Es gibt Momente, in denen flammen ihre Augen auf. Ein Indiz für die Energie, die in ihr lodert. Und für die Klarheit, die in ihren Aussagen steckt. Lange nachdenken muss sie für ihre Antworten nicht. Lucienne Renaudin Vary redet nicht um den heißen Brei, sondern bringt Dinge schnell auf den Punkt. Vielleicht, so könnte man fragen, stellt diese fixe und zugleich entschlossene Art auch eine ihrer Erfolgsformeln dar. Schließlich hat sich die Französin bereits mit Mitte zwanzig in die internationale Trompeter-Elite gespielt.
Begonnen hat sie anfangs mit dem Klavierspiel. „Doch ich war nicht gut und habe sehr schnell damit aufgehört, als ich die Trompete kennenlernte.“ Lucienne ist acht Jahre alt, als die Trompete in ihr Leben tritt – wie der berühmte Blitz aus heiterem Himmel. „Zwei Lehrer sind in meine Klasse gekommen und haben das Instrument vorgestellt.“ Diese Zufallsbegegnung wird zur Liebe ihres Lebens. „Eigentlich vom ersten Ton an und ohne Kompromisse“, wie sie sagt.
Geboren im westlichen Département Loire-Atlantique, studiert Vary zunächst in Le Mans, dann in Paris, wo auch ihr älterer Bruder Kontrabass studiert. Mit zwanzig Jahren ist Vary 2019 die erste weibliche Trompeterin, die mit dem Schweizer Arthur-Waser-Preis zur Förderung hochbegabter junger Solisten ausgezeichnet wird. „Als ich jung war, habe ich Wettbewerbe sehr gemocht, weil ich viel gelernt habe. Im Laufe der Zeit wurden mir dann aber die Konzerte viel wichtiger. Auch auf der Bühne lernt man immer dazu. Bei Wettbewerben wird man von wenigen Experten beurteilt, doch das Spiel für und vor Publikum liebe ich ungleich mehr.“
Noch vor dem Arthur-Waser-Preis hat Lucienne Renaudin Vary bei ihrem Labelpartner ein erstes Album veröffentlich, „The Voice of Trumpet“, ein Querschnitt durch die Musikwelt von Vivaldi über Tschaikowsky bis zu Gershwin und Arlen. „Das Repertoire ist geradezu unerschöpflich“, erklärt Vary, „auch dank der vielen Bearbeitungen. Natürlich gibt es für die Trompete weniger Originalwerke als für Pianisten oder Geiger, und so war ich von Anfang an interessiert daran, in andere stilistische Bereiche vorzustoßen.“ Dazu zählen gelegentlich auch Arien aus dem Belcanto. „Ich möchte mein Spiel mit keinem anderen Instrument vergleichen, sondern lieber mit der menschlichen Stimme.“ Der Atem, die Bögen und Verläufe einer Melodie „und auch der Klang an sich“ – das sind Kriterien, mit denen Vary ihren Vergleich mit dem Gesang untermauert.
Allerdings braucht es bei Sängern in der Regel einige Zeit, bis ihre Stimme gereift ist. Wie sieht das bei einer Trompeterin aus? „Ich habe meine Vorstellung von Klang nie wirklich gesucht. Vieles entwickelt sich durch regelmäßiges Spielen und auch Trainieren.“ Im französischen Fernsehen hat Vary einmal erklärt, wie sehr ihre Arbeit als Bläserin, etwa beim Zusammenspiel der Muskeln, mit der eines Sportlers vergleichbar ist.
Auf ihrem neuen Album „Jardins d’Hiver“ hat Vary erneut eine Art Potpourri zusammengestellt, diesmal rund um die winterliche Jahreszeit: Musik von de Falla, Rossini, Vivaldi, Dvořák, Rodgers und anderen. „Meine Absicht war, eine Stimmung von Wärme, Einfachheit und Authentizität zu erschaffen – ein sanftes und wohliges Glühen im tiefen Winter“, so wird Vary in der Ankündigung zitiert. Im Gespräch gesteht sie, wie sehr sie Weihnachtsmusik und Lieder liebt. Und: „Ich habe bei meinen bisherigen Alben viel Wert darauf gelegt, verschiedene Stile miteinander zu kombinieren. So auch hier.“
Ob Ausflüge in den Jazz oder im engeren Sinne klassisch – für Vary ist Trompetenspiel nicht gleich Trompetenspiel, sondern umfassend. „Natürlich gibt es verschiedene Schulen und Richtungen“, sagt sie. Insofern nimmt ihr Instrument in Frankreich auch eine andere Rolle ein als etwa in Deutschland. Während hierzulande die Trompete vor allem in der Vorweihnachtszeit ihr alljährliches Hoch erlebt, „ist das in Frankreich überhaupt nicht so. Ich merke das an meinem Terminkalender. Die Terminanfragen aus Deutschland häufen sich immer für die Wochen vor dem Jahresende, als würden Trompete und Weihnachten automatisch zusammengehören.“ Vielleicht hängen diese regionalen Unterschiede auch mit kulturellen Vorlieben zusammen: „In England beispielsweise gibt es sehr viele Brass Bands, in Österreich vermehrt Blaskapellen – lauter unterschiedliche Schwerpunkte.“
Bei der Frage, ob sie den Namen Patricia Kopatchinskaja kenne, reagiert sie sofort. Sie bejaht nicht nur, sondern ahnt, wohin die Frage zielt. Die Geigerin und Lucienne Renaudin Vary stehen nämlich beide mit Vorliebe barfuß auf einer Bühne. „Mein erstes Album bedeutete für mich einen Riesenschritt. Dabei habe ich mich selbst etwas unter Druck gesetzt. Bei den Aufnahmesitzungen habe ich dann – ich weiß nicht mehr genau, warum – die Schuhe ausgezogen. Das hat mich in gewisser Weise befreit. Ich fühlte mich mehr bei mir. Danach habe ich dann auch im Konzert das Barfußspielen ausprobiert.“ Sie fühle sich dadurch gelöster und geerdeter zugleich. „Im Zusammenspiel mit einem Orchester kann ich außerdem die Vibrationen besser spüren.“
Gerade in den französischen Medien wird sie gelegentlich als „Princesse de la trompette“ bezeichnet. Ob sie das stört? „Na ja, das ist eine Marketing-Formulierung, es macht mir nichts aus, sagen wir es so.“ Natürlich möchte Lucienne Renaudin Vary vor allem als Künstlerin wahrgenommen werden. „Oder auch als Botschafterin meines Instruments, der Trompete.“