
Ino Savini dirigiert die Neunte im Rivoli Theatre in Porto,1955
An ihr hat man sich verhoben und vergnügt, man hat sie verordnet und verehrt, sie ist verformt worden, und doch verführt sie bis heute. Als Ludwig van Beethovens neunte Sinfonie am 7. Mai vor zweihundert Jahren uraufgeführt wurde, herrschten Unverständnis und Lähmung: Was, bitte, ist das? Eine Sinfonie, so lang, so verschachtelt, so ungewöhnlich besetzt mit Gesangsolisten und Chor? Mit einem Schlag waren alle vorigen Vertonungen von Schillers „Ode an die Freude“ vergessen. Diese Musik war so neu, so verstörend, dass man sie kaum ertragen konnte und viele sie bekämpfen wollten. „Monströs, trivial, geschmacklos“ – selbst ein Beethoven sonst zugewandter Komponist wie Louis Spohr schüttelte empört den Kopf. Später hat er das Werk, aller anfänglichen Sorgen frei, selbst dirigiert.
Wie aber ist es dazu gekommen, dass die Neunte längst zu der Musik schlechthin für große Feierlichkeiten geworden ist, dass sie vor Staatenlenkern und dem Papst aufgeführt wird, dass sie alle Jahre wieder zum Jahreswechsel rund um den Erdball freudig geschmettert wird, in musikalischen Weltzentren ebenso wie in der Provinz? Eine offizielle Adelung erfolgte im Jahr 2001, als die Neunte in die von der Unesco geführten Liste „Memory of the World“ aufgenommen wurde, als erste musikalische Komposition. Als unmittelbare Reaktion darauf zauberte man aus dem Stahl-Tresor der Berliner Staatsbibliothek einige der rund 200 Seiten Original-Partitur und präsentierte sie stolz der Öffentlichkeit. Dabei ist der Weg dieses Manuskripts so verschlungen wie die Rezeption der Neunten selbst: 1846 wanderte ein Großteil der Handschrift in die damalige Königliche Bibliothek, ein halbes Jahrhundert später folgten weitere Seiten, doch die Auslagerung im Zweiten Weltkrieg führte zu einer Zerstückelung des Werks, die erst mit der deutschen Wiedervereinigung ihr Ende fand.
Damit sind wir im Jahr 1989. An Weihnachten dieses geschichtsträchtigen Jahres dirigierte Leonard Bernstein das Werk in zwei Konzerten nacheinander: in der Philharmonie im Westteil Berlins und im Ost-Berliner Schauspielhaus am Gendarmenmarkt. Das Orchester war symbolhaft zusammengesetzt mit Musikerinnen und Musikern der vier alliierten Kriegsmächte, die gegen Hitler-Deutschland gekämpft hatten – sie kamen aus Paris, London, New York und Leningrad – und Mitgliedern des Symphonieorchesters des Bayerischen Rundfunks. Neben einer solchen Symbolik – und die Neunte war immer mit Symbolik verknüpft – erlaubte sich Bernstein, aus der „Ode an die Freude“ eine „Ode an die Freiheit“ zu machen. Was mag sich der langjährige DDR-Staats- und Parteivorsitzende Erich Honecker gedacht haben, der die Neunte doch über alles geliebt haben soll?
Nun haben Text-Änderungen an der Schiller-Vorlage eine eigene Tradition. Richard Wagner etwa erinnerte daran, dass Schiller einst gedichtet hatte: „Deine Zauber binden wieder,/ Was der Mode Schwert geteilt“, diese Passage aber geändert hatte in: „Was die Mode streng geteilt“. Nur in dieser Fassung lag Beethoven der Schiller-Text vor. Wagner wollte besonders schlau sein und dem ursprünglichen Schiller-Wort rückwirkend wieder mehr Gewicht verleihen und formte die Zeile: „Was die Mode frech geteilt“ – weil sich das viel besser mit Beethovens musikalischer Ausgestaltung vertrage. „Diese neunte Symphonie Beethovens ward zum mystischen Anziehungspunkt all meines phantastisch-musikalischen Sinnens und Trachtens“, schreibt Wagner in seinen Erinnerungen. „Sie galt als das Non-plus-ultra alles Phantastischen und Unverständlichen.“ In dieser Formulierung liegt ein Kerngedanke der Rezeptionsgeschichte. Beethovens d-Moll-Sinfonie steht nämlich mit einem Bein bereits in der Romantik, nicht nur was die gegenseitige Durchdringung von Wort und Musik betrifft.
Nach der Uraufführung 1824 erwuchs aus einer kritischen Lesart des Missverstehens dieser Sinfonie schnell eine kritiklose Art der Heldenverehrung. Ein Jahr später bereits erklang die Neunte in London, gesungen in italienischer Sprache, weil die Direktoren der Philharmonic Society aufführungstechnische Probleme witterten, wenn man auf eine englische Übersetzung setzen würde – keine ungewöhnliche Entscheidung zur damaligen Zeit. Doch damit wurde bereits einer Internationalisierung der Neunten der Boden bereitet. 1837 schrieb ein britischer Rezensent eine Kritik von großer Tragweite: „Schließlich wäre das größte Monument, das man Beethoven widmen könnte, die […] jährliche Wiederaufführung seiner Chor-Sinfonie mit tausend oder 1500 Personen – die große Freimaurer-Hymne Europas.“ Mochte der Begriff „Freimaurer“ auf Schiller und seine Inspirationen gemünzt sein – Beethovens Neunte wurde tatsächlich 135 Jahre nach dieser Aussage zur Hymne Europas – wegen ihrer ins Politische übertragbaren Botschaft und wegen ihres Charakters einer klingenden Utopie. 1972 wurde Beethovens Melodie offiziell zur Hymne erklärt. Gleichzeitig erging an Herbert von Karajan der Auftrag dreier Arrangements: für Klavier, für Blasorchester und für Sinfonieorchester. „Die Hymne symbolisiert nicht nur die Europäische Union, sondern auch Europa im weiteren Sinne“, heißt es heute auf der offiziellen Internetseite der EU. Die zentrale Melodie des Finalsatzes, so liest man dort, stehe für „die Werte, die diese Länder teilen“.
Dieser europäische Gedanke flammte bereits 1845 auf: Bonn, damals eine kleine Provinzstadt, rückte anlässlich der feierlichen Einweihung eines neuen Beethoven-Monuments plötzlich auf die internationale Musikkarte. Zwar hatten einige prominente Gäste, darunter Mendelssohn und Schumann, ihr Kommen abgesagt, dennoch sprach Hector Berlioz von einem „beinahe europäischen ‚Meeting‘ der Söhne und Freunde der Tonkunst“. Franz Liszt hatte im Vorfeld tüchtig die Werbetrommel gerührt. Zur Eröffnung der Festivitäten, der Keimzelle des heutigen Beethovenfestes, kamen in der aus Holz gezimmerten Beethovenhalle mehr als 2000 Menschen zusammen, darunter etliche Vertreter des europäischen Hochadels. Alle lauschten sie der „Missa solemnis“ und der neunten Sinfonie. Entsprechend groß war das internationale Presse-Echo.
Spätestens seit dieser Zeit also umgibt die Neunte eine Aura des Außergewöhnlichen, die bis heute intakt ist. Wagner etwa dirigierte 1872 anlässlich der Grundsteinlegung seines Bayreuther Festspielhauses „unseres großen Beethoven’s Wunder-Symphonie […] als Festgruß“. Es ist schon ungewöhnlich, welch unterschiedliche Lager sich um die Neunte geschart haben: neben den Wagnerianern aller Länder auch (preußische) Nationalisten, (deutsche) Kommunisten, (französische) Republikaner und andere Parteigänger.
Doch wo Licht ist, ist auch Schatten. Denn nicht immer strahlte die Neunte im Lichte einer Frieden stiftenden Welthymne, wie von Romain Rolland prophezeit. Das Werk geriet auch ins Sogwasser nationalistischer Vereinnahmung, vor allem als die Nazis mit Beethoven als kulturellem Aushängeschild aufrüsteten. Muss Musik sich eigentlich alles gefallen lassen? 1936 jedenfalls ließ Hitler am Abend der Eröffnung der Olympischen Spiele in Berlin das Chor-Finale von fast 6000 städtischen Teenagern schmettern, Glockengeläut und Lichtshow inklusive. Im Jahr darauf dirigierte Wilhelm Furtwängler die Neunte, auf Initiative von Joseph Goebbels, exklusiv anlässlich von Hitlers Geburtstag. Die ideologischen Kämpfe um die Neunte wurden zu dieser Zeit besonders hart geführt. Nur ein Jahr später organisierte der nach Amerika ausgewanderte Dirigent Walter Damrosch in New York eine viel beachtete Aufführung der Sinfonie als „Hymne für den Frieden und die Freude der Welt“: auf dass den „europäischen Kriegshunden“ das Beißen vergehen möge. Die Neunte geriet zum Zerrspiegel. Was mag beispielsweise in den Köpfen der Menschen vorgegangen sein, die in Ausschwitz, ihrer Hinrichtung entgegenbangend, die „Ode an die Freude“ in tschechischer Sprache sangen?
War mit dem düstersten Kapitel des 20. Jahrhunderts auch die Zeit gekommen, die Neunte ganz neu zu denken? „Um was die Menschen gekämpft, wofür sie Zwingburgen gestürmt und was die Erfüllten jubelnd verkündigt haben, das soll nicht sein. Es wird zurückgenommen“, sagt der fiktive Komponist Adrian Leverkühn in Thomas Manns Roman „Doktor Faustus“. Als sein Biograph Serenus Zeitblom fragt: „Was willst du zurücknehmen?“, antwortet Leverkühn: „Die Neunte Symphonie.“
Schon Claude Debussy hat dem „Popanz zur öffentlichen Verehrung“ der Neunten zutiefst misstrauisch gegenübergestanden. Denn dieses Werk birgt auch reichlich Konfliktpotenzial, sie ist das genaue Gegenteil von „Kuschel-Klassik“. Nein, in diesem Sinne ist die Neunte eher eine Zumutung. Sie mutet uns viel zu. Beethoven mutet uns viel zu. Doch darin lauert eine weitere Gefahr: die der Beschneidung, einer Verknappung zum „Best of“. Wie oft wird der letzte Satz von den ersten drei Sätzen abgeschnitten? Kritisch darf man fragen, ob die Neunte als Speerspitze internationalen Kulturguts, im Rahmen einer zunehmenden Bagatellisierung und Nivellierung von klassischer Musik, nicht Gefahr läuft, gänzlich verdrängt zu werden? In der Weltraum-Sonde Voyager jedenfalls schwirrt der Kopfsatz von Beethovens Fünfter durch den Kosmos, nicht die Neunte.
Nicht eingehen wollen wir hier auf originelle musikalische Aneignungen wie etwa durch Maurizio Kagel oder die Rezeptionsgeschichte der Neunten im Film, mit Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“ von 1971 an der Spitze. Hingewiesen sei allerdings noch auf eine der bedeutendsten Technikrevolutionen des 20. Jahrhunderts, die von der neunten Sinfonie entscheidend mitgeprägt worden ist. Ihr verdanken wir das Format der heutigen CD. Es war ein Japaner, der sich von Beethoven lenken ließ. Norio Ōga arbeitete Anfang der 80er Jahre für Sony an einer Lesbarkeit von Tonträgern durch Laser. Als es darum ging, welche Größe das neue Medium denn haben solle, bestand er darauf, dass die komplette Neunte darauf Platz finden müsse. Und seine Frau liebte die Aufnahme mit Wilhelm Furtwängler, deren Dauer sich mit 74 Minuten am oberen Spektrum bewegt. Damit stand fest: Der Prototyp einer Compact Disc-Hülle sollte bei 14,2 mal 12,5 Zentimetern liegen und in jede Jacketttasche passen. Der Neunten sei Dank.