Es klingt wie eine Anleitung für Popmusik-Komponisten: Melodien sollten von „höchster Simplizität und Fasslichkeit“ sein, damit jedermann sie „leicht nachsingen und auswendig behalten könne“. Durch sangbare Intervalle, nicht zu großen Stimmumfang und leichteste Modulationen erhalte ein Lied „den Schein des Ungesuchten, des Kunstlosen, des Bekannten, wodurch es sich dem Ohr so schnell und unaufhörlich zurückkehrend einprägt“. Kurz gesagt: „Im Schein des Bekannten liegt das ganze Geheimnis.“ Nur dürfe man diesen Schein nicht mit dem Bekannten selbst verwechseln, denn „dieses erweckt in allen Künsten Überdruss“.
Die Worte stammen aus dem „Vorbericht“ zu den „Liedern im Volkston“, die Johann Abraham Peter Schulz ab 1782 in Berlin veröffentlichte. Er wusste seine Theorie auch in die Praxis umzuwenden. Zahlreiche seiner vielen Lieder wurden populär, zwei immerhin werden noch heute oft gesungen. Das eine ist der Weihnachts-Hit „Ihr Kinderlein kommet“, dessen Melodie Schulz allerdings auf den Text „Wie reizend, wie wonnig“ schrieb – erst später wurde sie dem Gedicht von Christoph Schmid aus Dinkelsbühl/Augsburg unterlegt. Schulz’ bekanntestes Lied dagegen kann man das ganze Jahr hindurch singen – der kunstsinnige Helmut Schmidt hielt es gar für das schönste deutsche „Volkslied“. Doch dazu später.
Zwei solche Hits sind kein zu verachtendes Lebenswerk für einen Mann, der zwar Opern, Oratorien und kammermusikalische Werke schrieb und ganz ordentlich Karriere machte, der aber doch nach etwas anderem strebte: „Ich bin bis jetzt noch nicht weiter als bis zum Kapellmeister seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Heinrich von Preußen gekommen“, schreibt der 33-Jährige 1780, „so sehr ich auch wünschte, einst als Liedermann des Volks genennet zu werden.“
Die Musikwissenschaftler immerhin würdigen Schulz bis heute als wichtigsten Mann der „zweiten Berliner Liederschule“, als theoretischen Kopf (und fähigen Komponisten) jener Sturm-und-Drang-Bewegung um 1780, die sich nicht mehr mit kunstvollem Handwerk nach klassischen Regeln zufriedengeben wollte. Nicht Eindruck machen sollten ihre Werke, sondern „reiner Ausdruck der Empfindung“ sein. Weg von der Künstlichkeit, zurück zum Authentischen, Natürlichen – und zum naturverwurzelten „Volk“.
Doch ist auch diese Schlichtheit kunstvoll erarbeitet, immerhin war Schulz über Johann Kirnberger Enkelschüler Johann Sebastian Bachs und als solcher mit den Finessen des Kontrapunkts bestens vertraut. Und immer wieder klagte er über fehlende Texte zum Vertonen. Schulz und seine Mitstreiter, darunter Johann Friedrich Reichardt und Carl Friedrich Zelter, erwarteten schon die Qualität eines Klopstock oder Voß, Goethe oder Claudius. Und dadurch unterschieden sie sich von ihren Berliner Vorgängern, die um 1750 als erste den „alten Zopf“ des Generalbassspiels abgeschnitten hatten – nun erst begann man, die Begleitung, die linke Hand auf dem Klavier, auszukomponieren.
Dass man nicht simpel sein muss, um „schlichte“ Kunst zu schaffen, zeigen die vielen Briefe, die Schulz als guten Beobachter und versierten Erzähler ausweisen. Und dass man aus der Beschränkung im Werk nicht auf das Leben schließen darf, zeigt seine Biografie, die zu spannend ist, um sie nicht in knappen Zügen zu erzählen. Sie zeigt Schulz als Mann von menschlicher Größe, gebeutelt vom Schicksal, aber nicht gefällt.Geboren am 31. März 1747 in Lüneburg, soll er nach dem Willen seines Vaters, eines „Hausbäckers“, Prediger werden. Doch ihn interessiert nur die Musik. Er besucht die Lateinschule und geht mit 17 Jahren nach Berlin, ans Gymnasium zum Grauen Kloster. Außerdem nimmt er Kompositionsunterricht beim Bach-Schüler Kirnberger. Ab 1768 begleitet er als Klavierlehrer eine litauische Fürstin quer durch Europa, dient einem weiteren litauischen Fürsten als Kapellmeister und arbeitet ab 1773 als Klavier- und Gesangslehrer wieder in Berlin. 1776 wird er Directeur de Musique am Königlichen Französischen Theater, dem Vorgänger des heutigen Konzerthauses am Gendarmenmarkt, und nach dessen Schließung Leiter des Privattheaters der Kronprinzessin Friederike Luise. 1780 schließlich wechselt er als Hofkapellmeister des Prinzen Heinrich nach Rheinsberg. „Wär ich nicht am Hofe und in der Notwendigkeit, mit Hofleuten hofmäßig umzugehen, so würde ich von mir sagen können, dass ich hier glücklich wäre“, schreibt er 1784. „Meine Wohnung ist wegen der herrlichen Lage am Garten des Prinzen und wegen der reizenden Aussicht gewiss die schönste in ganz Rheinsberg. Meine hiesigen Beschäftigungen fangen im März an und dauern bis Ende November und beziehen sich alle auf die französische Theatermusik. Die übrige Zeit des Jahres hingegen bin ich ganz und gar mein eigner Herr.“
Besonders stolz ist Schulz auf seine Chöre zur Oper „Athalie“, die er Heinrichs Schwester, Prinzessin Amalia, widmen möchte. Die aber hält wenig davon: „Ich stelle mir vor, Herr Schulz, dass er sich versehen und statt seiner Arbeit mir das musikalische Notengekleckere seines Kindes geschickt hat … Das soll Musik sein?“ Besonders schäbig daran: Schulz hat sowohl seinen Sohn, als auch seine Tochter im Alter von wenigen Monaten verloren, nur zehn Tage nach dem Sohn starb auch noch seine Frau an Schwindsucht. Schulz heiratet seine Schwägerin („Ähnlicheres an Leib und an der Seele lässt sich nicht finden als diese zwei Schwestern – ich bin wieder glücklich“) und verlässt Rheinsberg, in dem er sich nur noch von „lauter windigen Hofleuten“ umgeben sieht.
Der dänischen Kronprinzessin nämlich hat „Athalie“ so gut gefallen, dass sie Schulz nach Kopenhagen einlädt – wo er acht produktive Jahre verlebt: Er ist Kapellmeister (Chefdirigent) des Königlichen Theaters, komponiert viel, initiiert eine Kapellwitwenkasse und wirkt entscheidend darauf hin, Musik zum Unterrichtsfach an den dänischen Schulen zu machen. 1794 brennt das Kopenhagener Schloss, Schulz rettet wertvolle Notenbestände, doch lassen Rauch und
Kälte seine latente Schwindsucht ausbrechen. Er muss um seinen Abschied bitten, der ihm mit einer fürstlichen Pension gewährt wird.
Und nun beginnt eine wahre Odyssee: Schulz reist mit Frau und Tochter – sein zweiter Sohn ist ebenfalls früh gestorben – gen Süden. In Hamburg schifft er sich nach Portugal ein, doch ein Sturm verschlägt das Schiff – man glaubt es kaum – nach Norwegen, wo er monatelang festsitzt. Zurück in Deutschland, erkrankt seine Frau. Man reist von Arzt zu Arzt, nach Lüneburg, nach Rheinsberg, wo er zum zweiten Mal Witwer wird, nach Berlin, nach Stettin – und schließlich nach Schwedt an der Oder. Dort stirbt Schulz, der zwei Ehefrauen und drei seiner vier Kinder verloren hat, am 10. Juni 1800 mit erst 53 Jahren. Sein Grab ist nicht erhalten.
In Schwedt erinnert heute die „Musik- und Kunstschule Johann Abraham Peter Schulz“ an den Komponisten, der unsterblich geworden ist mit einem Weihnachtslied und einem in Kopenhagen komponierten „Volkslied“, das seine Popularität gleichermaßen dem Text von Matthias Claudius und der bestrickenden Melodie von J.A.P. Schulz verdankt: „Der Mond ist aufgegangen“.