
Kristallin, scharfkantig und gleichzeitig lockend entfaltet sich das Solo auf „Somewhere“. Unbegleitet füllt der schwebende Klang den Raum, bis das Quartett wieder einsetzt. So klar und akzentuiert ist das Spiel, dass es beinahe unwirklich scheint, was da geschieht. Zwei Jahre nach dem Tod des großen Jazzklarinettisten Rolf Kühn ist dieses magische Solo jetzt zu hören, auf dem gerade erschienenen letzten Album „Fearless“. Furchtlos, das war auch sein Lebensthema. Das Zugehen auf Neues, mit Klangtexturen experimentieren und sich niemals einrichten im Gewohnten. Furchtlos war er, trotz seiner jüdischen Kindheit während des Holocaust, als er nur heimlich unterrichtet werden durfte, während des Aufwachsens in Leipzig unter Bombenhagel, als Juden die Luftschutzkeller verboten waren und er die Deportationen seiner engsten Verwandten erlebte. Nachts dann das verbotene Hören der Feindsender, zwischen dem Rauschen einzelne Jazzklänge wie kostbare Schätze. Furchtlos war er, als er sich 1956 entschloss, in die USA auszuwandern, um noch tiefer in den Jazz einzutauchen. Furchtlos, als er 1966 mithilfe des Pianisten Friedrich Gulda die Flucht seines Bruders Joachim aus der DDR plante und durchführte. Furchtlos blieb er bis zuletzt.
Am 29. September 1929 wird Rolf Kühn in Köln geboren. Vater und Onkel sind Zirkusartisten, die „Kühnen Brüder“. Sie treten in den großen Varietés auf. Es ist ein Aufwachsen zwischen Künstlern, Akrobaten, Clowns und Musik. Die Familie zieht 1930 nach Leipzig. Rolf Kühn wächst im damaligen Arbeiterviertel Lindenau auf, wo seine Mutter einen Tabakladen führt. Es ist eine unbeschwerte Kindheit, in der er, der selbst Artist werden soll, Handstand, Flickflacks und Saltos trainiert und von seinem Vater auf eigenen Wunsch eine Klarinette erhält. Seine Kindheit endet, als in der Reichspogromnacht von 1938 der Laden seiner jüdischen Mutter zerstört wird, er ist neun Jahre alt. Der Vater, der sich weigert, seine Frau zu verlassen, erhält Auftrittsverbot und kommt in ein Arbeitslager.
Als „Halbjude“ wird Rolf Kühn heimlich unterrichtet von Hans Berninger, dem ersten Klarinettisten des Leipziger Gewandhausorchesters. Bomben auf Leipzig. Die Nachbarn, überzeugte Nazis, helfen der Mutter mit dem Kinderwagen mit dem kleinen Joachim, der 1944 geboren wird. Im Treppenhaus wird die Ideologie zur Nebensache. Als 1945 zuerst die Amerikaner kommen, taucht Rolf Kühn in den Jazz ein und spielt in den Armeeclubs, bis Leipzig Teil der sowjetischen Besatzungszone wird. Bei der Pianistin Jutta Hipp hört er eine Aufnahme von Benny Goodman, der sein erstes großes Vorbild wird. Da weiß er noch nicht, dass er nur wenige Jahre später in New York mit Benny Goodman spielen wird. Als Erster Klarinettist des Goodman Orchesters. Unvorstellbar für den 16-Jährigen, der bald das jüngste Mitglied von Kurt Henkels Rundfunktanzorchester Leipzig wird.
Über Westberlin und das RIAS-Tanzorchester geht es nach New York, er möchte auswandern, mit den Großen des Jazz spielen. Nach dem anfänglichen Swing zieht es ihn zum Bebop, dem schnellen, atemlosen und hochvirtuosen Spiel, das er auf die Klarinette überträgt. In New York lernt er den einflussreichen Produzenten John Hammond kennen, den Entdecker von Billie Holiday und Benny Goodman, der sich nicht um Rassentrennung kümmert und ihn auf Tour mit den Birdland Stars schickt. Nach zwei Auftaktkonzerten in der Carnegie Hall geht es im Greyhound-Bus Richtung Süden. An Bord: Lester Young, Sarah Vaughan, Count Basie, Chet Baker – und Rolf Kühn.
Doch die Rassismuserfahrungen der von ihm bewunderten Jazzidole, etwa von Billie Holiday, mit der er im selben Haus lebt, trüben seine Euphorie. 1961 kehrt er zurück nach Westberlin, zwei Monate vor der Errichtung der Mauer. Noch in der Nacht hatte er seinen Bruder Joachim zum Zug gebracht, zurück nach Leipzig zu den Eltern. Danach ist es nur für Konzertauftritte erlaubt, über die Grenze zu fahren. Als eine der wichtigsten Aufnahmen des deutschen und europäischen Free Jazz gilt sein Album „Solarius“ von 1964, gemeinsam mit Joachim Kühn. 1966 feiern die Berliner Jazztage die Vereinigung der Brüder, 1967 spielen sie auf dem Newport Jazzfestival und nehmen für das New Yorker Label Impulse! Records die vollständig frei improvisierte Aufnahme „Impressions of New York“ auf, als Requiem für den kurz vorher verstorbenen John Coltrane.
Es folgen außergewöhnliche Fusion- und Jazzrock-Konzeptalben für die Plattenfirma MPS, bei denen Rolf Kühn mit Stilen, Techniken und Instrumentierungen experimentiert und damit die Klarinettenliteratur entscheidend erweitert. Doch auch in der freien Form lässt er sich nie festschreiben und verankern, zu sehr liebt er den Jazz als Ganzes, und ein Verorten in Kategorien liegt ihm nicht. Er koppelt seine Klarinette an Wah-Wah-Pedale und erforscht gemeinsam mit dem Toningenieur Conny Plank, der auch für die Gruppe Kraftwerk produziert, elektronisch verstärkte Klänge. Mit Gunther Schuller tritt er in dessen Jazzoper „The Visitation“ auf und tourt mit den „German All Stars“ durch Südamerika. Daneben schreibt er Filmmusiken und leitet Produktionen am Schauspielhaus Hamburg und dem Berliner Theater des Westens.