
Seinen letzten offiziellen Auftritt als Sänger hatte er Ende 1992 in einer Operngala in München, moderiert von Vicco von Bülow. Dietrich Fischer-Dieskau sang Ausschnitte aus Verdis „Falstaff“. Als habe er sich bewusst mit zwei Kronzeugen eines humanistisch überhöhten Humors von der großen Bühne verabschieden wollen, Loriot und Verdi.
Dass beileibe nicht alles Spaß auf der Welt ist, wie Falstaff singt, das hatte Fischer-Dieskau früh lernen müssen. In Berlin geboren am 28. Mai 1925 als Gymnasialdirektorenkind in großbürgerliche Verhältnisse mit Hauspersonal, stand ihm die Welt der Künste und der humanistischen Bildung weit offen.
Aber auch die des menschlichen Leides. Einer seiner beiden Brüder war geistig und körperlich behindert. „Mein armer, leidender Bruder.“ Die Nazis ließen ihn gegen Ende des Krieges abholen und verhungern. Der Vater war bereits gestorben, als Fischer-Dieskau zwölf Jahre jung war. In seiner sehr lesenswerten Autobiografie „Nachklang“ beschreibt der Sänger auch weitere Verluste, etwa den eines sensiblen Jugendfreundes, der im Krieg fiel.
Schließlich wurde auch Fischer-Dieskau im Herbst 1943 eingezogen. Der Einberufungsbescheid riss ihn aus dem gerade begonnenen Gesangsstudium bei Hermann Weißenborn – nicht zu verwechseln mit dem Pianisten Günther Weißenborn. „Wie sollte ich weltfremder Träumer standhalten in der entschleierten Welt?“, erinnert er sich an seine Gemütslage.
Ein weltfremder Träumer war der junge Mann rückblickend betrachtet aber nicht. Vielmehr ging er vor seiner Zwangsrekrutierung mit beachtlicher Konsequenz daran, das Singen zum Beruf zu machen. Sein wohl erstes großes öffentliches Konzert gab er mit 17 Jahren im Zehlendorfer Gemeindehaus (am 30. Januar 1943) und sang – unterbrochen von einem dreistündigen Luftalarm – vor 150 Zuhörern Schuberts „Winterreise“ (bis auf zwei Lieder, die ihm noch zu schwer erschienen). Bereits zuvor hatte er bei einem Schülerkonzert seines ersten Lehrers, eines Bach-Tenors, die Schlussansprache des „Meistersinger“ Hans Sachs „geschmettert“, wie er es beschreibt.
„Un gran cantante“
Das Selbstverständnis als Sänger war bereits früh derart klar, dass er im Krieg vor Kameraden mit Schubert und Schumann auftrat („Sang vor Verwundeten, deren Hingerissensein mich einigermaßen erschütterte“, notiert er dazu in „Nachklang“). Und in der amerikanischen Kriegsgefangenschaft, die er in der Nähe von Pisa verlebte, avancierte er zum viel beschäftigten Konzertorganisator und Ausführenden (mitunter sich selber begleitend) mit einem erstaunlich weiten Repertoire von Schütz über Debussy bis hin zu Schlagern im amerikanischen Soldatenclub – wofür er sich mit Gleichgültigkeit gepanzert habe.
Aus dem Krieg kam Fischer-Dieskau als nahezu fertiger Sänger wieder, auch wenn er selber noch die „große sängerische Linie“ bei sich vermisste. Nicht ohne Stolz erwähnt er in seiner Autobiografie das Lob italienischer Landarbeiter: „Un gran cantante“. Diese frühen Jahre des Sängers sind deshalb so bedeutend, weil sie offenbaren, welch ungeheure Begabung er in sich und nach außen trug. „Gesang setzt wohl ein unnormales, gesteigertes Ausdrucksbedürfnis voraus“, reflektiert Fischer-Dieskau in einem seiner zahlreichen weiteren Bücher, „Töne sprechen, Worte klingen.“
Er muss schon in jüngsten Sängerjahren eine künstlerische Autorität gewesen sein, man wird wohl sagen dürfen: ein Genie. Seinen Lehrern war das sofort klar. Wie auch jedem anderen, der ihn in dieser Frühphase hörte.
Es staunt der Laie …
Will man diese Jahrhundertbegabung zu begreifen versuchen, kann man mehrere Ansätze verfolgen: Die vokale Entfaltung dürfte bereits früh durch viele Konzert- und Opernbesuche sowie die elterliche Plattensammlung beflügelt worden sein. Die großen Sänger seiner Zeit, von der Liedsängerin Emmi Leisner bis zum Wagner-Tenor Franz Völker, hat er in Berlin alle live gehört und ihre Eigenheiten sicher auch studiert. Fischer-Dieskau war Zeit seines Lebens ein Stimm-Fan und wusste die Leistungen anderer Sänger zu schätzen. Übrigens auch die von Hermann Prey, dessen „Barbiere di Siviglia“ er in einem Zug mit der Lady Macbeth von Maria Callas nennt. Er bedauerte es, nicht gemeinsam mit ihr auf der Bühne gestanden zu haben.
Das Mitteilungsbedürfnis äußerte sich ebenfalls früh: Gerne inszenierte sich das Kind theatralisch, auch als Puppenspieler und Rezitator. Dass er Publikum suchte und fand, war ihm sehr früh eine Selbstverständlichkeit. Noch als er bereits Weltstar war, versammelte er in seiner Villa im Berliner Westend gern Gesellschaften um sich und lehrte seine Gäste Erkenntnisse über die Gesangskunst, etwa anhand seiner riesigen Stimmensammlung auf Schallplatten.
Gesangsgenie mit ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis – mit diesen beiden Komponenten allein wäre Fischer-Dieskau schon zu einem veritablen Bühnenhelden avanciert. Zwei weitere Eigenschaften aber haben ihn zu dem gemacht, als den ihn viele heute verehren: zum bedeutendsten Liedsänger aller bisherigen Zeiten. Und diese beiden einmaligen künstlerischen Fähigkeiten sind seine beispiellose emotional durchlässige Sensibilität und seine höchst intelligente Deutungskunst im Umgang mit der deutschen Sprache. Doch natürlich bleiben auch diese Erklärungsversuche Stückwerk, der Versuch des Außenstehenden, das teils sicher auch für sich selber unerklärliche Genie in Worte fassen zu wollen.
Gesangstechnik und Singen waren für Fischer-Dieskau eine Einheit. Ebenso Atem, Sprache und Melodie. Er beherrschte sein Handwerk in solcher Vollkommenheit, dass er seinen Gesang ganz in den Dienst seiner Botschaft stellen konnte.
Es dürfte neben Maria Callas kaum eine Sängerin oder einen Sänger gegeben haben, der seine künstlerischen Ausgestaltungen derart bis an den äußersten Rand seiner sängerischen Möglichkeiten ausgedehnt hat wie Fischer-Dieskau.