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Literatur und Musik
Jean Paul, Ernst Theodor Amadeus, Robert und die anderen
Die deutsche Frühromantik und ihre musikalischen Spiegelungen
Von
Gerald Felber

Paul Gauguin: Die Welle oder Undine (I), 1889

Morgengrauen. Rausschmeißer-Fanfaren, Kehraus, eine letzte matte Tanzbegegnung unter den Sechs-Uhr-Glockenschlägen von draußen und dann nur noch: aschiger Zerfall, allgemeines Abtauchen nicht nur der Anwesenden, sondern auch schon der Erinnerungen. Es mag manches aufregend, sogar schön gewesen sein in der abgelaufenen Nacht, aber nun ist es einfach vorbei und nicht mehr rückholbar … 

Die katzenjammernde Ernüchterung, die manche nächtlich Durchfeiernde auf dem Heimweg ankommt, dürfte eine Konstante des menschlichen Daseins sein; vielleicht haben schon die antiken Bacchanale für die meisten Teilnehmer in ähnlicher Weise geendet. Im Schlussstück von Robert Schumanns „Papillons“ aus den frühen 1830er Jahren beschließt eine solche Szenerie die vorangegangene Folge oft kaum minutenlanger, stroboskopisch aufblitzender Tanz- und Begegnungsszenen – und meint damit nicht mehr nur eine im schnellen Rausch durchgebrachte Nacht, sondern noch viel mehr: den Abschied nicht nur von den Illusionen vergangener Stunden, sondern überhaupt von Träumen, Hoffnungen – und den Menschen, mit denen man sie verbunden hatte. 

Der junge Schumann, trinkfester Ex-Jurastudent und abgebrochener Pianist, lebensplanerisch wie erotisch auf schwankendem Grund, dürfte sich mit solchen Befindlichkeiten gut ausgekannt haben – und traf, von Jugend an literarisch interessiert, einen, der solche verlorenen Illusionen im Großen wie im Kleinen mit skurril-ironischem Humor und melancholischer Entsagung zu seinem Lebensthema gemacht hatte: Jean Paul Friedrich Richter aus Bayreuth, gerade fünf Jahre vorher verstorben und Jahrzehnte früher, wie nun auch der angehende Komponist, einige Jahre in Leipzig ansässig. Konkret angerührt wurde Robert durch die Schlusskapitel aus dessen „Flegeljahren“ mit dem traurig-resignierten Auseinandergehen zweier sehr verschiedener, aber in das gleiche Mädchen verliebter Brüder nach einem nächtlichen Maskenball. Wobei völlig offenbleibt, ob der bei jener „Wina“ Zurückbleibende damit wirklich sein Glück finden wird – das Ende des Romans ist genauso fragmentarisch-brüchig, rätselhaft vieldeutig, gedankenspringend und unabgerundet wie das ganze Buch.

Wobei es kein Zufall ist, dass solche Charakteristika auch für viele Klavierwerke aus Schumanns Leipziger Jahren verwendet werden könnten – eine Art ästhetischer Wahlverwandtschaft mit Jean Pauls Gestaltungsprinzipien. Sie reichte weit über das op. 2 der „Papillons“ hinaus: aus Walt und Vult, den liebend konkurrierenden Brüdern der „Flegeljahre“, konstruierte sich Schumann alsbald sein imaginäres Freundespaar Eusebius und Florestan, die letztlich im höheren Sinne eins sind – nämlich Robert selbst mit seinen verschiedenen Aspekten des Edel- wie des Leichtsinns, der lyrischen Versenkung und der theatralischen Aufschneiderei, der passiveren oder aktiveren Weltaneignung. Im „Carnaval“ fünf Jahre später, wiederum der Schilderung eines maskierten Tanzvergnügens inklusive einiger Rückbezüge auf das ältere Stück, erscheinen die beiden dann, nebst etlichen pianistisch skizzierten Komödien- wie Realfiguren, sogar leibhaftig: als Verkörperung polarer, aber sich ergänzender Prinzipe und, so verschieden sie auch sein und agieren mögen, vereint im Kampf gegen die Philister dieser Welt. 

Das wiederum, die Rebellion gegen eingefrorene Sitten und Brauchtümer, mochte Jahrzehnte später auch den wie Schumann ganz am Anfang seiner Laufbahn stehenden Gustav Mahler bewegen, sich in seiner ersten Sinfonie (auch sie ist kurioserweise in Leipzig entstanden) ebenfalls auf Jean Paul – in diesem Falle auf dessen „Titan“ – zu beziehen. Und tatsächlich, so sehr sich inzwischen die Musiksprache geändert hatte: In den jähen Stimmungsumbrüchen, der Betonung des Atmosphärischen gegenüber dem Formal-Logischen, ihren Verrätselungen und Doppeldeutigkeiten – im „Carnaval“ gibt es mit dem „Sphinxes“-Abschnitt sogar schon eine Frühform von Aleatorik, und die A-ES-C-H-Tonsymbolik des Stücks erschließt sich auch nur einem entsprechend Vorinformierten – und nicht zuletzt ihren skurril-parodistischen Elementen (bei Schumann steht der abschließende Davidsbündler-Marsch im 3/4-Takt, während Mahlers langsamer Satz eine ans Ordinäre grenzende Trauermarsch-Parodie aufziehen lässt) sind sich der Klavierzyklus und die Sinfonie durchaus nahe. Haben doch beide den gleichen Quellort: jene politische wie philosophisch-geistesgeschichtliche und damit auch literarische Umbruchzeit zwischen den Revolutionen von 1789 und 1830, deren vielleicht kreativster Exponent im deutschen Sprachraum eben Jean Paul war.

Schumann war dann auch nach dem „Carnaval“ noch nicht fertig mit ihm: Die Fantasien, Idyllen und gelegentlichen Schreckensbilder des oberfränkischen Poeten geistern in seinen Tastenwerken weiter herum, offenbaren sich in Titeln wie „Humoreske“ oder „Blumenstück“ und für den, der assoziativ zu hören vermag, auch in den Noten. Etwas später kam dann mit Ernst Theodor Amadeus Hoffmann und der von ihm inspirierten „Kreisleriana“ sowie den „Nachtstücken“ ein zweiter Leitpoet in Schumanns Musikwelt – nun sogar einer, der auch selbst komponiert, Musiktheorie und -kritik betrieben, bissige Karikaturen gezeichnet und überdies als Jurist tatsächlich jenen bürgerlichen Beruf ausgeübt hatte, vor dem Robert rechtzeitig abgebogen war, kurzum: der geradezu idealtypisch jenen romantisch entfesselten Universalismus samt allen Gestehungskosten (voran die Persönlichkeitsspaltung zwischen Amts- und Privatperson und einen letztlich letalen Alkoholismus) verkörperte, den die jüngere Generation der nach 1800 Geborenen zwar noch aus der Ferne bestaunen, aber ob der in der Restaurationszeit gründlich gekippten Gesellschaftsverhältnisse für sich selbst kaum mehr realisieren konnte. Was man aus heutiger Sicht nicht unbedingt als Unglück sehen muss: Verspätete, zwischen Künstler- und Bürgertum zerrissene Bohemiens wie beispielsweise Albert Lortzing, Franz Berwald und nicht zuletzt Schumann selbst hatten in der Regel keine glücklichen Biografien. 

Um jedoch auf E. T. A. Hoffmann selbst zurückzukommen: Ihm gelang es, anders als Jean Paul, sogar ein internationales Nachleben zu entfalten, unerwarteterweise vor allem auf den Tanzbühnen: Sowohl Tschaikowskys „Nussknacker“ als auch Delibes’ „Coppélia“ bedienen sich Hoffmann’scher Vorlagen. Dass er bei Jacques Offenbach schließlich sogar – als verbindendes Element zwischen drei seiner Erzählungen – persönlich auf der Opernbühne erscheint, war dann eine Art Ritterschlag seines postmortalen Nachlebens. 

Die Tatsache, dass der Dichter hier in Frankreich ebenso wie in Russland eingemeindet wurde, ist Teil einer Internationalisierung des literarisch-musikalischen Beziehungsgefüges, die sich mit dem Vordringen der Romantik nachhaltig verstärkte. Stoffe von Autoren wie Walter Scott, James Macpherson („Ossian“) oder George Gordon Byron erlangten europaweite Ausstrahlung nicht nur auf Opernbühnen und für Liedvertonungen, sondern auch in den neu entstandenen, wortlosen Gattungen der Sinfonischen Dichtung oder – als deren verkürzte Form – der Konzertouvertüre. Auch der deutschsprachige Raum leistete hier einen nachhaltigen Beitrag, vor allem mit seinem Leitstern Goethe und dessen „Faust“ – obwohl sich der Dichter mit seinem stockkonservativen Musikgeschmack gegen diese romantische Eingemeindung seines Hauptwerkes wahrscheinlich gewehrt hätte. 

Wobei diese Internationalisierung nicht nur Sprachgrenzen, sondern auch Epochen überschritt: Das Mittelalter mit seiner artifiziell-höfischen und seiner volkstümlichen Dichtung wurde ebenso neu entdeckt wie die alte französische und spanische Poesie oder die (zwar auch zwischenzeitlich nie ganz aus dem Gedächtnis verschwundenen) Weltdichter Dante und Shakespeare. Sie alle hatten ihre stärksten musikalischen Auswirkungen zwar zunächst im Gesungenen, eroberten aber zum Beispiel bei Liszt auch die instrumentalen Gattungen oder wanderten, wie später bei Mahler, auf dem Umweg übers Vokale ins Sinfonische ein. Wobei die Vermittler sowohl bei den deutschen Shakespeare-Übersetzungen als auch bei der Neuausgrabung der für Mahler prägenden „Wunderhorn“-Lieder wiederum in die Nähe Jean Pauls und E. T. A. Hoffmanns führen: Sie alle – Tieck, die Schlegels, von Arnim, Brentano – gehörten in den Umkreis der Jenaer und Heidelberger Frühromantik. Heidelberg wurde in jenen Jahren kurz nach 1800 auch zu einem der prägenden Orte für die poetische Entwicklung Joseph von Eichendorffs, des musikalisch wohl nicht nur meist- (es soll rund 5.000 Vertonungen geben), sondern von Schumann bis Pfitzner und Richard Strauss auch höchstqualitativ „verarbeiteten“ deutschsprachigen Dichters. 

Während aber die wirklich begabten und dazu oft auch recht produktiven Lyriker deutscher Zunge (man könnte neben Eichendorff zum Beispiel an Uhland und Rückert denken) fast ausschließlich in direkter Vertonung in die Musikgeschichte eingingen, spielten auch essayistisch, übersetzerisch oder vorwiegend in Prosaformen umgehende Dichter wie die des oben genannten Jena-Heidelberger Kreises ihre wichtige Rolle im produktiven Miteinander der Künste: als Kunsttheoretiker wie als anregende Vermittler, ohne die zum Beispiel ein Werk wie Schumanns „Julius Cäsar“-Ouvertüre nach Shakespeares Drama vielleicht nicht zur Welt gekommen wäre. Auch die Entwicklung des jungen Brahms dürfte ohne die Begegnung mit der (für ihn ja mittlerweile schon zwei Generationen zurückliegenden) frühromantischen Bewegung anders verlaufen sein – und das nicht nur da, wo er in den „Magelone“-Romanzen direkt auf Tieck (und über diesen auf einen altfranzösischen Ritterroman) zurückgriff, sondern auch, wenn er in Werken wie seinen Klavierballaden und -sonaten oder den beiden Orchesterserenaden auch ohne ausdrückliche Bezugnahme deren Stimmungswerte ins Instrumentale übertrug. 

Sogar damalige Poeten, die nicht ganz die Ausstrahlung eines Byron, Heine oder Eichendorff erreichen, hatten manchmal auch außerhalb direkter 1:1-Vertonungen ein musikalisches Nachleben – zum Beispiel Chamisso, von dem Emil Nikolaus von Reznicek ein Gedicht zur Grundlage von Orchestervariationen machte und nach dessen „Schlemihl“-Märchen der früh verstorbene Peter Ronnefeld noch 1956 ein Ballett komponierte. Fast zum musikalischen Schlager aber wurde eine andere Märchendichtung: de la Motte-Fouqués „Undine“, die nicht nur unter anderem dank Hoffmann und Lortzing mehrfach auf die Opernbühne gelangte, sondern auch durch Carl Reinecke als Flötensonate, klavieristisch bei Ravel, Debussy oder Cécile Chaminade und bei Henze als Ballett wiedererscheint – eine längst nicht vollständige Aufzählung, die sich noch beträchtlich erweitert, wenn man sie um weitere weibliche Elementargeister mit einem (regelmäßig unglücklich ausgehenden) Zug zur Menschenwelt erweitert wie etwa bei Mendelssohns „Melusinen“-Ouvertüre.

In der frühen Romantik waren sich die Künste so nahe wie höchstens noch einmal knapp hundert Jahre später im „Fin de Siècle“ – zumal nicht nur Geschriebenes und Vertontes, sondern auch Gemaltes in ihre Wechselwirkungen einging. Komponisten waren oft auch Literaten, und viele Schriftsteller von Rang äußerten sich als Musikästhetiker oder -kritiker; selbst der ironisch-skeptische Heine konnte da manchmal – etwa bei Rossini – vor Begeisterung erglühen. Da war es dann nicht mehr als logisch, dass bald auch der Schritt zum poetisch-musikalischen Gesamtkunstwerk vollzogen wurde, wobei sich freilich die bisherige Partnerschaft in eine Art Dominanzverhältnis zugunsten der Töne verschob. Richard Wagner, der ihn schließlich ging, wurde 1813 in genau jenes Jahr hineingeboren, in dem Jean Paul eine ausführliche (und übrigens recht kritische) Vorrede zu Hoffmanns „Fantasiestücken in Callots Manier“, dem literarischen Durchbruch des Jüngeren, schrieb: die engste Berührung der beiden sonst eher distanzhaltenden Romantik-Protagonisten und eine Konstellation, bei der sich der Weltgeist glatt etwas Besonderes gedacht haben könnte …

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