
Zu den wichtigen Bruckner-Dirigenten unserer Zeit gehört ohne Zweifel ein Mann, der fernab des Jet-Set-Konzertlebens seiner Bruckner-Leidenschaft frönt. 2006 gab Gerd Schaller seinen Posten als Generalmusikdirektor in Magdeburg auf, um nur noch frei zu arbeiten. Seit 2011 führt und nimmt er mit der Philharmonie Festiva, gebildet aus Musikern der großen Orchester Süddeutschlands, im oberfränkischen Ebrach alle Symphonien Anton Bruckners in allen wichtigen Fassungen auf. Über 20 CDs sind inzwischen bei Profil Edition Günter Hänssler erschienen.
Herr Schaller, ist es bei Bruckner wie bei Beethoven: Ab der dritten Symphonie kommen die Meisterwerke, dann wird’s erst richtig schön?
Finde ich nicht. Die Zweite ist ein vollwertiger Bruckner. Und eigentlich müsste sie beliebt sein, denn sie ist noch so nah bei Beethoven und Schubert. Jeder Komponist wird ja bewusst oder unbewusst von anderen beeinflusst, und diese beiden waren, denke ich, Bruckners Vorbilder. Vielleicht ist sie deshalb nicht so bekannt, weil sie lyrisch beginnt und noch nicht das Klischee des Weihevollen bedient, auf das Bruckner leider oft reduziert wird. Und sicherlich auch, weil das Hauptthema nicht so einprägsam ist – was man schon damals bemängelt hat. Aber die Farbigkeit, die starken Kontraste – das ist das, was mich besonders interessiert an der Zweiten. Die Erste ist ungestümer, in der Zweiten entwickelt Bruckner schon mehr seinen Personalstil.
Da hört man auch nicht mehr so viel Wagner.
Das hat man ihm aber auch in der Dritten vorgeworfen: die Wagner-Zitate, die gar keine sind. Ich möchte fast sagen, Wagner lag damals in der Luft. Bei Bruckner findet man Anklänge, aber nie ein Zitat. Wenn er zitiert, dann sich selbst, das gibt es. Aber andere hat er nie zitiert.
Kann man dann sagen, dass die Zweite seine erste „vollgültige“, individuell ausgereifte Symphonie ist?
Schon die Studiensymphonie ist „vollgültig“. Jede seiner Symphonien hat eine starke Eigencharakteristik. Ich sehe das auch nicht als Entwicklung von schwächeren zu besseren Werken. Oder vom Anfänger zum Meister. Man merkt schon bei der Studiensymphonie: Die stammt von einem ganz besonderen Komponisten – der sich natürlich noch sucht und finden muss. In der Zweiten hat er sich dann gefunden. Was hier noch nicht so ausgeprägt ist, ist dieses Mystische, das man mit Bruckner verbindet. Dabei ist auch das Adagio der Zweiten wunderschön! Bruckner war ein Meister des langsamen Satzes, das haben schon die Zeitgenossen an ihm gerühmt. Erst mit der Dritten ist der typische Bruckner-Klang dann voll da. Aber ich möchte die Frühwerke nicht missen, auch nicht die geistlichen Werke. Der Psalm 146 zum Beispiel ist ein herrliches Werk, aber nahezu vergessen – weil eben dieses typische Weihevolle noch nicht da ist.
Böse Stimmen sagen, Bruckner habe neun- oder elfmal dieselbe Symphonie geschrieben. Sie sagen: Er hat über 20 Symphonien geschrieben, oder?
Naja, das sage ich nicht. Das symphonische Grundmaterial ist in der frühen und der späten Fassung der zweiten Symphonie dasselbe. Es ist, wie wenn man einem Improvisator ein Thema gibt, das er dann ausarbeitet. Das Grundmaterial, das Erkennungsmaterial, wenn man so will, rührt er nicht an.
Dennoch: Von der Dritten und der Vierten gibt es vier bis fünf Fassungen, von der Zweiten und der Achten drei. Ist es wirklich sinnvoll, von „der Zweiten“ oder „der Dritten“ zu sprechen?
Zunächst einmal: Für mich darf man nur dann von Fassungen sprechen, wenn wesentliche, hörbare Unterschiede vorhanden sind, in der Form, der Länge, dem Aufbau, der Ausformulierung der Themen, Durchführung usw. Bei der Zweiten ist es nicht so entscheidend, ob ich die erste oder die zweite Fassung spiele – weil da das Grundmaterial so stark und so fest ist. Anders ist es bei der Vierten, wo die Spätfassung sich gravierend von der Frühfassung unterscheidet. Das hat man oft bei Bruckner, dass die erste Fassung, der erste Wurf ganz anders ist als das, was an Fassungen folgt. Insofern stimmt es: Man kann nicht von „der Vierten“ sprechen. Das Scherzo ist ein komplett anderes Stück.
Für Bruckner selbst war immer die letzte Version die „gültige“. Insofern setzen Sie sich doch über Bruckners Willen hinweg, wenn Sie die früheren Fassungen spielen.
Das stimmt, aber dieses Dilemma hat er selbst verschuldet. Er hätte die früheren Fassungen ja vernichten können. Stattdessen hat er sie fein säuberlich aufgehoben. Er musste damit rechnen, dass man auch diese Noten wieder spielen würde. Deshalb hab ich da keinerlei Skrupel.
Wenn Sie in der Zeitung lesen würden, im österreichischen Nationalarchiv oder wo auch immer sei ein Klavierkonzert von Bruckner gefunden worden – würden Sie das glauben?
Nein! Das würde nicht passen. Er hat ja außer geistlichen Werken und Symphonien so gut wie nichts geschrieben. Gut, das Streichquintett, aber das ist sehr symphonisch gedacht. Bruckner hat sogar für sein eigenes Instrument, die Orgel, fast nichts hinterlassen. Was wir da von ihm haben, sind Gelegenheitswerke oder Übungsstücke. Auch Variationszyklen gibt es nicht von ihm, das entspricht nicht seiner geistigen Haltung.
Muss man also sagen: Bruckner war ein genialer Nischenkomponist, der eine ganz spezifische kompositorische Idee verfolgt und immer weiter vervollkommnet hat?
Was die Gattung betrifft, war er sehr begrenzt, das stimmt. Das war seine Ausdrucksform. Er hatte sich ein Schema erarbeitet, das er dann immer neu gefüllt hat, mit wenigen Abweichungen. Das war immer die Sonatenhauptsatzform, die übrigens schon damals als altmodisch galt. Das hat ihm gereicht.
Wie geht es Ihnen damit? Sie verbringen ja sehr viel Zeit mit Bruckner.
Naja, ich hab auch sehr viel anderes dirigiert. Aber irgendwann kam der Punkt, dass ich mich intensiv mit Bruckner beschäftigen wollte. Und ich bin ehrlich gesagt über mich selbst erstaunt, dass ich mich immer noch und mit immer neuer Begeisterung den verschiedenen Fassungen widme. Als nächstes werde ich die vierte Symphonie in der Spätfassung aufnehmen, dann kommt die Dritte in einer mittleren Fassung, dann noch die Achte in der Spätfassung und die Neunte mit meinem Finalsatz – den ich zum dritten Mal revidiert habe. Vielleicht färbt Bruckner da schon ab. Ich genieße es, dass man inzwischen einen ungezwungeneren Umgang pflegen kann mit diesen Komponisten, die man früher doch sehr auf ein Podest gehoben hat, gerade Bruckner mit seiner sakralen Sphäre. Das ist Gott sei Dank nicht mehr der Fall. Bruckner war ein Mensch wie du und ich, der in seinen Symphonien seine Gefühle und seine Hoffnungen zum Ausdruck bringt – das ist das schöne bei ihm. Wahrscheinlich inspiriert mich das auch so stark.