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Interview
Komplex und zugänglich
Die Pianistin Lilit Grigoryan widmet ihr neues Album der oft unterschätzten kleinen Schwester der Sonate: der Sonatine
Von
Arnt Cobbers
Nikolaj Lund

Vor acht Jahren präsentierte sie Variations­zyklen von Beethoven bis Szymanowski, dann folgte der Zyklus „Musica Callada“ von Frederic Mompou. Nun fügt Lilit Grigoryan beide Stränge, an denen sie gern arbeitet, zusammen: die Konzentration auf jeweils eine Gattung und die „Arbeit in kleinen Welten“, wie sie es nennt. Geboren in Jerewan, kam sie zum weiterführenden Studium bei Matthias Kirschnereit nach Rostock, wo sie nun auch unterrichtet und mit ihrer Familie wohnt. Lilit Grigoryan ist eine nette, umkomplizierte Gesprächspartnerin, die sehr gut Deutsch spricht.

Frau Grigoryan, versuchen Sie mit dem Album eine Ehrenrettung der Sonatine?

Die Idee ist, die Sonatine einfach mal zu würdigen. Sie ist ja die kleine Schwester der Sonate. Es ist keine richtige Gattung, würde ich sagen. Vielleicht war sie das im 18. Jahrhundert, als man darunter ein unproblematisches Übungsstück verstand. Und bei Muzio Clementi handelt es sich auch um eine ganz bestimmte Form. Aber Maurice Ravel zum Beispiel hat sein Werk Sonatine genannt, weil es einfach kürzer und kompakter ist. Alle sechs Werke auf diesem Album sind kaum länger als zehn, elf Minuten.

Aber eine Sonatine ist nicht unbedingt leichter zu spielen und vom Hörer zu erfassen, oder?

Das ist genau der Grund, warum ich das Album aufgenommen habe. Was ist leicht, was ist schwer? Was ist Virtuosität? Natürlich, für die Liszt-Sonate braucht man schnelle Finger. Aber ein schönes Legato spielen zu können oder eine Phrase zu formen, das ist für mich auch Virtuosität und Technik – Technik umfasst das ganze Handwerk des Klavierspielens. Und Musik wirklich schön zu gestalten, ist oft umso schwieriger, je weniger Töne da sind. Wirklich den langen Atem und die Spannung zu halten, die Dramaturgie aufzubauen, die Linien nachzuzeichnen und die klanglichen Welten zu erzeugen, das zu lernen erfordert viel mehr Zeit, als schnelle Oktaven zu lernen oder was man sonst landläufig „virtuos“ nennt. Insofern sind die sechs Sonatinen oder „leichten“ Sonaten auf diesem Album überhaupt nicht leicht zu spielen.

Zeichnet die Auswahl die Geschichte der Sonatine nach?

Nein, das ginge gar nicht auf nur einer CD. Ich möchte Schlaglichter auf die Entwicklung setzen – mit Werken, die ich alle sehr gern im Konzert spiele. Wichtig war mir, dass die Stücke miteinander harmonieren und zu Vergleichen einladen wie zum Beispiel Hahn und Ravel: Deren Sonatinen liegen nur zwei Jahre auseinander, aber sie sind vollkommen unterschiedlich. Ebenso interessant ist es zu sehen, wie aus der Anregung durch Mozarts Sonata facile, also der „leichten“, „einfachen“ Sonate, die Sonatine von Beethoven entstanden ist.

Die berühmteste aller Sonatinen ist sicherlich die von Maurice Ravel.

Zu dem Werk gibt es eine kuriose Geschichte, von der nicht sicher ist, ob sie stimmt. Aber ich möchte sie glauben: Ravel hat oft Auftragswerke geschrieben und sich gern Herausforderungen gestellt. In der Zeitung war ein Kompositionswettbewerb ausgeschrieben für ein Stück über 75 Takte. Ein Freund hat Ravel darauf aufmerksam gemacht, und Ravel hat ein Stück komponiert, das aber einige Takte länger ist. Deshalb und weil er der einzige Teilnehmer war, wurde der Wettbewerb schließlich abgebrochen. Es ist wirklich eine Herausforderung, in so wenigen Takten so viel schöne Musik unterzubringen. Zwei Jahre später hat Ravel zwei Sätze hinzukomponiert: ein Menuett, das zeigt, dass auch er sich damals mit Barockmusik beschäftigte, und als dritten Satz eine Art Perpetuum mobile. Für Ravels Sonatine braucht man wirklich schnelle Finger! Und sie ist auch musikalisch tiefgründig. Wie er es geschafft hat, in dieser Kompaktheit komplexe Musikideen zu entwickeln! Der zweite Satz umfasst nur zwei Seiten, und die sind schon großzügig gesetzt, und dennoch steckt da so viel Material drin. Das ist ein unglaubliches Meisterwerk.

Interessant ist, wie Ravel selbst die Sonatine gespielt hat, es gibt eine Aufnahme. Ravels Tagesablauf war sehr geregelt, seine Handschrift ist sehr exakt, aber sein Spiel wirkt ganz frei. Er spielt die schnellen Teile sehr schnell, die langsamen sehr langsam, allerdings für meinen Geschmack ohne wirklichen Zusammenhalt. Das fand ich fast das Schwierigste, als ich das Werk gelernt habe: ein Gefühl für den Puls zu bekommen, der den ersten Satz trotz all dieser Stopps und langsameren Tempi zwischendurch zusammenhält.

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