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Porträt
Kleine Form, ganz groß
Mariam Batsashvili widmet sich auf ihrem neuen Album dem Genre der Zugaben. Auch abseits der Bühne stellt sie eine wachsende Vorliebe für Kürze und Knappheit fest
Von
Christoph Vratz
Josef Fischnaller, Copyright: Parlophone Records Ltd

Manchmal beginnt ein Konzertabend erst, wenn der offizielle Teil vorbei ist. – Diese Behauptung ist natürlich unfair: den Interpreten gegenüber und den Werken, die sie bis dahin gespielt haben. Dennoch besitzen Zugaben in einem Konzert immer einen eigenen Reiz. Inhaltlich bieten sie oft Überraschungen, und vom Interpreten fällt ein gewisser Ballast ab.

Mariam Batsashvili kennt diese Unterscheidung zwischen offiziellem Programm und Encores natürlich aus eigener Erfahrung. „Zugaben im Konzert sind immer ein bisschen anders als der eigentliche Hauptteil.“ Warum? Das ist auch für sie schwer zu ergründen. „Es liegt wohl daran, dass bei den vorab bekannten Werken gewisse Erwartungen im Publikum vorhanden sind. Manche kennen die Stücke, manche nicht.“ Die Zugaben vergleicht Batsashvili daher eher mit einem Bonus oder mit einem „Geschenk“. „Bei den Zugaben ist eine größere Leichtigkeit vorhanden, obwohl die Konzentration bei mir als Künstlerin natürlich dieselbe ist. Schließlich möchte ich auch die Zugaben auf gleich hohem Niveau spielen.“ Dennoch gibt sie zu, dass  sich dieser Moment auch für sie als Musikerin auf der Bühne „sehr gut anfühlt“.

Vereinzelt gibt es Musikerinnen und Musiker, die bei einem Solo-Rezital lediglich einen Teil ihrer Werke im Vorfeld bekanntgeben und den Rest spontan gestalten. „Warum nicht?“, fragt Mariam Batsashvili und schränkt ein: „Wenn die Veranstalter da mitziehen.“ Zu fragen wäre, ob weniger Menschen ins Konzert kämen – oder sogar mehr? – wenn nur einzelne Programmpunkte zuvor bekanntgegeben werden. „Nach meinen Erfahrungen möchten Veranstalter vorher wissen, welches Programm sie ankündigen dürfen. Vielleicht hängt das mit dem zu erwartenden Ticketverkauf zusammen.“ Batsashvili konstruiert ein Beispiel: „Nehmen wir an, ich würde einige Barockwerke ankündigen und dann ohne Ankündigung Jazz spielen – darüber wären vermutlich nicht alle glücklich.“ Andererseits könnte dieser Überraschungseffekt vielleicht helfen, den Kreis von Interessenten zu vergrößern. Die Kuratierung von Programmen und ihre Bekanntgabe bleibt jedenfalls eine offene Baustelle im heutigen Konzertleben, so viel ist klar.

Ich möchte wissen, ob Batsashvili schon vor einem Konzert weiß, welche Zugaben sie rund zwei Stunden später spielen wird, oder ob es sich um eine ganz spontane Entscheidung handelt. „Ich habe immer einige Stücke in meinem Repertoire, die von vornherein als Zugaben gedacht sind. Vor dem Konzert ziehe ich dann einige dieser Stücke in die engere Auswahl, aber die letzte Entscheidung treffe ich spontan. Das hängt von verschiedenen Faktoren ab: Wie sind meine Kräfte? Wie ist die Stimmung im Saal? Was könnte dem Publikum am ehesten gefallen? Das sind Dinge, die man erspüren kann, und entsprechend fälle ich meine Entscheidung.“ Als Beispiel nennt Mariam Batsashvili, die aus dem georgischen Tiflis stammt, in Weimar studiert hat, ihren Durchbruch 2014 mit dem Gewinn des Liszt-Wettbewerbs Utrecht feierte und seit 2019 für Warner Classics aufnimt, ein Konzert im sauerländischen Olpe. „Ich hatte zuvor Liszts Dante-Sonate und Chopins Andante spianato und Grande Polonaise brillante gespielt. Danach waren die Leute geradezu euphorisch, und dieses Glück hat sich komplett auf mich übertragen. In dem Moment dachte ich: Nun setzt du noch einen drauf, und habe die zweite Ungarische Rhapsodie gespielt, was ich normalerweise nie mache, weil das Stück so lang ist. Danach wollte das Publikum noch mehr, und ich habe ein weiteres kürzeres Werk gespielt. Aber normalerweise bevorzuge ich Stücke von rund zwei oder drei Minuten Dauer.“

Die Idee zu ihrem neuen Album „Encores“ ist entstanden, als sie vor einigen Monaten kürzere Stücke auf verschiedenen digitalen Medien unter dem Titel „Lullabies“ veröffentlicht hat. „Für meinen Sohn habe ich kleinere Stücke gespielt, die er sehr gemocht hat. Manchmal ist er dabei sogar eingeschlafen.“ Neben dem bekannten Brahms-Wiegenlied zählt auch der zweite Liszt-„Liebestraum“ dazu, eine Chopin-Nocturne und anderes. „Ich habe die Stücke aufgenommen und festgestellt, dass die Menschen das offenbar mögen.“ Batsashvilis Aussage lässt sich leicht anhand der Klickzahlen bei Spotify überprüfen. Zwei der Titel haben knapp unter bzw. deutlich über 300.000 Klicks verzeichnet – gerade in der Klassik durchaus erfolgreiche Zahlen. Mariam Batsashvili war davon „absolut überrascht“. Auf der Suche nach möglichen Gründen gibt sie an, „dass die Stücke relativ kurz und gleichzeitig angenehm zu hören sind. Daraufhin haben wir, das Label und ich, überlegt, diese Serie mit kurzen Stücken einfach fortzuführen – in Form eines eigenen Albums.“ Dieses Album wird in Etappen erscheinen: einzelne Titel zu verschiedenen Zeitpunkten erst digital, schließlich komplett und erweitert unter dem Titel „Encores“. Auf die Frage, ob die Zusammenstellung auch einer Form von Tagebuch gleiche, zögert Mariam Batsashvili zunächst kurz. Dann sagt sie: „Ja, das kann man so sehen.“

Es passt sicher in die heutige Zeit und zu heutigen Hörgewohnheiten, dass auch in der Klassik die Kürze von Stücken andere Kriterien in den Hintergrund drängt. Es sei fast schon kurios, dass sie so viel Zeit ihres täglichen Übens mit größeren und eben längeren Stücken verbringt, doch die kurzen zum Erfolgshit werden. „Wenn ich mir Menschen vorstelle, die sich nicht tief in die gewichtigeren Werke vergraben möchten, sondern Klassik um der guten Laune, um eines besseren Wohlbefindens Willen anhören, dann sind Stücke mit rund fünf Minuten offenbar sehr gut geeignet.“ Werden also Zugaben-Stücke mit weniger Aufmerksamkeit, mit weniger Konzentration gehört? Möglich. Natürlich hat auch Mariam Batsashvili darauf keine endgültigen Antworten parat. Ob sie dieses Ungleichgewicht ärgert, weil dadurch die Qualität ihres Klavierspiels weniger oder einseitiger wahrgenommen wird? „Nein“, lautet die klare Antwort. „Mich würde nur stören, wenn Menschen im Konzert zu sprechen beginnen oder hin- und hergehen würden.“

Mariam Batsashvili gesteht, dass die Zusammenstellung von Programmen immer ein heikler Akt ist. Drei große Stücke? „Lieber ein großes und dazu kleinere Werke.“ Sie hält es für wichtig, dass ein Publikum einem Konzert gut folgen kann. „Ich muss für mein Publikum sorgen und es führen.“ Batsashvili sieht sich wie eine Reiseleiterin, die sich verantwortlich fühlt für das Wohlergehen ihrer Mitreisenden. „Programmieren ist Balancieren. Niemand hat ein Problem, mir bei einem Werk über eine längere Distanz zu folgen, aber direkt im Anschluss noch eine Beethoven-Sonate? Ich bin sicher, dass ich nach dem ersten Satz einige Menschen verlieren würde. Das ist keine Kritik, denn Konzentration ist ein hehres Gut, auch beim Publikum.“

Möglicherweise hat sich das Hörverhalten im Laufe der Zeit verändert. „Ich glaube, dass es einen schleichenden Wandel gegeben hat und weiter geben wird“, gesteht die Pianistin. „Ich stelle fest, dass es gerade der jüngeren Generation schwerer fällt, sich über längere Distanzen zu konzentrieren.“ Natürlich, so fährt sie fort, spielen die sozialen Medien dabei eine zentrale Rolle: „Ein TikTok-Video ist nun mal kurz, weniger als eine Minute, und oft werden sie nach zehn Sekunden schon weggeklickt. Das geht bei einer Schubert-Sonate aber nicht.“ Ihr eigenes Hör-Verhalten hat sich hingegen nicht geändert, sagt Mariam Batsashvili, auch wenn sie selbst kleine Tutorials bei youtube anbietet: „Kurz-Unterricht ohne Worte. Das ist offenbar sehr hilfreich. Ich versuche in diesen Videos so knapp wie möglich zu sein, um mich auf das Wesentliche zu konzentrieren.“

Ob sie froh ist, sich auf diese Weise selbst zu beschränken? „Je länger man etwas erklärt, desto weniger können Menschen das auch annehmen. Niemand möchte ellenlang belehrt werden. Daher spiele ich und zeige, aber ich spreche nicht. Einige Zeilen Text – mehr nicht.“ Rückmeldungen erhält sie von Hobby-Pianisten, von Studenten, von Lehrern, von Profis – die ganze Bandbreite. Auch diese Form der Musik-Vermittlung ist mittlerweile ein zentraler Baustein in der Karriere von Mariam Batsa­shvili.

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