
Der gebürtige Straubinger Christian Gerhaher wird nicht nur für den Klang seiner Stimme, sondern auch für seine Gestaltungskraft und seine Textausdeutung gefeiert. Das liegt vielleicht auch daran, dass er nicht nur Gesang studiert hat an der Musikhochschule in München – wo er nun selbst als Professor unterrichtet –, sondern dass er auch promovierter Mediziner ist. Seit dreißig Jahren bildet er mit dem Pianisten Gerold Huber ein Liedduo, im Mai ist ihr neues Album mit Brahms-Liedern erschienen.
Herr Gerhaher, zum hundertsten Geburtstag von Dietrich Fischer-Dieskau haben Sie einen Text veröffentlicht, in dem bei aller Verehrung ein Hauch von Distanz durchklingt. Welches Verhältnis haben Sie zu diesem Jahrhundertsänger, wie fühlt es sich an in seinem Schatten?
Ich liebe Schatten. Er hat in eigentlich genialer Weise, ohne Vorbild oder eine andeutende Tendenz von außen, einen ganz neuen Ton getroffen. Nämlich diese Helligkeit, die zu seiner Zeit völlig unüblich war. Die gab es zuletzt in dieser Entschiedenheit vielleicht 150 Jahre vorher. Im
19. Jahrhundert hat sich ein viel dunklerer, Pathos versprechender Ton herausgebildet, dessen differenzierte Expressivität begrenzt war. Das hat Fischer-Dieskau gesehen, und er begegnete dem von der anderen Seite herkommend, indem er rigoros hell gesungen hat. Das hat ihm den Zugang zu einem Publikum ermöglicht, das vorher im Kunstlied keine besondere intellektuelle Befriedigung gesucht und gefunden hätte, das aber nach bildungsbürgerlichen Inhalten gesucht hat nach der entsetzlichen Zeit des Dritten Reiches. Es gab natürlich vor Fischer-Dieskau auch tollen Liedgesang, aber eigentlich erst mit ihm einen Liedgesang, der eine gewisse Distanz des Darstellers, aber auch des Zuhörers zu dem zu rezipierenden Kunstwerk ermöglichte. Und dazu kam seine Technik, mit der er so wahnsinnig vieles und Unterschiedliches leisten konnte bis hin zu der enzyklopädischen Herangehensweise an das gesamte Repertoire seines Fachs. Die meisten wären dazu nicht fähig gewesen, ich persönlich auch nicht.
Aber ein nachahmenswertes Vorbild war er gleichwohl?
Ich persönlich war ihm als Student und junger Sänger vollkommen verfallen, wie einige damals. Und ich muss sagen, ich habe mich sicher auch sehr stark an seiner Tongebung orientiert, finde aber auch, dass daran nichts Unwürdiges ist. Man muss ja suchen, wenn man jung ist. Und dann assimiliert man so ein bisschen, und später lässt man es dann wieder sein und entfernt sich. Dadurch findet man hoffentlich sein Eigenes.
Fischer-Dieskau musste offenbar nicht lange suchen. Er kam aus der Kriegsgefangenschaft, und ein paar Monate später sang er auf Weltniveau. Klarer Fall von Genie, würde ich sagen.
Ja, Fischer-Dieskau konnte seine eigene Stimmgebung offenbar aus sich selbst herausfinden. Ich glaube, das kam zu ihm, wie eben Kunst zum Genie kommt.
Sind Sie auch ein Genie?
Nein. Und bei mir war das auch ganz anders. Ich habe ja auch gar nicht wirklich Gesang studiert, hatte nur Privatunterricht und das auch nur beschränkt. Insofern war für mich das Entscheidende, um überhaupt etwas erreichen zu wollen, ein gewisses Ziel zu haben. Und das hat sich entwickelt aus meiner Begeisterung für das Kunstlied, vor allem für Schumann. Ich habe dadurch einen etwas unorthodoxen Weg genommen und sehr viel Glück gehabt, dass ich damit durchgekommen bin, nämlich dass ich zwar auch versucht habe, Technik zu lernen, aber nie als Propädeutikum, sondern immer stückweise. Ich dachte mir: Das erste Lied der „Dichterliebe“ klingt ganz anders als das 15. oder das zwölfte. Und
deswegen möchte ich da auch ganz anders klingen. Und wie geht anders klingen? Indem man seine Technik an den unterschiedlichen Stücken bildet.
Dann sind Sie ja doch ein Genie, so ganz ohne Lehrer.
Nein, natürlich nicht. Ich hatte ja Unterricht, nur nicht so besonders viel, was dann eben vieles unbestimmt ließ. Es hat aber seine Vorteile, wenn nicht zu früh zu vieles in die „richtigen“ Bahnen kommt. Immerhin habe ich dann als junger Sänger, als ich als Anfänger am Theater engagiert war, noch einen Lehrer gehabt, der kam aus der Schule Lohmann-Martinsen. Diese Schule dachte, durch einen Haufen an Übungen und durch eine unglaubliche Variabilität dieser Übungen wäre man imprägniert. Sozusagen wie Siegfried im Drachenblut gebadet, da kann nichts mehr passieren. Und dann kann man das ganze Repertoire sein ganzes Sängerleben lang bedienen. Ich halte eine solche Erschließung von Werken für unschön, auch wenn ich mich damit durchaus weiterentwickeln konnte und es mir prinzipiell eine gewisse Beruhigung in technischer Hinsicht zu geben versprach.
Selbstberuhigung ist nicht Ihr künstlerischer Antrieb.
Darauf zu verzichten, ist natürlich mit vielen Risiken und mit viel Leiden verbunden, wie unser Beruf ohnehin. Es kann schon sehr an den Nerven und am Gemüt zerren, wenn immer alles offen liegt, zumindest als Prinzip. Aber trotzdem bin ich weiterhin der Ansicht, dass es eigentlich künstlerisch nicht das ist, was ich suche, und dass man sich geradezu die eigene künstlerische Tätigkeit und Vision ein Stück weit verbaut, wenn man sagt, ich übergieße alles mit meiner präformierten Technik, was im Grunde ja eh nicht funktioniert. Das wäre für mich jedenfalls nicht das Richtige, ich fände es nicht so interessant.
Was Ihr Singen in besonderer Weise auszeichnet, ist dieser sensationelle Oberklang, dieser große Kopfstimmanteil, der eine unglaubliche Variabilität zulässt. Hatten Sie das schon immer, oder haben Sie sich das durch diesen Weg, Ihre Technik über die Stücke zu entwickeln, erarbeitet?
Ich finde auch, dass eine Voix mixte, die die Register variabel gewichtet und die Mischung mal weit nach unten zieht und dann weit nach oben schiebt, dass diese relativ variable Herangehensweise an das Passaggio etwas ist, das beim Liedgesang besonders glückliche Klangmomente ermöglichen kann. Aber das war mir nicht gegeben, muss ich ehrlich sagen. Ich hatte zwar eine Stimme, die sehr früh aufgefallen ist. Insofern glaube ich schon, dass da eine Begabung da war. Aber ich musste mir dennoch entsetzlich vieles hart erarbeiten.
Und wie schafft man es, mit einem sanften Oberklang große Räume zu füllen?
Dass man Lautstärke entwickeln muss, ist natürlich eine der wichtigsten Sachen beim Singen, wenn man es professionell betreibt, und der Oberklang hilft bei dieser Projektion der Stimme in den Raum. Die größte Gefahr dabei ist meiner Ansicht nach aber das berüchtigte In-die-Maske-Singen.