gastein entstand und nicht im lauten Wien. Das Solohorn der Einleitung, das sein eigenes Echo fabriziert, schwankt zwischen C-Dur und a-Moll, außerdem ist auch diese Melodie asymmetrisch gesetzt – eine der scheinbar einfachsten, tatsächlich raffiniertesten Anfänge der symphonischen Literatur. Bruckner immerhin kam dem Verfahren nahe mit seiner 4. Symphonie Es-Dur, die nicht zufällig die „Romantische“ getauft wurde, huldigt er hier doch einmal unverkennbar dem schönen Diesseits. Ganz anders verhält es sich mit der Es-Dur-Symphonie von Jean Sibelius, seiner Fünften. Die olympische Eingangsszene mit dem Horn findet sich in der Urfassung von 1915 überhaupt nicht; Sibelius hätte, indem er sie nachträglich einfügte und erst so ein Werk von absoluter Stringenz schuf, mit dem Mathematiker Carl Friedrich Gauß sagen können: Das Ergebnis kenne ich schon, mir fehlt nur noch der Weg dahin …
Auch Camille Saint-Saëns laborierte gründlich an seinem großartigsten Werk; seine 3. Symphonie für Orchester und Orgel von 1886, das Prunkstück der französischen Symphonik, sollte eigentlich in h-Moll beginnen. Doch dann entschloss sich Saint-Saëns, das seit Beethovens Fünfter geradezu klassische Motto Per aspera ad astra anzuwenden, also vom anfänglichen c-Moll zum triumphalen C-Dur fortzuschreiten.
Nur ein Jahr vor Saint-Saëns’ Orgel-Symphonie wurde, ebenfalls in London, Antonín Dvořáks 7. Symphonie d-Moll uraufgeführt. Die unheilschwangere, bedrohliche Szenerie des Anfangs gehört zu seinen stärksten Eingebungen und findet im weiteren Verlauf des Werkes ihre kaum weniger dämonische Fortsetzung. 1893 folgte Peter Tschaikowskys „Pathétique“ h-Moll; die nachtschwarze Fagott-Melodie, aus der dann das schmerzlich bewegte Allegro non troppo auf gleichsam somnambule Weise hervorgeht, sucht nicht nur im russischen Repertoire ihresgleichen.
Tschaikowskys Favoriten hießen Mozart und Schumann, aber bei seinen symphonischen Arbeiten orientierte er sich an Beethoven. So hielten es Komponisten aller Herren Länder bis weit ins 20. Jahrhundert hinein. Der emphatische Bekenntnischarakter und die Geschlossenheit der Form, auf dem Fundament der Einleitungen ruhend, standen dabei im Vordergrund. Als Vorbilder dienten nicht nur Beethovens epochale Symphonien Nummer 3, 5 und 9; schon die Erste lässt die „Pranke des Löwen“ erahnen und verwirrte gleich im ersten Ton die Zeitgenossen durch den dissonanten Septimenakkord anstelle des reinen C-Dur; im umfangreichen Adagio molto der Zweiten D-Dur haben Kritiker erstmals ein Bild der Sternenwelt erkennen wollen, was der innige Gesang ebenso nahelegt wie das harsch dreifahrende Fortissimo-Motiv in d-Moll, das zwei Dezennien später fast identisch in der 9. Symphonie wiederkehrt; der Liegeton der Bläser in der Vierten B-Dur, kombiniert mit geheimnisvoll fallenden Terzintervallen und zögerlichen, von Pausen unterbrochenen Schritten der Streicher, verleiht dem Werk seine mysteriöse Aura; die lichte Harmonik und arkadische Gelöstheit der Sechsten wiederum inspirierten später Brahms (Nr. 2), Dvořák (Nr. 6) und Vaughan Williams (Nr. 5) ebenfalls zu pastoralen D-Dur-Symphonien; das Poco sostenuto der Siebten A-Dur gibt sofort die Dominanz des Rhythmus über die Melodik zu erkennen, und gigantische Skalenläufe der Streicher bereiten uns auf die extreme Dynamik dieses Werkes vor; lakonischer aber nicht weniger wirkungsvoll ist die sanguinisch einsetzende Achte F-Dur. Der Mann, dessen Name am Anfang des radikal persönlichen Komponierens steht, er ist auch der größte Meister der Anfänge gewesen.