
Der Argentinier Astor Piazzolla (1921-92) hasste den Tango. Zumindest als Jugendlicher. Er liebte den Jazz, schließlich wuchs er in New York auf. Nachdem Piazzollas Eltern, italienische Emigranten, erfolglos ihr Glück in Argentinien versucht hatten, gingen sie 1925 in die USA. Astor, der einzige Sohn, war damals gerade vier Jahre alt. Der Vater eröffnete einen Friseursalon im New Yorker Stadtteil Greenwich Village in einer zwielichtigen Nachbarschaft, die Gangster und Mafiosi beherrschten. Der Laden diente als Fassade für illegales Glücksspiel im Hinterzimmer. Bis zum Ende der Prohibition 1933 wurde dort auch heimlich Whiskey gebrannt. Der junge Astor lernte vom Vater das Boxen, um sich auf den Straßen zu behaupten. Ansonsten bestimmte Heimweh das Familienleben – und ein Grammophon: „Mein Vater hörte ständig Tango und dachte wehmütig an Buenos Aires zurück, an seine Familie, seine Freunde – seine Traurigkeit, sein Ärger und immer nur Tango, Tango“, schilderte Piazzolla später seine Kindheit.
Astors Musikalität zeigt sich früh. Er erhält Klavierunterricht bei einem von Johann Sebastian Bach begeisterten Nachbarn. Die Stunden werden zum Teil in Gnocchi und Pasta gezahlt. Dem Vater zuliebe lernt er – eher leidenschaftslos – auch das Bandoneonspiel bei einem Lehrer in der Bronx. Aus einem Pfandleihhaus wird dieses für den Tango typische Harmonikainstrument beschafft. Damit beeindruckt Astor Piazzolla mit 14 Jahren sogar den Tango-König Carlos Gardel bei einer Party während der Dreharbeiten zu dem in den USA produzierten Film „El día que me quieras“ (1935). Astor spielt darin einen Zeitungsjungen. Noch im gleichen Jahr kommt Gardel bei einem Flugzeugabsturz ums Leben.
1936 kehren die Piazzollas nach Argentinien zurück und lassen sich in Mar del Plata nieder. Erst hier, als er im Radio das Ensemble des Tango-Geigers Elvino Vardaro hört, wird Astors Interesse entfacht. Er beschäftigt sich nun intensiver mit seinem Bandoneon. Mit 16 Jahren geht er nach Buenos Aires und wird Mitglied in der Tangoformation des Bandoneonisten Miguel Caló, die in Bars und Nachtclubs spielt. 1939 wechselt er ins angesehenere Tangoorchester von Aníbal Troilo. Bald erstellt Piazzolla für Troilo auch Arrangements. Nun verdient er Geld mit seiner Kunst, kann die Familie sogar unterstützen. Doch der Tango hat in seinem Geburtsland in dieser Zeit einen sehr schlechten Ruf, ihm haftet der Ruch einer Musik der Unter- und Halbwelt an. Astor Piazzolla will jedoch als Musiker ernst genommen werden. Bei einem Gastspiel des von ihm verehrten Pianisten Artur Rubinstein rät dieser ihm, beim jungen Komponisten Alberto Ginastera zu studieren. Ginastera, nur fünf Jahre älter als Piazzolla, verbucht erste Erfolge mit modernen Werken, in denen Rhythmen und Melodien aus der argentinischen Folklore erklingen. Ab 1940 studiert Piazzolla parallel zu seinem Engagement bei Troilo Komposition, Kontrapunkt und Instrumentation bei Ginastera und nimmt bald auch systematisch Klavierunterricht beim Pianisten Raúl Spivak. Geld verdient er weiterhin mit Tangoarrangements. Schließlich muss er nun seine Ehefrau Odetta Maria Wolff, die er 1940 kennengelernt hat, und bald zwei Kinder versorgen. Erste Kammer- und Orchesterwerke entstehen, die sinfonische Dichtung „Buenos Aires“ (1951) und „Sinfonietta“ (1953) gewinnen Preise. Mit einem Stipendium geht Piazzolla schließlich 1954 nach Europa, um bei der berühmten Lehrerin Nadia Boulanger in Paris sein Handwerk zu perfektionieren. Der Schüler verschweigt zunächst seine Erfahrungen mit dem Tango: „In Wahrheit schämte ich mich, ihr zu sagen, dass ich Tangomusiker war, dass ich in Bordellen und Kabaretts von Buenos Aires gearbeitet hatte. ‚Tangomusiker‘ war ein schmutziges Wort in Argentinien während meiner Jugend. Es war die Unterwelt“, so Piazzolla später. Als Nadia Boulanger die Partituren von Piazzolla durchblättert, entdeckt sie darin eine Menge Einflüsse von Ravel, Strawinsky, Bartók und Hindemith. Nicht schlecht, findet sie. Was sie allerdings vermisst, ist eine individuelle Handschrift. Schließlich bittet sie Piazzolla, ihr einen Tango auf dem Klavier zu spielen. Auf seinen Vortrag reagiert sie mit den Worten: „Merkst du nicht, dass dies der echte Piazzolla ist, nicht jener andere? Du kannst die gesamte andere Musik fortschmeißen!“ Boulanger gibt ihm den Rat, auf diesem Weg fortzufahren: „Dein Tango ist die neue Musik, und sie ist ehrlich.“ Als er Europa verlässt, hat Piazzolla endlich seine Stimme gefunden. „Ich kehrte wie ein Gladiator zurück nach Argentinien. Ich war wie ein Vulkan“, erinnert er sich später, „und dann fing die Polemik an.“
In Buenos Aires gründet er 1955 sein eigenes Ensemble, das Octeto Buenos Aires, und entwickelt mit der Besetzung aus zwei Bandoneons, zwei Violinen, Kontrabass, Cello, Gitarre und Klavier jene Stilrichtung, die als „Tango nuevo“ („Neuer Tango“) in die Musikgeschichte eingehen wird. Doch der Weg ist steinig, nicht bloß die versnobte Oberschicht Argentiniens rümpft die Nase über den Ansatz, aus der Gossenkunst Tango eine raffinierte Kunstgattung zu machen. Auch den meisten Tango-Aficionados ist sein Vorstoß ein Dorn im Auge. Sie betrachten Piazzolla als Hochverräter, als einen Verrückten mit „seltsamen Ideen und sinnlosen Modernismen“. Es gibt tätliche Angriffe, sogar Morddrohungen erhalten er und seine Familie. Was so sehr provoziert: Der „Tango nuevo“ fordert die Traditionen heraus.