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Porträt
„Ich möchte mich nicht labeln lassen“
Der Schweizer Dirigent Christian Erny startet durch
Von
Elisabeth Richter
Kaupo Kikkas

Stars fallen nicht vom Himmel, auch wenn Medien manchmal den Eindruck erwecken. In der Regel stecken hinter Künstlerkarrieren eine Menge Arbeit, viel Talent und auch ein bisschen Glück. Christian Erny ist ein aufgehender Stern am Musikerhimmel, in der Schweiz hauptsächlich, aber auch international. Was der junge Dirigent aus Winterthur mit seinen 36 Jahren Schritt für Schritt auf die Beine gestellt hat, lässt staunen.

Dirigent? Ja, das ist sicher das wichtigste Betätigungsfeld von Christian Erny geworden. Er leitet seinen eigenen Chor, The Zurich Chamber Singers, und tritt als Gastdirigent von Orchestern auf. Dennoch beschreibt es nicht annähernd, was den Musiker Christian Erny ausmacht. Er ist auch Pianist und Hochschullehrer, er hat Musiktheorie studiert und konzipiert Konzerte. „Ich war lange Multi-Instrumentalist in meiner Jugend, mit zwölf habe ich meine erste Rockband gegründet, mit 13 bin ich der Chorschule beigetreten.“ Hier kam das Glück oder der Zufall ins Spiel. Da gab es nämlich einen Musiklehrer am Gymnasium. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie er mich irgendwann zur Seite genommen und gesagt oder mir fast befohlen hat: Du kommst ab nächste Woche in den Chor.“ Damit waren die Weichen gestellt in Christian Ernys Musikerleben. Christoph Bachmann hieß der Lehrer und renommierte Dirigent von Kinder-, Jugend- und Erwachsenenchören. Christian Erny fing Feuer und bewies Talent. „Ich wurde dann am Konservatorium Bachmanns Assistent, als ich das Abitur hatte. Das sind Begegnungen, die einen fürs Leben prägen.“

Das Talent hat Christian Erny auch ein bisschen in die Wiege gelegt bekommen. Der Vater war begeisterter Amateurpianist, aber auch Schlagzeuger in einer Rockband, die Mutter Geigerin und Chorsängerin. „Bei mir war Musik von Anfang an präsent durch die Eltern, und zwar in einer sehr großen Vielfalt. Ich habe in meiner Jugend ein Doppelleben geführt, war einerseits als klassischer Pianist und Chorsänger tätig, habe andererseits aber immer gleichzeitig in Rockbands gespielt.“

Schon als Kind hatte Erny am Konservatorium in Winterthur Klavierunterricht, später studierte er dann Klavier, Dirigieren und Musiktheorie in Zürich, Bloomington und Luzern. Und wieder gab es einen wichtigen Mentor: den Pianisten Hans-Jürg Strub. „Er war ein extrem prägender Lehrer, ich habe sechs Jahre bei ihm studiert. Wie ich grundsätzlich über Musik denke, wie ich Musik empfinde, das habe ich von ihm gelernt.“ Bis heute arbeiten sie zusammen, im Januar ist beim Label Ars eine CD erschienen, auf der Strub Mozarts Klavierkonzert c-Moll KV 491 spielt. Christian Erny dirigiert die Württembergische Philharmonie Reutlingen, auch bei Mozarts Haffner-Sinfonie. Ein frisches, klares Musizieren, ausgefeilt in den Details.

Erste dirigentische Erfahrungen sammelte Christian Erny während des Studiums bei Kirchenchören. „Da habe ich viel gelernt. Man muss die Arbeit mit Laienchören methodisch klug aufbauen, um das gewünschte Resultat zu erzielen.“ Während seiner zwei Jahre in den USA reifte dann der Wunsch, mit einem eigenen professionellen Chor eigene Klangwelten zu erschaffen. 2015 war es so weit: The Zurich Chamber Singers erblickten das Licht der Chorwelt, gegründet von Christian Erny und seinem Kollegen Emanuel Signer. „Ich habe zehn befreundete Sängerinnen und Sänger gefragt, die ich noch vom Studium und der Chorschule kannte, ob sie ein Projekt mit mir machen möchten. Das hat gut funktioniert. Dann kam ein zweites Projekt. Und so hat es sich schnell intensiviert und professionalisiert.“ Mittlerweile kümmert sich ein sechsköpfiges Team um die Organisation: Signer und Erny sind für die künstlerische Planung zuständig, gleich drei Personen widmen sich dem Fundraising.

In knapp zehn Jahren ist ein hochprofessionelles Ensemble entstanden mit Auftritten bis in die Elbphilharmonie in Hamburg und mehreren CDs auf dem Markt: „O nata lux“ zum Beispiel präsentiert Weihnachtsliteratur von der Renaissance bis heute, „Bruckner Spektrum“ kombiniert Bruckner mit Palestrina und zeitgenössischen Werken. Und auf dem neuesten Album präsentieren sie „The Light of Paradise“, eine in ihrem Auftrag entstandene Choroper des walisischen Komponisten Paul Mealor auf Texte der mittelalterlichen Mystikerin Margery Kempe in der ungewöhnlichen Kombination von Chor und Saxofonquartett.

„Ich sehe mich nicht als Spezialisten für ein bestimmtes Repertoire. Mir ist eine ganzheitliche Herangehensweise wichtig. Ich möchte als Musiker möglichst viele Jahrhunderte präsentieren, mit einem starken Bewusstsein für zeitgenössische Musik. Ich habe sehr viele Uraufführungen realisiert und auch in Auftrag gegeben und dabei eng mit Komponisten zusammengearbeitet. Der Bezug zur Gegenwart ist für mich nicht ein ‚nice to have‘, sondern es ist unsere Pflicht, sich mit der aktuellen Musik auseinanderzusetzen.“

Und wie gelingt es bei dieser Repertoirevielfalt, stilistisch jedem Werk genau auf die Spur zu kommen? „Ich bin überzeugt, dass das Allermeiste in den Noten steht. Jeder Komponist hat seine eigene Sprache und Rhetorik, die man durch kompetentes und genaues Lesen der Partitur herausarbeiten muss. Außerdem sind musikhistorische Recherche und Kenntnisse unabdingbar.“

Seinen ganzheitlichen Ansatz verfolgt Christian Erny in all seinen Tätigkeitsbereichen. Unterrichtet er Klavier an der Hochschule in Basel, werden hier nicht nur die Tasten mit rein klassischer Klavierliteratur „bedient“, Christian Erny richtet den Fokus auch auf Popmusik, Harmonielehre oder Partiturspiel. Als Dirigent hält er nichts von der Trennung von Chor- und Orchesterdirigieren. „Es gibt tatsächlich in der Wahrnehmung einen gewissen Graben zwischen Orchester- und Chordirigenten. Mir ist es sehr wichtig, dass ich beide Felder gleichwertig abdecken kann. Ich möchte ein möglichst kompletter Musiker sein, das wäre mein Ideal. Ob man das jemals sein kann, ist dann die Frage. Aber ich möchte mich nicht labeln lassen. Ich bin schlicht Dirigent.“

Mit The Zurich Chamber Singers hat sich Christian Erny ein überregionales Standing erarbeitet. Als Orchesterdirigent entwickelt sich seine Karriere stetig. „Ich bin jemand, der sich immer sehr genau überlegt, ob jetzt der richtige Moment für die nächsten Schritte ist. Bin ich wirklich bereit oder sollte ich noch ein, zwei Jahre warten? Als Dirigent habe ich eine große Verantwortung.“ Entscheidend ist für Christian Erny, dass er bei all seinen Aktivitäten nicht in Routine verfällt, dass er sich Freude und Neugier bewahrt.

„In der heutigen Zeit ist es wichtiger denn je, dass man seine eigenen Projekte kreiert, die auf Eigeninitiative beruhen, dass man sich so auch ein bisschen seine eigene Welt erschafft. Seien wir ehrlich: Die Zeiten, als große Labels oder Agenturen Karrieren ‚gemacht‘ haben, sind definitiv vorbei.“

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