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Interview
„Man muss Ereignisse schaffen“
Der Dirigent Steven Sloane über Bilder in der ­Musik, gute Programme und Hilfen für ­­junge Dirigenten
Von
Arnt Cobbers
Christoph Fein

Er war 27 Jahre lang, bis 2021, Generalmusikdirektor der Bochumer Symphoniker, mit denen er mehrfach für innovative Konzertprogramme ausgezeichnet wurde. Er war künstlerischer Leiter der Opera North in Leeds, ist Erster Gastdirigent der Oper Malmö, seit 2020 Musikdirektor des Jerusalem Symphony Orchestra – und unterrichtet seit 2013 an der Universität der Künste Berlin Dirigieren. Kein Problem bei guter Planung, meint der vierfache Vater Steven Sloane, der in Los Angeles geboren und aufgewachsen ist, zehn Jahre in Tel Aviv gelebt hat und seit langem von Berlin aus die Welt bereist. Hier fand auch das Interview statt – am frühen Nachmittag vor dem brennenden Kamin (!) und einer großen Bücherregalwand (!) in der Küche.

Herr Sloane, macht es für Sie einen Unterschied, ob über einem Stück Symphonie Nr. 1 steht oder „Frühlingssymphonie“?

Das ist eine sehr interessante Frage, weil manche dieser Titel von den Komponisten selbst stammen, andere den Werken erst später beigegeben wurden. Oft umreißt der Titel die Atmosphäre des Werkes – oder nehmen Sie Haydns Sinfonie Nr. 83, „La Poule“, da gibt es wirklich ein Motiv, das einen an eine Henne denken lässt. In Haydns Sinfonie „Le Matin“ hört man den Sonnenaufgang. Aber wenn da nur Sinfonie Nr. 6 stünde, käme man vielleicht nicht auf dieses Bild. Da ist der Titel hilfreich. Bei Bruckners Vierter dagegen macht der Beiname „Romantische“ nicht viel Sinn – alle seine Symphonien sind
romantisch.

Mögen Sie es, wenn die Komponisten Ihnen Vorgaben machen?

Die wichtigste Aufgabe aller interpretierenden Musiker ist es zunächst einmal, in die Komposition hineinzukommen und festzustellen: Was will der Komponist? Man kann vieles aus den Noten herauslesen, und daneben gibt es noch die Anweisungen in der Partitur: schwerfällig, lustig, allegro con moto usw. Man muss diese Hinweise ernst nehmen. Und der Haupttitel bezeichnet dann vielleicht noch die übergreifende Atmosphäre oder die Geschichte, die dahinter steht.

Der Frühling hat viel mehr Komponisten inspiriert als der Winter.

Das liegt in der Natur des Menschen. Jeder ist froh, wenn der Frühling kommt, da blüht man auch geistig und künstlerisch auf. Die Vorfreude spielt sicher eine große Rolle.

Auf Ihrer Internetseite steht eine Reihe von Programmvorschlägen.

Echt? Ich schaue nie auf meine Webseite.

Und Sie haben für Ihre Programme mit den Bochumer Symphonikern viele Auszeichnungen bekommen. Sie stellen gern Programme zusammen, oder?

Sehr gerne. Die klassischen Sandwich-Programme mit Ouvertüre, Konzert und Symphonie sind tried and true, die haben sich bewährt. Aber ich glaube, für die Präsentation unserer Musik braucht es im 21. Jahrhundert auch andere Formen und Ideen. Ich versuche, im Konzert einen musical flow zu erreichen – mit einer Kombination bestimmter Werke, bestimmter Komponisten oder auch mit einem Motto, dem die Stücke untergeordnet sind. Diese Standardlänge von einer Stunde 45 Minuten inklusive Pause muss nicht sein, das kann man neu denken. Und vor allem: Man muss Ereignisse schaffen. Die Leute wollen etwas Besonderes erleben, wenn sie in ein Konzert gehen. Die Frage ist: Wie können wir unsere Zuschauer packen und verwandeln, während sie im Saal sitzen, und die Antwort lautet: mit Kreativität.

Gibt es da Tricks?

Es gibt nur eine Voraussetzung: Man darf keine Angst haben. Ich sehe immer wieder Programme, die sind sehr gebunden an bestimmte Formate. In Bochum habe ich gespürt, dass unsere Zuschauer froh waren, wenn sie gefordert wurden, die haben sich gefreut über außergewöhnliche Programme. Aber es gibt keine Formel. In Bochum hab ich zuletzt „Romeo und Julia“ von Tschaikowsky mit „Herzog Blaubarts Burg“ von Bartók kombiniert, das war hochinteressant.

Das ist der Vorteil des Konzerts gegenüber der Oper, wo der Komponist den Ablauf des Abends ja vorgibt.

Das stimmt. Aber auch in der Oper, meiner großen Leidenschaft, gibt es Möglichkeiten. Ich habe ein Projekt in Bochum gemacht: „Das ewige Weib“. Da ging es um Kundry, diese außergewöhnliche, komplizierte Figur. Wir haben über drei Abende jeden Abend einen Akt des „Parsifal“ gespielt und ihn mit anderen Stücken kombiniert. Mich interessieren Projekte, die über einen einzelnen Konzertabend hinausgehen, das ist auch für die Musiker inspirierend.

Erreichen Sie ein anderes Publikum, wenn ein Motto über dem Programm steht?

Ich glaube, dass immer mehr Leute aus den Abonnement-Strukturen ausbrechen und stattdessen nach besonderen Ereignissen suchen. Sie wollen etwas erleben. Das bieten solche besondere Programme unter einem Titel oder sogar kleine Festivals. Die Zuschauer wollen raus aus der Routine, die man oft in der Präsentation klassischer Musik findet, und für die Dauer des Konzerts eine neue Welt betreten. Ich denke, da kann man noch viel tun.

Ein Programm auf Ihrer Seite lautet: Takemitsus „I hear the water dreaming“, dann Schumanns „Rheinische Symphonie“ und schließlich Debussys „La Mer“.

Das wirkt auf den ersten Blick etwas banal. Aber wenn man genauer hinschaut, ergeben sich Verbindungen zwischen den Werken oder den Komponisten, die sehr erhellend sein können. Es muss nicht alles hochkompliziert sein. Wir hatten ein Programm, das hieß „Helden“: das „Heldenleben“ von Strauss, eine Suite aus der „Robin-Hood“-Filmmusik von Korngold und die „Batman“-Suite von Danny Elfman – das kam super an. Was ist ein Held? Der Held bei Strauss ist ein ganz anderer als der der modernen Marvel-Filmwelt. So ein Programm kann die Zuschauer dazu bringen, über die Idee des Helden nachzudenken.

Wie ist es generell, wenn Sie Musik erarbeiten: Denken Sie in Bildern?

Gerade habe ich „Daphnis und Chloé“ dirigiert, mit unserem Orchester hier an der Universität der Künste – ein großartiges Orchester übrigens. Wir haben viel gesprochen über die Ästhetik des Impressionismus. Es gibt diese berühmte Geschichte: Toscanini hat ein Stück von Ravel dirigiert, und am Ende des Konzert kommt Ravel zu Toscanini, um sich zu bedanken. Toscanini sagt zu ihm: Es war sehr exciting. Und Ravel antwortet: Ich bin nicht sicher, ob ich möchte, dass meine Musik exciting wirkt. Es geht in der Musik nicht immer um Konflikt und Erlösung. Olivier Messiaen zum Beispiel stellte sich vor, dass Musik Farben hat. Diese Fantasie der Komponisten finde ich sehr beeindruckend. Musik lässt sich nicht nur messen in Dissonanz und Auflösung, sondern auch mit ganz anderen Ideen, zum Teil sehr intellektuellen Ideen, wenn man die Zweite Wiener Schule betrachtet, das Ende der deutschen Romantik. Deswegen: Man muss versuchen, die jeweilige Ästhetik und Rhetorik zu verstehen – intellektuell und emotional. Es ist zu eng, wenn man Musik nur in Bilder übersetzt. Musik kann sich spiegeln in Farben, in Formen, in Mathematik, in politischen Ideen und noch vielem mehr.

Sie müssen als Dirigent andere Menschen dazu bringen, Musik so zu machen, wie es Ihnen vorschwebt. Arbeiten Sie denn da mit Bildern?

Es ist eine Kombination. Zunächst arbeitet man sehr genau an technischen Sachen. Das kann so banal sein, dass man sagt: Bitte spielen Sie Abstrich am Frosch. Aber das ist nur ein Mittel zum Zweck. Das Ziel ist immer ein bestimmtes ästhetisches Ergebnis, eine Idee, und natürlich kann man die Musiker inspirieren mit einer bestimmten Fantasie. Jedes Orchester hat seine eigene Dynamik und seinen Geist und seine Stärken. Jedes Orchester hat seinen Klang. Damit muss man umgehen. Für mich ist es ganz wichtig, dass man beim Dirigieren zuhört. Dass man den Musikern nicht nur Ideen und Vorgaben zuwirft, sondern auch ihre Ideen aufnimmt und daraus etwas Gemeinsames erschafft. Manchmal geht das auch einfach so über die Hände und die wortlose Kommunikation. Wenn das funktioniert, ist es großartig.

Was geben Sie Ihren Schülern mit? Machen Sie Vorgaben, oder sagen Sie von Anfang an: Jeder muss seinen eigenen Weg finden?

Ich beginne unter der Voraussetzung, dass alle meine Studenten die Stücke nicht nur gut studiert haben und kennen, sondern auch eine Idee von der Interpretation haben. Und ich sehe meine Aufgabe als Lehrer darin, ihre Fantasie zu unterstützen und ihnen zu helfen, sie umzusetzen. Ein junger Dirigent hat manchmal eine Idee, aber sein Körper kann sie nicht transportieren. Ich arbeite sehr viel mit dem technischen Handwerk. Und ich versuche ihnen beizubringen: Wie macht man eine gute Probe? Welche technischen Anweisungen muss man kennen? Wie geht man mit Rhythmus, Intonation um – auch das gehört unter den Begriff Handwerk. Aber am Ende muss ein Dirigent die Musiker inspirieren. Und das kann man nicht unterrichten. Meine Erfahrung ist: Die Dirigenten, die wirklich brennen, die wirklich etwas zu sagen haben, das sind die, die am Ende einen Weg finden. Ich sehe meine Rolle darin, diesen Prozess zu unterstützen.

Das Erarbeiten von Stücken gehört nicht zum Unterricht?

Wir sitzen nicht stundenlang und analysieren Partituren. Das sollten die Dirigenten selbst machen. Wenn sie Hilfe brauchen in der Vorbereitung, helfe ich natürlich. Aber eigentlich müssen sie das allein schaffen. Wir arbeiten viel im Hinblick auf die musikalische Fantasie: Was will man und wie erreicht man das? Ich sage meine Meinung, manchmal auch sehr deutlich, aber am Ende ist es ihre Entscheidung.

Und wenn die Frühlingssinfonie nach Winter klingt?

Naja, wenn sie etwas sagen über ein Stück, etwa ein Tempo wählen, das ich falsch finde, dann stelle ich das schon in Frage. Vor allem schreite ich ein, wenn eine Partitur nicht ernst genug genommen wird. Man muss die Partitur wirklich sehr sehr gut kennen. Und einige Dinge machen die jungen Dirigenten, weil es Konvention ist oder weil sie das von einer Aufnahme her kennen. Ich versuche sie unabhängig zu machen. Sie sollen sich nicht von 20 CDs leiten lassen, sondern einstehen für das, was wirklich ihre Meinung ist. Das ist der einzige Grund, heute ein Dirigent zu sein: Dass man wirklich etwas Profundes zu sagen hat. Sonst ist dieser Beruf viel zu schwer. Man muss dafür brennen, etwas zu sagen, und was man sagen will, muss sublim sein, das muss unsere Musiklandschaft erleuchten.

Zählt für Sie nur der Notentext, oder sollte man auch möglichst viel um die Partitur herum wissen?

Man muss als Dirigent die Dinge miteinander verknüpfen, und dafür kann man nie genug Informationen, genug Wissen haben. Ins Dirigieren fließt überhaupt alles ein, was man als Mensch erlebt. Politik, Geschichte, Kultur, Sport. Allerdings: Was in der Partitur steht, ist die erste und auch die letzte wichtige Instanz.

Wie groß ist Ihre Dirigierklasse?

Ich hab gerade sieben Studenten.

Ist das ein Aufbaustudium?

Wir haben auch ein Bachelor-Programm, man muss nicht vorher ein Instrument studiert haben. Aber alle unsere Studenten spielen natürlich ein oder mehrere Instrumente. Die meisten Klavier, aber es gibt inzwischen auch viele Dirigenten, die auf anderen Instrumenten zuhause sind.

Ist es nicht ein Vorteil, wenn man ein Orchesterinstrument studiert hat – wie Sie Bratsche?

Ich komme von der Bratsche und vom Gesang. Aber es gibt da keine Formel. Man muss ein guter Musiker sein, man muss gut hören, das ist wichtig. Und es ist hilfreich, wenn man Klavier spielen kann – es gibt Partituren, die sind sehr kompliziert. Wenn man nicht alles hören kann, was man liest, dann ist das Klavier sehr hilfreich. Fast alle Dirigenten unserer Klasse spielen gut Klavier.

Wollten die meisten schon immer dirigieren, oder kommen die Studenten eher aus den Orchestern?

Wir haben Studenten, die sind Anfang, Mitte Dreißig und teilweise sehr erfolgreich auf ihren Instrumenten. Darunter sind ganz tolle Musiker. Aber es gibt auch Leute, die mit 20 Jahren schon dirigieren wollen und das auch können. Ich habe letztens eine Masterclass in Los Angeles gegeben, an einer High School of Performing Arts, einer Schule für Hochbegabte. Da gibt es eine Dirigierklasse für junge Leute zwischen 15 und 18, und da sind einige sehr Begabte dabei, die ganz heiß sind auf diesen Beruf. Das ist schön zu sehen.

Können die Leute, die die musikalische Fantasie habe, das meist auch körperlich vermitteln?

Man braucht als erstes eine musikalische Vision. Egal wie begabt man körperlich ist – ohne die wird man schnell an eine Grenze kommen. Aber das Dirigieren ist auch etwas Körperliches, man braucht wie beim Instrumentenspielen eine motorische Begabung, Koordination, ein Muskelgedächtnis. Manchmal arbeite ich lange mit Studenten an bestimmten Gesten, es dauert, bis man das als zweite Natur drin hat. Aber wenn es einmal da ist, hebt es auch das Selbstbewusstsein auf ein ganz anderes Niveau. Das merke ich auch im Tennis – ich bin ein leidenschaftlicher Tennisspieler. Wenn ich etwas technisch schaffe, wird mein Spiel besser. Aber eben nicht nur technisch, sondern in mir, weil ich ein anderes Selbstbewusstsein habe, weil ich weiß, ich kann das.

Und man muss mit Menschen arbeiten wollen.

Absolut. Es ist viel Psychologie dabei. Und ganz wichtig: Die guten Dirigenten versuchen nicht, etwas darzustellen, was sie nicht sind. Orchestermusiker merken sofort, wenn man nicht ehrlich ist.

Warum übernehmen so wenige wirklich gute Dirigenten eine Professur?

Ich weiß es nicht. Ich kann nur für mich sprechen: Mir war die Arbeit mit jungen Leuten schon immer sehr wichtig. Ich hab als Dirigent viel mit der Jungen Deutschen Philharmonie und dem Bundesjugendorchester gearbeitet, auch mit meinem Orchester beim Spoleto Festival. Und dann kam einfach der richtige Zeitpunkt in meinem Leben, dass ich einen Teil meiner Arbeit der Aufgabe widmen wollte, jungen Leuten zu helfen. Andererseits finde ich es sehr wichtig, dass man praktische Erfahrung hat und nicht nur unterrichtet. Wenn man es gut strukturiert, kann man so eine Professur gut verbinden mit einem Leben als aktiver Dirigent.

Kommen wir nochmal auf unseren Ausgangspunkt zurück: Ist der Frühling Ihre Lieblingsjahreszeit?

Ich bin in Los Angeles geboren und später nach Tel Aviv emigriert. I’m a sun guy – ich liebe die Sonne. Und den Strand. Ich hab mich über die Jahre gewöhnt an das Klima in Nordeuropa. Man muss sich damit ja irgendwie arrangieren. Ich freue mich jedes Jahr auf den Frühling – aber vor allem auf den Sommer. Ich liebe heißes Wetter.

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