
Musikfestivals sind ein fester Bestandteil der Klassikszene. Abseits der Abonnements und der arrivierten Spielstätten erfüllen sie gleich mehrere Funktionen: Für Musikerinnen und Musiker sind sie willkommene Gelegenheiten, auch in der „Sommerpause“ ihren Beruf auszuüben. Dem Publikum ermöglichen sie, Kultur und Urlaub miteinander zu verbinden, denn Musikfestivals finden häufig an landschaftlich reizvollen Orten abseits der Musik-Metropolen statt.
Am wichtigsten ist aber die Bedeutung des Festivals für die Kunst selbst. Schließlich ergibt sich hier ganz bewusst eine Alternative zum „Konzertbetrieb“, der sich ja allein von der Begrifflichkeit her schon sehr nach Routine anhört. Im besten Fall entstehen also Konstellationen, die zu musikalischen Höhenflügen animieren, die im laufenden „Betrieb“ selten möglich sind.
Ein Festival, auf das dies zweifellos zutrifft, ist der Ebracher Musiksommer. Als eines der dienstältesten Festivals des Freistaats Bayern feiert man im beschaulichen Markt Ebrach in diesem Jahr das 35-jährige Bestehen der jährlichen Veranstaltungsreihe.
Ebrach ist ein kleiner Ort in der fränkischen Steigerwald-Region. Wanderer nehmen ihn schon von Weitem wahr: Was sich dem Auge darbietet, scheint an eine Fata Morgana zu grenzen – mitten im Ort, der umgeben ist von Feldern, Wiesen mit grasenden Kühen und Wäldern mit wertvollen Rotbuchenbeständen, erstreckt sich eine prunkvolle, barocke Abtei; und in ihrem Zentrum das allzu bescheiden „Abteikirche“ genannte Gotteshaus, das von den Dimensionen her manche Kathedrale in den Schatten stellt.
Ausgerechnet die Zisterzienser haben uns diese Explosion barocker Prachtentfaltung hinterlassen. Und wahrscheinlich wäre Ebrach längst bekannter, wäre nicht 1851 der Beschluss gefasst worden, die Abtei in eine Justizvollzugsanstalt umzuwandeln. Unglaublich, aber wahr: Bis heute ist eines der architektonisch prachtvollsten Bauensembles Frankens ein Gefängnis! Öffentlich zugänglich sind nur die Abteikirche mit der auf das Jahr 1200 zurückgehenden Michaelskapelle und der prunkvoll ausgestattete Kaisersaal im Abteigebäude.
In den 1980er Jahren lag dieser Ort in einem Dornröschenschlaf. Gefängnisse sind eben keine Kulturorte. Menschen sollen nicht aus- und eingehen, sie sollen schlicht drinbleiben! Dass solch ein Ort mit seiner absichtsvollen Abgeschiedenheit mehr Potenzial haben könnte, auf diese Idee kann wohl nur jemand kommen, der mit seiner Heimat eng verbunden ist. Jemand, der die Geschichte des Klosters schon in der Grundschule mitbekommen hat und sich vielleicht schon immer vorgestellt haben mag, wie wohl das Leben der Zisterziensermönche einmal war. Jemand, der den Klang der insgesamt drei historisch bedeutsamen Orgeln der Ebracher Abteikirche seit frühester Kindheit kannte (und damit einhergehend auch die akustischen Besonderheiten und Vorzüge des Raumes). Jemand, der vor seinem inneren Ohr gehört haben mag, wie in dem vor Stuck und Marmor strotzenden Kaisersaal des ehemaligen Abteigebäudes ein klassisches Konzert klingen würde – entspricht dieser Saal doch in seinen Maßen und seiner Ausstattung geradezu lehrbuchhaft einem Konzertsaal der Zeit der Wiener Klassik.
Dieser „Jemand“ war Gerd Schaller, der die Idee entwickelte: Hier, inmitten der Justizvollzugsanstalt, müsste man eine Konzertreihe etablieren! Er selbst sagt über diese Zeit: „Ich war noch Student und ging zugegebenermaßen mit einer gewissen Naivität ans Werk. Ich konnte mir nicht vorstellen, was es für einen organisatorischen und künstlerischen Aufwand bedeuten würde, eine Konzertreihe zu beginnen und über einen längeren Zeitraum am Laufen zu halten. Aber offensichtlich hat meine Begeisterung den damaligen Leitenden Regierungsdirektor Herbert Kronzucker überzeugt, sodass auch er meiner Idee offen gegenüberstand – und mehr noch: Er unterstützte mein Vorhaben tatkräftig.“
1990 setzte Schaller sein Vorhaben tatsächlich um. Und wie es sich für einen jungen Künstler gehört: In der Repertoireauswahl ging er gleich in die Vollen. Haydns „Schöpfung“ sollte es sein, eines der opulentesten Werke der Wiener Klassik.
Die ganze Familie half bei der Organisation mit, und nachdem das Debüt erfolgreich verlaufen war, ging es Schritt für Schritt voran: 1991 gab es schon zwei Konzerte, diesmal nicht im Kaisersaal. Gerd Schaller dazu: „Eigentlich ist es klar: Wenn man schon so eine beeindruckende Kirche mit einer exzellenten Akustik in unmittelbarer Nähe hat, drängt es sich geradezu auf, auch dort zu konzertieren – natürlich mit den entsprechenden Programmen.“
Von Jahr zu Jahr wuchs die Zahl der Veranstaltungen, und die stetige Erweiterung des Repertoires brachte den Wunsch nach weiteren Konzertorten mit sich. So griff der Ebracher Musiksommer auf die benachbarten Städte aus: Seit 1994 finden auch Konzerte im Joseph-Keilberth-Saal der Konzerthalle Bamberg statt, 2005 kam der historische, holzvertäfelte Max-Littmann-Saal in Bad Kissingen dazu. Auch in Würzburg und anderen Orten gab es schon Veranstaltungen des Ebracher Musiksommers – durchschnittlich neun bis zehn Konzerte pro Jahr.
Nachdem Gerd Schaller den Ebracher Musiksommer anfangs vor allem mit Wiener und Mannheimer Klassik sowie mit Barockmusik bespielt hatte, reiften langsam, aber sicher neue Schwerpunkte heran: 1996 erklang zum ersten Mal eine Symphonie von Anton Bruckner. Doch bevor dieser Name den Ebracher Musiksommer so stark prägen sollte, dass das Festival heute ohne die Musik Bruckners kaum noch denkbar ist, war es ein anderer Komponist, der Ebrach ins große Rampenlicht holte.
Als Erster Kapellmeister beziehungsweise Generalmusikdirektor in Hannover, Braunschweig und Magdeburg von 1993 bis 2006 war Gerd Schaller immer wieder auf einen weitgehend vergessenen Namen gestoßen: Carl Goldmark. Beim Ebracher Musiksommer tauchte der Name dieses Komponisten, der unter anderem Lehrer von Jean Sibelius war und seinerzeit für seine Opern gefeiert wurde, erstmals 2007 auf. Goldmarks Symphonie „Ländliche Hochzeit“ wurde zum doppelten Debüt: Erstmals war der Bayerische Rundfunk als Kooperationspartner mit an Bord, und die Aufnahme erschien beim Label Profil Edition Günter Hänssler – der Beginn zweier Kooperationen, die bis heute andauern. 2009 stand wieder Goldmark auf dem Programm – für die Gesamteinspielung der Oper „Merlin“ gab es prompt einen Echo Klassik.
Mit den Goldmark-Aufnahmen bekam der Ebracher Musiksommer auch sein eigenes Festspielorchester, die Philharmonie Festiva. Gerd Schaller schwebte vor, Musikerinnen und Musiker zusammenzuführen, die bereit waren, sich in klausurartiger Atmosphäre mit reichlich Probenzeit intensiv einem Projekt zu widmen. Und das gelang ihm: Den festen Kern bilden Mitglieder einiger der besten deutschen und europäischen Orchester.
Aufsehen erregten in den folgenden Jahren Franz von Suppés Requiem (als TV-Produktion vom BR mitgeschnitten) und Johann Ritter von Herbecks „Große Messe“. Doch das Projekt, das den Ebracher Musiksommer inzwischen prägt wie kein anderes, nahm 2011 seinen Anfang: Gerd Schaller nahm sich vor, die Symphonien Anton Bruckners in sämtlichen relevanten Fassungen aufzuführen und aufzunehmen! Und das ergibt bei elf Symphonien und zahlreichen Umarbeitungen rund dreißig CDs – viel mehr, als alle bisherigen Bruckner-Zyklen umfassen. Ein Mammutprojekt! Aber ein ungemein spannendes! Der Ebracher Musiksommer ist sich indes über all die Jahre treu geblieben. Selbst während der Corona-Pandemie gab es keine Pause. Zwar konnte nicht verhindert werden, dass auch einmal Konzerte ausfallen mussten, aber alles in allem ist der Ebracher Musiksommer eine Geschichte der Konstanz – sowohl qualitativ als auch in Zahlen.
Das Jahr 2025 wird nun in die Annalen des Festivals als ein ganz besonderes eingehen: Der Bruckner-Zyklus wird abgeschlossen, und nach 35 Jahren erklingt am 7. September erneut „Die Schöpfung“ von Joseph Haydn – das Werk, mit dem das Festival 1990 aus der Taufe gehoben wurde.
Und wie geht es mit Bruckner weiter?, fragt sich mancher Bruckner-verwöhnte Ebracher Stammbesucher. Dazu will Gerd Schaller nur so viel verraten: „Es geht weiter! Bruckner bleibt untrennbar ein Bestandteil des Ebracher Musiksommers.“