
Die Konzertscheune in Gohrisch
Die Schostakowitsch-Tage in Gohrisch, einem kleinen Luftkurort in der Sächsischen Schweiz, haben sich zu einem festen Anlaufpunkt für Fans und Kenner entwickelt. Seit der ersten Ausgabe im Jahr 2010 verantwortet Tobias Niederschlag als Künstlerischer Leiter das Programm – wie auch in seinem Hauptberuf das des Leipziger Gewandhauses. Zuvor war der Musikwissenschaftler Konzertdramaturg der Sächsischen Staatskapelle Dresden. Wir führten das Telefonat zwei Tage nach dem Ende des diesjährigen Festivals, das neun Konzerte an fünf Tagen bot.
Herr Niederschlag, wie lief das Festival?
Es war wieder ein gelungener Jahrgang mit vielen künstlerischen Höhepunkten. Wir hatten namhafte Gäste, darunter Yulianna Avdeeva, David Geringas, die Kremerata Baltica mit Mirga Gražinytė-Tyla, das Quatuor Danel und natürlich die Sächsische Staatskapelle Dresden, die das Festival von Anfang an mitgestaltet hat und diesmal mit dem Schostakowitsch-Preis ausgezeichnet wurde. Und das Wetter hat auch mitgespielt.
Wie wichtig ist Gohrisch als Schostakowitsch-Ort? Er war nur zweimal in seinem Leben kurz da und hat dort eines seiner 15 Streichquartette geschrieben.
Ja, aber nicht irgendeines, sondern das achte – eine seiner berühmtesten Kompositionen. Wahrscheinlich ist es auch das einzige Werk, das er außerhalb der Sowjetunion komponierte. Sein erster Besuch in Gohrisch 1960 fiel in eine biografisch entscheidende Situation: Unmittelbar vorher war er gezwungen worden, in die KPdSU einzutreten, er trug sich mit Selbstmordgedanken, wie wir aus Briefen wissen. Dann reiste er nach Dresden, wo er mit dem Regisseur Lew Arnstam an dem Film „Fünf Tage – Fünf Nächte“ arbeitete. Zum Komponieren der Filmmusik zog er sich im Juli 1960 für eine Woche nach Gohrisch zurück, ins Gästehaus des Ministerrates der DDR. Dort hat er dann aber ein sehr persönliches Werk geschrieben, vielleicht sein persönlichstes: Im achten Streichquartett blickte er auf sein Leben zurück, es enthält viele Eigenzitate und basiert maßgeblich auf dem DSCH-Motiv. 1972 war er ein zweites Mal in Gohrisch, begleitet von seiner jungen Frau Irina. All das haben wir 2010 zum Anlass genommen, in Gohrisch ein Schostakowitsch-Festival zu begründen, übrigens das weltweit einzige, das jährlich stattfindet.
Nun ist bei der Deutschen Grammophon eine CD mit Schostakowitsch-Entdeckungen erschienen, und darauf findet sich auch das Logo der Schostakowitsch-Tage. Wo ist die Verbindung?
Alle Aufnahmen des Albums haben eine Verbindung zu unserem Festival, die meisten sind auch dort entstanden. Wir haben das große Glück, dass wir seit einigen Jahren engen Kontakt zu Irina Schostakowitsch, seiner Witwe, und zu Olga Digonskaja haben, der Leiterin des Schostakowitsch-Archivs am Moskauer Glinka-Museum. Sie hat in den letzten Jahrzehnten an die dreihundert unbekannte Werke entdeckt und wissenschaftlich eingeordnet. Mehr als ein Dutzend dieser Entdeckungen hat sie uns zur Uraufführung anvertraut, und da wir sämtliche Konzerte in Gohrisch mitschneiden, kam uns die Idee, dass der fünfzigste Todestag ein adäquater Anlass sei, um diese „neuen“ Werke auf CD zu veröffentlichen. Die Deutsche Grammophon war sofort Feuer und Flamme.
Was liegen dort im Nachlass für Werke?
Ganz unterschiedliche. Klavierwerke des jungen Teenagers ebenso wie Gelegenheitswerke für befreundete Musiker, aber auch bedeutende Manuskripte und Fragmente: Einer der wichtigsten Funde von Olga Digonskaja war der Prolog zur unvollendeten Oper „Orango“, auf dessen Klavierauszug sie 2004 stieß und der dann von Gerard McBurney orchestriert wurde.