
Viele Wege führen zu Naïssam Jalal, die sich ihre musikalische Welt aus Einflüssen des Orients und Okzidents schuf. In Paris studierte sie Querflöte, in Damaskus und Kairo das traditionelle Spiel auf der Nay-Flöte. Zu ihren Vorbildern gehören der Inder Hariprasad Chaurasia und die japanischen Shakuhachi-Meister ebenso wie Jeremy Steig oder Roland Kirk, prägend wirkten auch der späte John Coltrane und Pharoah Sanders. Ihr neues Album „Souffles“ besteht aus acht Duos jeweils mit nur einem Bläser, darunter Louis Sclavis, Émile Parisien und Archie Shepp.
Sie wurden 1984 als Kind eines syrischen Künstlerpaares in Paris geboren. Wann fingen Sie an mit dem Flötenspiel, und wie fanden Sie Ihren Weg?
Ich begann mit sechs Jahren Querflöte zu spielen und lernte erst mal, mir das klassische Repertoire zu erarbeiten. Aber ich merkte bald, dass diese Art des Lernens nicht zu mir passte – weil ich das Bedürfnis hatte, Dinge auszudrücken, die mir persönlich wichtig sind. Musik nachspielen, die ein anderer vor langer Zeit geschrieben hat, wollte ich nicht. Das erste Mal, dass ich wirklich das Gefühl hatte zu musizieren, war, als ich die Improvisation entdeckte, mit
17 Jahren. Plötzlich fühlte ich mich zutiefst mit meinem Instrument verbunden und spürte, ich mache meine Musik. In diesem Moment war mir klar: Nur das will ich tun, ich möchte Dinge musikalisch sagen, die mit Worten nicht auszudrücken sind.
Wurden Sie von Ihren Eltern darin bestärkt, Musikerin zu werden?
Beide sind bildende Künstler und haben mich ermuntert, ein Instrument zu lernen. Zu Hause hörten wir viel klassische Musik, aber auch viel Arabisches und ab und zu Jazz. Europäische Klassik fand ich meist langweilig, und bei arabischer Musik wurde es für mich kompliziert: Sie basiert auf der Mikrotonalität, die aus der europäischen Musik weitgehend verbannt ist. Ich hatte gelernt, dass alles außerhalb von Ganz- und Halbtönen ein falscher Ton ist. Wenn ich mit meinem erzgläubigen Vater, er ist Sufi, im Auto arabische Musik hörte, tat mir das weh. Die zwölf Lehrjahre in der Klassik hatten mich an ein anderes Hören gewöhnt.
Wie fanden Sie zum Jazz?
Als ich mit einer Fanfaren-Funk-Band aus Paris auf Tour durch Westafrika war, meinte einer aus der Gruppe eines Abends: „Du magst doch keinen Jazz. Hör dir das mal an!“ und gab mir „Olé“ von John Coltrane auf die Ohren. Das haute mich völlig um. Heute bin ich sicher, dass es kein Zufall war, dass mich gerade Jazz von John und Alice Coltrane oder Pharoah Sanders so begeisterte. Denn Tranes „Olé“ basiert auf einer sehr alten Flamenco-Melodie, die „El Vito“ heißt und aus der Begegnung zwischen Arabern, Spaniern und Gitanos entstanden ist. Musik zu machen, zu improvisieren, erschien mir als das Einzige, was meinem Leben Sinn gab, was mich den Zwiespalt, zwischen den Kulturen zu leben, überhaupt aushalten ließ. Freies Musizieren lässt mich all die Gewalt ertragen, die
Ungerechtigkeit, den Horror unserer Welt. Versteht man Jazz als traditionell afroamerikanische Musik, dann mache ich keinen Jazz. Sieht man aber Jazz als eine Schaffenskraft, die die Freiheit des Ausdrucks propagiert, dann mache auch ich Jazz.
Wie kam es zur Aufnahme Ihres ersten Albums 2016, „Rhythms of Resistance“?
Meine Musik wurde mir immer wichtiger, um mich quasi selbst zu heilen. Ich komponierte viel, doch für die Umsetzung brauchte ich Mitmusiker, also gründete ich die Rhythms of Resistance. Wir traten in Cafés, in Kellern oder vor Hausbesetzern in Paris auf und spielten oft für die Tür, also einen Teil der Eintrittsgelder – der Ertrag war miserabel. Aber die anderen im Quartett glaubten an mich, sie wollten meine Musik spielen, das werde ich ihnen nie vergessen. Daneben war ich viel in Studios tätig, wenn Rapper eine Flöte brauchten. Ein paar Monate lang studierte ich in Damaskus am Konservatorium die arabische Nay und zog dann für drei Jahre nach Ägypten. Und sieben Jahre lang führte ich zwischen Paris und Beirut eine Art Doppelleben, ich lebte mal französisch, mal arabisch.
Musik und Leben sind bei Ihnen eng miteinander verflochten. Es gab Projekte über die Märtyrer der syrischen Revolution, über den israelisch-palästinensischen Konflikt, dazu viel Musik für Dokumentarfilme. Das Cover Ihres Doppelalbums „Un Autre Monde“ zeigt Sie in einer blühenden Landschaft vor einem Kraftwerk.
Ich habe schon immer sensibel reagiert auf das, was in meiner Umgebung und in der Welt passiert. Ich schrieb Stücke, die um Beirut kreisten, und verwob sie mit klassischer arabischer Musik. Meine Bindung zu diesen Ländern ermutigte mich, meine Geschichten zu erzählen. Wenn es mir gelingt, diese Leidenschaft mit meinem Publikum zu teilen, kann ich mir damit auch selbst Linderung verschaffen.
Nicht nur das arabische Musikerbe, auch andere Quellen haben Ihre métissage, die Vermischung verschiedenster Einflüsse, besonders geprägt: Ich denke an die afrikanischen Blastechniken, indische Einflüsse …
Es stimmt, dass ich viel aus außereuropäischer Musik schöpfe, von den Mandingos Westafrikas bis zum afro-amerikanischen Jazz und der hindustanischen Musik. Alles sind Quellen, an denen ich mich laben kann, wobei ich nie etwas zu imitieren versuche. Ich mache ja keine traditionelle Musik, das wäre prätentiös. Diese Stile habe alle eine jahrhundertealte Geschichte, ein Menschenleben reicht nicht aus, auch nur eine dieser Sprachen zu lernen.
Das Album „Om Al Aagayeb“ ist 2017 in Kairo entstanden.
Hier habe ich vielleicht doch ein wenig traditionelle Musik gespielt. Mir schwebte eine Hommage an Ägypten vor nach meinen drei schier überwältigenden Jahren dort. Wie habe ich dieses Land geliebt! Ägypten hat mir gutgetan, aber am Ende auch weh. Diese Entwicklung wollte ich erzählen und mich dafür meinen „Phantomen“ stellen. Nachdem ich nach einer Trennung Kairo 2006 verlassen hatte, bin ich elf Jahre nicht zurückgekehrt. Dann sah ich in Paris meinen ägyptischen Lehrer wieder, den Geiger Abdo Dagher, der mich in Kairo in einer kleinen Gruppe kostenlos unterrichtet hatte. Da musste ich zurück nach Ägypten, für diese Hommage an dieses Volk und seine Musik, den Humor, die Großzügigkeit, die Lebensfreude.
Dann folgte ein Doppelalbum, das auch eine wunderbar kontemplative Atmosphäre ausstrahlt.
Die Stille ist ein grundlegendes Element meiner Musik, aber die Trance auch – beides sind Elemente, die mich in der arabischen und der indischen Musik quasi nähren und besänftigen, aber sie entfesseln und befreien mich auch! Die Verbindung zur Spiritualität verläuft über die Musik, daher auch ihre besonderen Heilkräfte. Wir sind nicht nur materielle Wesen, die einen Körper haben, der Nahrung benötigt und den wir lieben sollten. Uns wird ständig suggeriert: Schenkt nur den materiellen Dingen Beachtung. Gebt den Dingen den Vorrang vor dem Sein. Und das lehne ich ab.
Und wie kam es zu „Healing Rituals“, dieser ganz außergewöhnlichen Platte von 2022?
Indem ich die spirituelle Seite der Musik erkunde, bekomme ich eine Ahnung davon, wie wohltuend Musik sein kann: nicht nur für mich, auch für die Zuhörer. Ich wollte mit „Healing Rituals“ weiter in dieser Richtung gehen. Nach jedem Konzert kommen Leute zu mir und sagen, wir hätten sie zum Weinen gebracht oder die Musik habe ihnen gutgetan – woraus ich schließe, dass diese Musik tatsächlich eine Heilkraft hat.