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Porträt
Frauen eine Stimme geben
Zwei Jahre nach ihrer CD, die sie kaum gespielten Komponistinnen gewidmet hat, bringt die Cellistin Raphaela Gromes ein zweites, bereits im Titel kompromissloseres Album heraus: Fortissima
Von
Barbara Schulz
Gregor Hohenberg

Es ist ein Freitagvormittag, und obwohl die Distanz München–Feldafing, ihr Wohnort, recht überschaubar ist, treffe ich Raphaela Gromes nur via Bildschirm. Zu viel los gerade, zumal eine Reise nach Hongkong vor der Tür steht. Und gegen Ende unseres Gesprächs erfährt die Cellistin, dass dort mit einem Hurrikan zu rechnen ist. Dabei mag sie noch nicht mal den Wind an Ost- oder Nordsee … Und so steht am Schluss unseres Interviews ein Wort im Raum, mit dem wir es auch begonnen haben: Ohnmacht.

Mag es in diesem Fall auch das Wetter sein, das uns immer wieder bewusst macht, wie machtlos der Mensch sein kann, lässt sich hier der Kreis hinsichtlich Raphaela Gromes’ musikalischen und humanitären Wirkens durchaus schließen, sprach sie doch im Zusammenhang mit ihrem Engagement für die SOS-Kinderdörfer, der José Carreras Leukämie-Stiftung und den Auftritten mit dem Nationalen Sinfonieorchester der Ukraine hier wie dort immer wieder von Ohnmacht. Und dass sie den Menschen, die nicht gehört werden, eine Stimme geben will.

Was das mit ihrem neuen Album zu tun hat? „Fortissima“ heißt es, und darin
liegt auch schon die Antwort. Nein, eigentlich sind es zwei: Zum einen handelt es sich um Frauen, zum anderen bekommen sie mit dem Album nicht nur eine Stimme, sondern sie können und dürfen auch stark und laut sein. Aber eben erst heute. Und eben erst mit ihrer Entdeckung. Raphaela Gromes hat sich vor fünf Jahren schon einmal auf den Weg gemacht, vergessene Komponistinnen auf die Bühne zu holen, ihre Werke spielbar zu machen, Noten wieder aufzulegen. Und doch reagiert sie zunächst irritiert auf die Frage, ob die Intention auch war, gegen die Ohnmacht dieser Frauen Widerstand zu leisten: „Spannend! Aber ja, das ist eine ganz neue Perspektive, die durchaus richtig sein könnte. Offensichtlich habe ich einen so ausgeprägten Gerechtigkeitssinn und das Gefühl, mich einsetzen zu müssen für Menschen, denen es nicht so gut geht oder die wenige andere haben, die für sie kämpfen. Das passt in meinen Lebenslauf!“

Wenn es aber zunächst gar nicht unbedingt offensichtlich war, diesen Frauen zu ihrem Recht zu verhelfen, gehört zu werden, was war dann der Funke? „Nun, ich bin ja nicht bekannt dafür, dass ich Brahms- oder Bach-Alben einspiele, und für mein erstes Album bei Sony, ‚Serenata Italiana‘, hatte ich schon viel zusammengetragen, wirklich schöne Kammermusik von unbekannten Komponisten – Giuseppe Martucci, Alfredo Casella, Mario Castelnuovo-Tedesco. Aber irgendetwas fehlte da noch.“

Es war eine gute Freundin aus dem BR-Schallplattenarchiv, die Gromes riet: „Probier es doch mal mit Komponistinnen.“ Die Vorstandsvorsitzende des Archivs Frau und Musik in Frankfurt, Mary Ellen Kitchens, schickte ihr daraufhin einen ganzen Stapel von Noten italienischer Komponistinnen.

So fand ein Werk von Matilde Capuis auf „Serenata Italiana“. Zugleich wurde Raphaela Gromes bewusst, dass es unglaublich viel Musik von Frauen gab, die sie nie wahrgenommen hatte. Der Lockdown machte es ihr schließlich möglich, sich in die Recherche zu stürzen. Neben der Überraschung über so viel Musik war da aber auch ein Gefühl der Peinlichkeit: „Nicht nur, dass ich nichts von diesen Werken wusste. Ich habe mich auch dabei ertappt, dass auch ich davon ausgegangen war, Musik von Frauen könne nicht so gut sein – sonst würde sie ja gespielt werden.“

Das Ganze erwies sich am Ende als Glücksfall, denn sich selbst und ihren Vorurteilen auf die Schliche gekommen zu sein, bewog die Cellistin nicht nur, ihr erstes „Frauenalbum“, „Femmes“, einzuspielen, das auf Platz eins der Klassik-Charts landete und sich lange in den Bestsellerlisten hielt. Sie hat auch zu ihrem zweiten Album, „Fortissima“, das fast vergessenen Komponistinnen gewidmet ist, gemeinsam mit der Musikwissenschaftlerin Susanne Wosnitzka ein Buch geschrieben. „Ich wollte mich mit meinen Vorurteilen konfrontieren, wollte wissen, woher sie kommen. Und je mehr ich gemerkt habe, dass sie völlig unbegründet sind, je mehr ich mich in das Leben und in die Musik dieser Frauen reinbegeben habe, umso größere Welten haben sich mir aufgetan.“

Wenn Gromes von ihrem Weg zu den beiden Alben erzählt, wirkt es fast, als wäre „Femmes“ eine Vorbereitung für „Fortissima“ gewesen. Ob aber „Fortissima“ noch weiter durch die Decke gehen wird als „Femmes“? Da bleibt die Cellistin skeptisch: „Es wird schwerer werden. ,Femmes‘ besteht aus vielen Miniaturen, die leichter zu hören sind. Das Album ist mit seinen abwechslungsreichen, teilweise tänzerischen, teilweise romantischen Stücken mehr oder weniger schon eine Playlist – viel mehr Easy Listening als ,Fortissima‘, bei dem es eindeutig um das Kraftvolle geht, darum, dem Klischee zu widersprechen, Frauen könnten nur sanfte und kurze Stücke komponieren.“

Der Name ist also Programm – große Sonaten, große Cellokonzerte, deutlich anspruchsvoller als die kleinen Formate auf „Femmes“. Tatsächlich, betont Raphaela Gromes, sei „Fortissima“ für sie das wichtigere und größere Projekt. Die Stücke seien noch wesentlich überzeugender, jedes einzelne könnte seinen Weg ins Standardrepertoire finden, und so sollte „Fortissima“ noch mehr bewegen im Klassikbetrieb als „Femmes“. Raphaela Gromes hofft, „dass wir viele Menschen für die Musik von Komponistinnen begeistern können. Die Musiker sollen neugierig werden und die Stücke selbst spielen wollen. Deshalb war uns so wichtig, dass nun gut lesbares und hoffentlich fehlerfreies Notenmaterial erhältlich ist“.

Denn bei der Recherche stellte sich heraus, dass das Notenmaterial zum Teil nicht vollständig war oder sich in chaotischem Zustand befand, obwohl es schon Aufnahmen davon gab. „Beim Marie-Jaëll-Konzert hatte sich niemand bemüht, das Material so zusammenzustellen und herauszugeben, dass es auch andere spielen können. Und der vierte Satz fehlte ganz.“ Gromes’ Klavierpartner Julian Riem hat diesen vierten Satz – für Gromes das Herzstück des Konzerts, mit dem Marie Jaëll die Trauer um ihren verstorbenen Mann und ihre Mutter verarbeitet – neu herausgegeben, „sodass alle CellistInnen und Orchester das Werk ganz einfach einstudieren können“.

Es steckt also mehr hinter „Fortissma“, als nur schöne Musik zu machen. Es geht darum, diesen Komponisten den Platz im klassischen Repertoire einzuräumen, den sie verdient haben. Bezeichnenderweise hat kein Kritiker geschrieben, die Stücke seien schlecht. Im Gegenteil: „Eine Journalistin meinte sogar, die Cellosonate op. 17 von Luise Adolpha Le Beau stelle Mendelssohn in den Schatten, und Jaëll könne sich durchaus mit Dvořák und Elgar messen. Das ist doch eine Ansage! Und es gibt sicher noch weitere Werke von Komponistinnen zu entdecken, die wertvoll und großartig sind.“

Raphaela Gromes’ Reise in Sachen Frauen wird also weitergehen. Bleibt die Frage, wie viel ihre eigene Biografie damit zu tun hat. Viel, das steht fest. Zum einen ist sie mit starken weiblichen Vorbildern aufgewachsen: Ihre Mutter war die dominante Seite der Eltern, ihre Oma ebenfalls eine mutige Persönlichkeit. „Ich bin mit einem komplett anderen Modell groß geworden, als ich es dann von den Komponistinnen gelesen habe. Da habe ich zum ersten Mal verstanden, dass das nicht die Normalität war, sondern ein Geschenk. Wir stehen auf den Schultern von Heldinnen und Riesinnen, die dafür gekämpft haben, dass Frauen heute so aufwachsen können wie ich. Dieses Bewusstsein ist ein Stück weit verloren gegangen in meiner Generation.“ Mit dem Feminismus habe sie dennoch ihre Probleme, weil es so ein Reizwort geworden sei. „Mir geht es nicht um Cancel Culture. Aber es wird einem schon Männerhass vorgeworfen, obwohl man kein einziges Wort gegen Männer gesagt hat. Was ich will, ist keine Vormacht, sondern eine wirkliche und ehrliche Gleichberechtigung ohne Unterschied zwischen den Fähigkeiten.“

Zum anderen hat Raphaela Gromes die bittere Erfahrung des Krieges sehr nah miterlebt, als sie in Kiew mit ukrainischen Musikern zusammengearbeitet hat. „Ein Kollege hat mir erzählt, er komme einmal die Woche von der Front zurück nach Kiew, um ins Konzert zu gehen. Das ließe ihn Mensch bleiben. Die Musik helfe ihm gegen den Hass auf den Gegner, gegen die Angst, gegen die Erstarrung der Seele.“ Der Krieg sei eben ein zutiefst patriarchales Instrument, entsprungen dem System, in dem auch Frauen unterdrückt würden. „Setzt man sich aber mit den weiblichen Geschichten auseinander, hinterfragt man vieles mehr, wird em­pathiefähiger, vielleicht auch ein Stück weicher, offener und neugieriger. Was einen am Ende zu einem besseren Menschen macht.“

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