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Klassik und Jazz
Im Dritten Strom
Zum hundertsten Geburtstag von Gunther Schuller, dem Erfinder des Third Stream
Von
Berthold Klostermann
New England Conservatory Archives

Gunther Schuller dirigiert das NEC Jazz Orchestra, 1990

„Noch immer gibt es mehr Leute, die Jazz und klassische Musik getrennt halten, als Leute, die beide vereinen wollen“, bilanzierte Gunther Schuller Anfang der Achtzigerjahre. Er selbst gehörte zu Letzteren, war einer ihrer prononciertesten Vordenker und Akteure. Seit den Fünfzigerjahren arbeitete er schon daran, Elemente von Jazz und sogenannter E-Musik, wie Improvisation/Komposition, Swing-Feeling/Formgebung, zu einer eigenen Strömung zu verbinden, für die er das Wort „Third Stream“ prägte. Der einzige Musiker überhaupt, der sowohl bei Arturo Toscanini wie bei Miles Davis gespielt hatte (als Hornist), machte sich stark für das Terrain zwischen den Stühlen: „Es gibt Hunderte von Zwischenstufen, die nicht eindeutig Jazz oder klassische Musik sind. Mit dem Third Stream will ich frei musizieren, unabhängig von abgegrenzten Kategorien und Stilen, in die man Musiker so gerne einsortiert.“ Die frühen Versuche eines Charles Ives, Darius Milhaud, Paul Hindemith, Igor Strawinski oder Aaron Copland, Elemente von Ragtime und Jazz zu verarbeiten, fand er oberflächlich, George Gershwin und Paul Whiteman „versuchten, aus dem Jazz eine feine Dame zu machen“. Improvisation habe in all dem keine Rolle gespielt. Gnädiger urteilte er über Benny Goodman, wirklich anerkennen konnte er Duke Ellington als „Ersten, der mit größeren Formen experimentierte, aber nie das Improvisatorische aus dem Blick verlor“.

Der Sohn deutscher Einwanderer wurde am 22. November 1925 in New York geboren. Sein Großvater war Kapellmeister gewesen, der Vater hatte Geige noch in Deutschland unter Furtwängler gespielt, ehe er 1923 Mitglied der New Yorker Philharmoniker wurde. „Ich habe schon im Bauch meiner Mutter Musik gehört. Dass ich mal Musiker werden würde, war so gut wie vorbestimmt. Auch meine beiden Söhne sind Musiker, in sechster Generation. Wir bilden schon eine kleine Dynastie.“ Zwecks gründlicher musikalischer Ausbildung schickten die Eltern den Jungen nach Deutschland in eine Privatschule – bis der Einfluss der Hitlerjugend zu stark wurde. Zurück in New York, studierte er ab 1938 Querflöte und Horn, rundete seine Ausbildung an der Manhattan School of Music ab, blieb aber in Sachen Komposition Autodidakt. „Ich bin Schulabbrecher, hab keinen Abschluss, kein Diplom, kein gar nichts. Mit 16 ging ich von der Highschool ab, denn praktisch war ich schon Profi. Mein Debüt als Orchestermusiker hatte ich da bereits bei Toscanini und den New Yorker Philharmonikern gegeben.“ Mit 17 wurde er Solohornist beim Cincinnati Symphony Orchestra, mit 19 an der Metropolitan Opera, wo er bis 1959 blieb.

Seit der Rückkehr aus Deutschland hörte er gern Jazz im Radio – und eines Nachts, „so um 1941“, war es Duke Ellington, der ihn geradezu elektrisierte. „Ich hatte seine Musik schon gehört, aber diesmal haute sie mich um. Diese Schönheit im Klang, die Perfektion im Spiel, diese miniaturartigen Kompositionen von drei Minuten Länge – die Suiten schrieb er ja erst später. Mein Gott, war das tolle Musik! Warum redeten die Leute nur so schlecht über Jazz? Auch mein Vater sagte, das sei vulgäre, billige Musik. Dabei kann sie, von echten Könnern gespielt, so großartig sein wie Beethovens Musik. Als ich das meinem Vater sagte, bekam der fast einen Herzschlag. Mit der Zeit aber kam er drüber weg, als er sah, dass ich im Jazz Erfolg hatte.“

Denn Schuller, der klassische Musiker mit dem Faible für Jazz, suchte Kontakt zu John Lewis, dem Jazzpianisten mit einem Faible für klassische Musik, der später das Modern Jazz Quartet (MJQ) gründete. „Er öffnete mir die Tür zur Szene. Anders als in der Klassik, wo man Vorspiele absolviert, musste hier nur jemand versichern: ,Der Typ ist okay‘, und schon gehörte man dazu.“ So war Schuller beteiligt an Miles Davis’ wegweisenden Nonett-Aufnahmen 1950. John Lewis war – neben Gerry Mulligan, Gil Evans und John Carisi – einer der ­Arrangeure und saß am Klavier, Schuller spielte bei „Moon Dreams“, „Deception“, „Rocker“ und „Darn That Dream“ mit. Ein Solo hatte er nicht, aber zusammen mit einer Tuba lieferte sein Horn die sanfte Grundierung, die diese Aufnahmen klanglich von allem abhob, was man vom Bebop her kannte. Zusammen mit den Aufnahmen zweier Sessions von 1949 – ohne Schuller – erschienen die Stücke auf Miles Davis’ Meilenstein-LP „Birth of the Cool“. 1958 war Schuller erneut als Instrumentalist an einem Davis-Album beteiligt: „Porgy and Bess“, mit den Arrangements von Gil Evans, doch da hatte er seine eigentliche Bestimmung schon jenseits des Horns gefunden. Er komponierte, arrangierte, dirigierte und hatte bei einer Vorlesung an der Brandeis University seine musikalischen Ambitionen auf den Begriff gebracht: „Third Stream“. Der prangte auch auf einem von Schuller dirigierten, bläsergeprägten Orchesteralbum, das Kompositionen von ihm sowie von John Lewis, J. J. Johnson, George Russell, Charles Mingus und Jimmy Giuffre enthielt: „The Birth of the Third Stream“ (1957).

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