Łukasz Borowicz
Mit der Einspielung des ersten Klavierkonzerts und der Sinfonie ehrt cpo Xaver Scharwenka, der am 8. Dezember vor hundert Jahren in Berlin starb. Geboren 1850 im damals preußischen Samter bei Posen, heute Szamotuly bei Poznan, als Sohn eines Deutschen und einer Polin, kam er mit 15 Jahren nach Berlin und komponierte mit zwanzig Jahren als sein op. 3 die Fünf polnischen Nationaltänze, deren erster ein Welthit wurde. Sein erstes Klavierkonzert brachte ihm mit 27 Jahren auch den Durchbruch als komponierender Virtuose. Scharwenka überquerte auf dem Weg zu Konzerten 28-mal den Atlantik, edierte die Gesamtwerke von Chopin, Schumann und Mendelssohn und war nebenbei noch fünffacher Vater.
Als bester Kenner seines Werks darf der Dirigent Łukasz Borowicz gelten, der vor dem ersten bereits das vierte Klavierkonzert von Scharwenka aufgenommen hat und bald auch das dritte aufnehmen wird. Der gebürtige Warschauer ist – nach 15 Jahren als Erster Gastdirigent – seit 2021 Chefdirigent des Philharmonischen Orchesters Posen, Dirigierprofessor in Krakau und Erster Gastdirigent der Krakauer Philharmoniker und hat, mit Mitte vierzig, bereits über 130 CDs aufgenommen: viel italienische Oper und Arienalben, zum Beispiel mit Ewa Podles und Piotr Beczala, Gesamtaufnahmen von Andrzej Panufnik, Grazyna Bacewicz und Hugo Alfvén (für cpo), viele vergessene polnische Werke, aber auch Bruckner mit dem RIAS Kammerchor und der Akamus.
Xaver Scharwenka ist ein Extrembeispiel für einen Komponisten, der komplett vergessen ist, ohne dass es dafür einen Grund in seinem Werk gibt. Wenn wir uns nur ansehen, was er komponiert hat: eine Oper, vier Klavierkonzerte, eine Symphonie, sehr gute Kammermusik und vor allem sehr viel und sehr gute Musik für Klavier solo. Wenn wir sehen, mit wem er befreundet war und wer ihn geschätzt hat: Franz Liszt, Johannes Brahms, Max Bruch. Man weiß nur von einem Auftritt Gustav Mahlers als Pianist mit Orchester, und da hat er den ersten Satz aus Scharwenkas erstem Klavierkonzert gespielt. Und in New York hat Mahler später das vierte Klavierkonzert mit Scharwenka als Solist dirigiert. Scharwenka war ein bedeutender Pädagoge, er hat in Berlin und dann auch in New York Konservatorien gegründet. Als Klaviervirtuose war er einer der größten Stars des ausgehenden 19. Jahrhunderts. Und doch hat er sich, wie zahlreiche Komponisten seiner Zeit, für die Nachwelt sozusagen in Luft aufgelöst. Der erste Grund ist sicherlich: Der Erste Weltkrieg bedeutete einen Bruch in der Musikentwicklung, da endete die Romantik. Und nur sehr wenige Komponisten waren weiterhin erfolgreich im „alten“ Stil, Glasunow etwa oder Richard Strauss. Ein Großteil der romantischen Musik ist rasch aus dem Gedächtnis der Welt verschwunden.
Ein zweiter Aspekt: Scharwenka stammte aus einem Grenzland der Nationalitäten. Manchmal hilft das, manchmal nicht. Für die Polen war er ein Deutscher, Hans von Bülow nannte ihn in einer – positiven – Kritik einen Polen. Niemand hat sich nach seinem Tod für sein Andenken zuständig gefühlt.
Und ein dritter Aspekt: Die Virtuosen, die auch Komponisten waren, haben für sich selbst komponiert. Und das wird dann gefährlich, wenn man keine technischen Grenzen kennt – wie Scharwenka. Seine Klavierkonzerte sind enorm schwer und sehr lang. Jemanden zu finden, der das spielen kann und will, ist nicht einfach. Wer nimmt diese Arbeit auf sich für ein Werk, das er nur ein paarmal in seinem Leben aufführen kann? Und setzt sich dann auch noch dem Vergleich mit wenigen, aber eindrucksvollen Aufnahmen aus: Vom Klavierkonzert Nr. 1 gibt es eine wundervolle Einspielung mit Earl Wild und dem Boston Symphony Orchestra unter Charles Münch. Die ist auch klanglich großartig! Als wir das Konzert jetzt mit Jonathan Powell aufgenommen haben, war uns bewusst: Wir treten gegen diese alte Aufnahme aus der Goldenen Ära des Klangs und des Repertoires an. Das ist die größte Herausforderung, wenn man unbekannte virtuose Musik aufnehmen will: Man muss einen Solisten finden.
Was Jonathan Powell geschafft hat, ist unfassbar! Für das Konzert braucht man eigentlich vier Hände. In vielen virtuosen Konzerten gibt es eine besondere Schwierigkeit: Bei Tschaikowsky sind es die Oktaven, bei Liszt die Triller usw. Aber bei Scharwenka findet man alle Schwierigkeiten, die man sich nur denken kann, in jedem einzelnen Klavierkonzert. Deshalb ist Scharwenka in gewisser Weise sein größter Feind: Die spieltechnischen Schwierigkeiten machen den meisten Pianisten Angst.
Kommen wir zur musikalischen Seite: Ich habe einige CDs aufgenommen für die Reihe der „romantischen Klavierkonzerte“ beim Label Hyperion, die inzwischen auf fast neunzig Folgen angewachsen ist. Die ist enorm verdienstvoll und spannend, aber viele Konzerte, die von Virtuosen geschrieben wurde, haben einen schwachen Orchesterpart. Die Komponisten haben sich auf ihre Stimme konzentriert und wussten sicherlich oft auch nicht, wie man gut orchestriert. Bei Scharwenka ist das anders. Wie er fürs Orchester schreibt, ist sehr raffiniert und ganz erstaunlich. Er hat nicht viele Orchesterwerke komponiert, aber es wirkt, als hätte er sehr viel Erfahrung. Seine Partituren sind bis ins kleinste Detail ausgearbeitet, Artikulation und Dynamik sind klar bezeichnet. Er weiß genau, was welches Instrument kann, er schreibt sehr gut für die Blasinstrumente und ebenso für die Streicher. Es gibt keine dieser typischen Automatismen, dass etwa die Celli mit den Bässen zusammenspielen und die Bratschen die Mitte ausfüllen – überhaupt nicht.